Anschlagserklärung
Unser militanter Angriff vom 5.2.2002 zielt auf die arbeitstechnische Infrastruktur des Sozialamtes innerhalb des Bezirksamtes Reinickendorf und deren Stadtrat Frank Balzer. Wir haben unseren Brandsatz in den Kellerräumen des Gebäudetraktes im Sozialamt platziert, in dem sich der sog. Fachbereich 2 (Rechtsstelle und Unterhalts- und Kosteneinziehungsstelle) befindet. Hier werden u.a. Strafanzeigen wegen „Sozialmißbrauch“ ausgearbeitet, die amtlichen Vertretungen in Gerichtsverfahren koordiniert und die gerichtlich eingeklagten Geldforderungen wegen „zu unrecht bezogener Sozialhilfe“ eingetrieben. Dieser Fachbereich ist neben dem der „Hilfe zur Arbeit“ jener, der für die sozialtechnokratische Repression des Amtes steht und direkt in die Lebensrealität der Betroffenen eingreift. In diesem Gebäudeteil befinden sich also keine Büroräume; in denen die sozial Deklassierten des Bezirks Anträge auf Sozialhilfe oder sonstige Leistungen stellen.
Dem zuständigen „Sozial“-Stadtrat Balzer als die Personifizierung des alltäglichen Sozialamtsterrors haben wir eine scharfe Patrone und ein handelsübliches Messer geschickt.
Das Sozialamt in Reinickendorf und der Stadtrat für „Sozialwesen“ Frank Balzer
Das Bezirksamt Reinickendorf mit seinem langjährigen und jüngst nach den letzten Wahlen wiedergewählten „Sozial“-Stadtrat Balzer nimmt in zweierlei Hinsicht eine Vorreiterrolle ein: zum einen war der Bezirk der erste in Berlin, der das rassistische Asylbewerberleistungsgesetz restriktiv auslegte und statt Bargeld nur noch Gutscheine an MigrantInnen mit Asylstatus austeilte, und zum anderen ist unter der Ägide Balzers eine systematische klassistische Kampagne gegen SozialhilfeempfängerInnen im Gange, denen die Bezüge gekürzt und zum Teil gänzlich verwehrt werden. Hunderte von ihnen werden mit sog. gemeinnützigen (Zwangs-)Arbeitsmaßnahmen überzogen, um die Statistik der BezieherInnen von Sozialhilfe zu drücken.
Dabei agiert die bezirkliche Verwaltung selbstverständlich nicht nach eigenen Direktiven gegenüber SozialhilfeempfängerInnen, sondern stützt sich auf Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), wonach bei wiederholter Verweigerung von Zwangsarbeitsformen die Bezüge komplett zusammengestrichen werden können und das Vegetieren unterhalb der sog. Armutsgrenze verwaltungstechnisch legitimiert wird („Die Hilfe soll bis auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche eingeschränkt werden ...“, BSHG Paragraph 25). In den 90er Jahren wurde das BSHG mehrfach in diesem Sinne verändert, so dass die einzelnen BezieherInnen von Sozialhilfe einem verstärkten administrativen Zwang zur (kommunalen) Arbeit ausgesetzt sind.
Im vergangenen Sommer wurden u.a. vom Bundesverteidigungsminister Scharping und von den niedersächsischen und hessischen Ministerpräsidenten Gabriel und Koch eine Reihe von Appellen medial verbreitet, in denen u.a. die Zwangsverpflichtung von arbeitslosen Jugendlichen zu Sozialdiensten oder die Reduzierung der Bezugsberechtigten nach US-Vorbild verlangt wurde. Koch hat diesbezüglich eine Bundesratsinitiative lanciert, die vorsieht, dass in Hessen durch eine Zusammenlegung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe sowie Sanktionen gegen „Arbeitsunwillige“ die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen um mindestens die Hälfte reduziert werden soll. Über dieses sog. „Offensiv-Gesetz“ soll Anfang Februar im Bundesrat abgestimmt werden (vgl. Berliner Zeitung, 25. Januar 2002).
Auch in der Koalitionsvereinbarung von SPD und PDS ist für die kommende Legislaturperiode des Berliner Senats eine Einsparung der „Mittel für die Hilfe zum Lebensunterhalt in erheblichem Umfang“ vorgesehen. Dabei „(wird) eine schrittweise Erhöhung der Beschäftigung für zunächst ca. 6.000 Sozialhilfeempfangende pro Jahr angestrebt.“ Diese reaktionäre Offensive gegen Angehörige der Unterklassen geschieht in dem Wissen, dass von den ca. 2,7 Mio. SozialhilfeempfängerInnen fast 2/3 aufgrund ihrer Minderjährigkeit, ihres Rentner-Daseins oder ihrer gesundheitlichen Situation nicht für die kapitalistische Verwertung zur Verfügung stehen können (vgl. Tagesspiegel, 22. August 2001). Dabei ist in Studien festgestellt worden, dass nur etwa jeder/jede zweite Anspruchsberechtigte in der BRD tatsächlich Sozialhilfe oder sonstige formal zu gewährende staatliche Leistungen beantragt und dann bezieht.
Diese Kampfansagen von Vertretern des Staatsapparates gegen die Unterklassen in der BRD finden in den lokalen Amtsstuben Gehör. Balzer ist dabei nicht nur ein schlichter Vertreter einer lokalen Exekutive, der sein dreckiges Amtsgeschäft vorschriftsgenau umsetzt, sondern ein karrieristischer Technokrat, der aktiv eine Existenzvernichtung von AsylbewerberInnen und SozialhilfeempfängerInnen betreibt und diesen verwaltungstechnischen Vorgang im
Rahmen seiner Kompetenzen forciert. Seine persönliche „Erfolgsbilanz“ macht er an der Senkung der örtlichen SozialhilfeempfängerInnen von 16 500 auf 13 500 fest. Diese Senkung kam durch die verpflichtende gemeinnützige Zwangsarbeit und die Zahlungseinstellung bei denen zustande, die Sozialhilfe angeblich unberechtigt bezogen hatten. Mehr als 800 SozialhilfeempfängerInnen werden in Reinickendorf monatlich für gemeinnützige Tätigkeiten zwangsverpflichtet. Diese Tätigkeit wird nach Gesetzeslage nicht entlohnt, sondern mit einem sog. finanziellen Ausgleich von DM 3,- pro Stunde zusätzlich zur Sozialhilfe „vergütet“.
Balzers politische Sozialisation ging in dem traditionell erzkonservativen Reinickendorfer Kreisverband der CDU vonstatten. Aus diesem Kreisverband kommt nicht nur der tumbe letztjährige Spitzenkandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters Frank Steffel. Des weiteren haben die innenpolitischen und rechtspolitischen Sprecher der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus Roland Gewalt und Andreas Gram, die regelmäßig in ihren Verlautbarungen gegen besetzte Häuser und die radikale Linke agitieren, ihre Wahlkreise in Reinickendorf. Balzer hat sich in der Ausführung seiner Tätigkeit als besonders penetrant erwiesen; bereits in der Nacht vom 26. auf den 27. Januar 2000 (vgl. Interim Nr. 493, 10.2.00) wurde sein Wohndomizil in Konradshöhe von Militanten aufgesucht und ein Fahrzeug der Familie durch einen Brandsatz zerstört. Diese Aktion bezog sich auf die Anwendung des rassistischen Asylbewerberleistungsgesetzes gegenüber Kriegsflüchtlingen und MigrantInnen durch das Sozialamt Reinickendorf.
Balzer ist eine der Polit-Figuren, die sich gerne den Nimbus des Machers und Unerschütterlichen anheften. Unsere Aufgabe ist es, diesen Förderern der Massenarmut klar definierte Grenzen zu setzen, deshalb haben wir ihm eine scharfe Patronenkugel und ein handelsübliches Messer zukommen lassen. Dem Klassenkampf von oben muß ein Klassenkampf von unten militant und bewaffnet entgegen treten. Diese Konfrontation mit den VertreterInnen der Sozialtechnokratie kann verschiedene Formen annehmen: Balzer und Konsorten können von ihrer existenzvernichtenden Amtspraxis durch die „moralische Ökonomie“ der Pauperisierten eingeholt werden, durch das Widerstandsrecht der individuellen Propaganda der Tat. Im vergangenen Sommer ist zum Beispiel der Fall eines Beziehers von Arbeitslosenhilfe im niedersächsischen Verden bekannt geworden, der aufgrund der dauerhaften behördlichen Schikane den dortigen Leiter des Arbeitsamtes angriff und tödlich verletzte. Neben diesen individuellen Befreiungsakten können solche EntscheidungsträgerInnen durch eine planvolle kollektive Aktion einer militanten oder bewaffneten Gruppe zur Verantwortung gezogen werden.
Das ist ein Szenario, in dem sich ein effektiver Widerstand der organisierten oder (noch) unorganisierten Unterklassen bewegen kann. Dabei geht es uns nicht um eine unreflektierte Idealisierung eines progressiven Potentials der Unterklassen. Zwischen ihnen und breit geführten solidarischen Kämpfen stehen die wohlstandschauvinistischen und rassistischen Ideologien des bürgerlichen Staates. Diese verbreiteten reaktionären Inhalte werden wir allerdings nicht bekämpfen können, wenn wir uns lediglich außerhalb dieser gesellschaftlichen Sektoren bewegen und kein bewußtes solidarisches Verhältnis zu ihnen entwickeln.
Die administrative Verfügungsgewalt des Apparates und ihrer RepräsentantInnen über unsere Existenzbedingungen läßt sich nicht ohne eine konzentrierte und konzeptionelle Debatte über die „Wahl der Mittel“ brechen. Wir müssen uns in der Dialektik von inhaltlicher Diskussion und der Erweiterung praktischer Optionen ein organisatorisches und logistisches Fundament erarbeiten, um perspektivisch einen komplexen revolutionären Prozeß einleiten zu können, denn „(...) die Revolution (ist) nicht nur nötig, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden“ (Marx/Engels in: Die deutsche Ideologie).
Von nazistischer Zwangsarbeit zu modernisierten Sozialtechniken
Wir stellen diese Aktion bewusst hinter unsere militante Kampagne gegen die Entschädigungspolitik der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft, weil wir in der Verschränkung dieser beiden Themen langfristig strategisch hier in der BRD vielfältige Möglichkeiten für den Aufbau eines theoretisch reflektierten und praktisch umsetzbaren Widerstandskonzepts sehen. Diese Aktion richtet sich nämlich zum einen exemplarisch gegen die HERRschende Praxis etablierter Kontroll- und Disziplinarsysteme und ihre personifizierbaren AkteurInnen im hier und jetzt. Sie bemüht sich weiterhin um eine Einordnung und Bewertung historischer Entwicklungen und ihrer Kontinuitäten für die heutigen Bedingungen und sucht nach einem strategischen Konzept für den notwendigerweise zu führenden politischen Kampf heute und stellt ihn praktisch-militant zur Diskussion.
In seiner Entwicklung ist im Kapitalismus immer die gewaltförmige Reorganisierung von Arbeit enthalten. Es geht immer um die Erzielung maximaler Profite, nie um die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller. Den Kämpfen in den anfänglichen Manufakturen und ihrer gewaltsam verdingten Arbeiterschaft folgte der (organisierte)Arbeitskampf in den fordistischen Großfabriken um festgeschriebene Mindeststandards. Die NS-Wirtschaftspolitik, ausgerichtet an ihren Kriegsgelüsten und ihrem Vernichtungswillen, dokumentiert die gewaltförmige Zuspitzung und (Ir-)rationalität ökonomischer Vernutzung. Mittlerweile organisieren die globalen Kapitale des postfordistischen (Computer)Zeitalters weltweit die technisch-ökonomische Verwertung in fast jedem Winkel der Welt unter zwangsweiser Integration aller existierenden Produktionsniveaus.
Dieser Weg ist gepflastert mit legislativen, administrativen, ökonomischen und (sozial-)technischen Maßnahmen staatlicher, verwaltungstechnischer und privatwirtschaftlicher Akteure, die angepaßt an die jeweiligen Bedingungen auf der betrieblichen, der regionalen und (inter-)nationalen Ebene beständig bestrebt waren, das Maximum an Arbeitskraft für den eigenen Profit zu nutzen. Dies ließe sich sowohl historisch anhand der ArbeiterInnenkämpfe, als auch für die wirtschaftliche Phase des Nachkriegsdeutschlands anhand der eingeführten Lenkungs- und Steuerungsinstrumente (z.B. neue Niedriglohnsektoren (620 DM Gesetz)), herausarbeiten. Exemplarisch soll dies zunächst anhand der Ausländerbeschäftigung für die Zeit nach 1871 veranschaulicht werden, deren Entwicklung die Voraussetzungen und Bedingungen für das nazistische Konzept der Zwangsarbeit bildete.
In Konkurrenz zur billigeren Agrarproduktion der USA begann nach der deutsch-preußischen Reichsgründung eine lang andauernde Strukturkrise der ineffektiv organisierten Landwirtschaft in einer Phase starker Zunahme der Reichsbevölkerung. Die ökonomisch unhaltbare Situation führte in der Folge zu einer starken Abwanderung der Landbevölkerung. Die zunehmend feststellbare „Leutenot“ brachte die Interessensgruppen dazu verstärkt billige Arbeitskräfte aus dem nicht-preussischen Polen anzuwerben. Als Reaktionen auf diese Maßnahmen waren nationalistische Vorwürfe wie die der Vertreibung, der „Polonisierung“ und des Lohndumpings zu hören. In der Folge wurden von der Regierung die Ausweisungsverordnungen erlassen, die im Zusammenhang mit intensiverer Bewirtschaftung zu einer Zunahme „freier“ Saisonarbeiter führte. Die unvereinbaren nationalpolitischen Interessen einerseits und die staatstragende ostdeutsche Gutsbesitzerklasse andererseits, ließen weitere Erlasse entstehen, die eine versuchsweise Zulassung galizischer, polnischer und russischer Landarbeiter vorsahen. Um eine sogenannte Seßhaftmachung zu verhindern wurde die Karenzzeit eingeführt, die den Arbeitsaufenthalt saisonal auf die Zeit vom 1. April bis zum 15. Nov. beschränkte. Darüber hinaus galten diese Verfügungen nur für Unverheiratete. So sehr die Großgrundbesitzer an der „Schaffung eines anspruchsloseren Arbeiterstandes“ interessiert waren um so mehr plädierten sie für eine Verschärfung arbeits- und polizeirechtlicher Bestimmungen für sogenannte Auslandspolen. Ebenso wie einheimische LandarbeiterInnen aufgrund der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen in den Westen abzuwandern, wehrten sich die ausländischen Saisonarbeiter gegen erniedrigende Behandlung. Da es organisierte Formen des Widerstands kaum gab, war der individuelle Kontraktbruch eine verbreitete Form in den häufigen Auseinandersetzungen.
Zwar versuchten viele Großgrundbesitzer daraufhin auf eigene Faust die Freizügigkeit der Wanderarbeiter zu beschneiden (Einzug von Pässen, Reisegepäck, vollständige Lohnauszahlung am Ende der Saison) aber zunehmend wurde nach staatlichen Maßnahmen zur Verminderung der Kontraktbrüche gerufen mit denen die Freizügigkeit der Ausländer unterbunden und der Kontraktbruch kriminalisiert werden konnte. Zur Eindämmung illegaler Beschäftigung und stärkeren Kontrolle wurde eine Zentralstelle zur Anwerbung der Saisonarbeiter geschaffen. Dieses Modell der „regulierten Ausländerzufuhr“ ist insofern von langfristiger Bedeutung, als es die Tradition der institutionalisierten Diskriminierung ausländischer Arbeiter begründet, bei der Staatsangehörigkeit und sozialer Status zu Kriterien repressiver staatlicher Reglementierung wurden.
Kurz nach Ausbruch des 1. Weltkriegs wurden alle russisch-polnischen LandarbeiterInnen mitunter auch gewaltsam daran gehindert, zurückzukehren, um sie zur Ernte und anderen Arbeiten heranzuziehen und wurde wenig später auch auf in der Industrie beschäftigte MigrantInnen ausgeweitet. Damit wurde den ökonomischen und militärischen Notwendigkeiten Vorrang vor den Rechten und Freiheiten ausländischer Arbeiter gegeben und markiert die Entscheidung für eine verschärfte Behandlung und Lösung des Landarbeiterproblems als Zwangsarbeit für deutsche Kriegsinteressen. Die Erfahrungen, die insbesondere während des Ersten Weltkriegs mit Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit gemacht wurden, bildeten die Grundlage für die systematische Organisierung des Verwertungssystems der nazistischen Zwangsarbeit.
Die Traditionen und Verbindungslinien, die in diesem Zusammenhang zu den Debatten um Arbeitsmigration heute bestehen, sind unverkennbar. Gerne werden diese immer wieder geleugnet und darum auch der Nazismus als Ausnahme oder gar Ausrutscher der historischen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland verniedlicht. Lambsdorff beispielsweise bezeichnete im Kontext der Entschädigungsdebatte die Lohnsklaverei polnischer LandarbeiterInnen lediglich als „eine historische Erscheinung“. Die Entschädigungsdebatte belegt die systematisch betriebene Entkriminalisierung unverbesserlicher Nazi-Täter sehr deutlich. Im Mai 2001 erfolgte – nach Feststellung der „Rechtssicherheit“ für deutsche Täter-Unternehmen vor weiteren Klagen auf Entschädigung – eine Zahlung der lächerlichen Summe von 10 Milliarden DM an 750 000 ehemalige ZwangsarbeiterInnen. SPD und Grüne forderten noch zur Zeit der Kohlregierung eine Entschädigung der ausgegrenzten Opfer der NS-Verfolgung, aber seit ihrer Machtübernahme erwiesen sie sich als willige Vollstrecker der Interessen der deutschen Täter-Konzerne. „Wo es nicht um Ausgleich erlittenen Unrechts geht, werden wir unseren Unternehmen Schutz gewähren“, so Schröder im Bundestag. Immer vermeidend, deutsche Firmen als Verantwortliche zu benennen, die zu zahlen haben, war jetzt von „fairer Lösung“ die Rede. In der laufenden Auseinandersetzung wurde auch auf antisemitische Feindbilder zurückgegriffen. So wurde versucht, das Bild von „geldgierigen jüdischen Anwälten“ zu entwerfen, welche die KlägerInnen vertraten („Aufbau“, jüdische Zeitschrift).
Mit den von uns im Juni 2001 durchgeführten militanten Aktionen (Verschickung von Patronen an Gentz, Lambsdorff, Gibowski und dem Brandanschlag auf die Niederlassung der Mercedes Benz AG in Berlin-Marienfelde), wählten wir bewusst Verantwortungsträger der deutschen sog. Entschädigungspolitik aus. Als Mitglieder der Stiftungsinitiative „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ sind sie, gemeinsam mit der rot-grünen Regierung und großen Teilen der deutschen Wirtschaft, verantwortlich für eine Politik, die auf menschenverachtende Weise gegenüber den noch lebenden ehemaligen ZwangsarbeiterInnen versucht, so sauber und kostengünstig wie möglich einen endgültigen Schlußstrich ziehen zu können.
Die Verbindungslinie zwischen „Vernichtung durch Arbeit“ im NS und den Zwangs- und Disziplinarformen von modernisierten Sozialtechniken verweist auch auf das ideologisch aufgeladene Thema „Arbeit“. Im Prozeß der Identitätskonstruktion war „Arbeit“ nicht zufällig zwischen nazistischen Staatseliten und faschistischem Mob die vermittelnde Wahnvorstellung in der man die negativen Folgen dieses Strukturwandels auf die Person des „Juden“ oder des „Fremden“ projizierte. Deutsche Arbeit galt als gut und produktiv, wohingegen der Handel mit Geld als „jüdisch“ profitsüchtig und ausbeuterisch diffamiert wurde. Ausgehend davon, dass dieses Verständnis von Arbeit für die Wirkungsmächtigkeit, bzw. für die Radikalisierung des Antisemitismus in Deutschland eine zentrale Bedeutung gehabt hat; sollte seine Funktion als sozialer Kitt zwischen den Ausbeutern und den Ausgebeuteten bloßgelegt werden, um solchen verzerrenden und wahnhaften antisemitischen Interpretationen über den Prozeß kapitalistischer Verwertung endlich ein Ende zu bereiten.
Aus den Erfahrungen der Vergangenheit schöpfen auch gegenwärtige Instrumente zur Militarisierung und Kontrolle des Sozialen, die seit Jahren die erkämpften Errungenschaften der Vergangenheit auszuhebeln und gegeneinander auszuspielen suchen. Die Bemühungen um eine größere Effizienz der Arbeit der Sozialämter führt in der Tat dazu, dass sozial Deklassierte einer zunehmenden Beaufsichtigung unterliegen. Die verbesserte Informationsbeschaffung, die Vernetzung von Datenbänken und die Koordination der Behörden, die sich mit „sozialer Unsicherheit“ beschäftigen, wie Sozial-, Arbeits-, Finanz-, Gesundheits-, Wohnungs- und Jugendämter, Krankenkassen und Schulen, ermöglichen eine totale Sozialüberwachung. Die sozial Deklassierten werden auch über das Instrumentarium der potentiellen Zerstörung ihrer materiellen Lebensgrundlage diszipliniert. Renitentes Verhalten gegen Zugriffe dieser Ämter und eine Solidarisierung untereinander, sollen bereits im Keim erstickt werden.
In diesem Sinne korrespondiert die Wirkung der aktuell geführten „Antiterrorismus-Kampagne“ mit dieser sozialen Kriegserklärung, sie gilt nicht dem „Terror“, sondern der Militarisierung der Sozialpolitik, dem Ausbau verstärkter Disziplinierungs- und Kontrollmaßnahmen der Sicherheitsapparate.
Die Kriegsgesetze, die sich auch international gegen oppositionelle Gruppen und Bewegungen richten, grenzen weiter aus, um einem Teil der Weltbevölkerung ein Leben in „Ruhe und Frieden“ gegen genau definierte Andere zu ermöglichen. Die Lebensqualität weniger soll gegen eine große Mehrheit optimiert werden. Und dies auch mit gewalttätigen Mitteln, wie mit dem rassistischen Zuwanderungsgesetz, der widerwärtigen Ausgrenzungsoffensive der Herrschenden, soll unerwünschte Migration verhindert werden. Es verschärft die schon vorhandenen Sondergesetze wie Sammellager, Arbeitsverbote, Residenzpflicht, um die ökonomisch Unbrauchbaren zu quälen und abzuschieben. Den Brauchbaren soll der Aufenthalt gewährt werden, alle anderen sollen in Folter, Tod und Armut abgeschoben werden. Der Arbeitskräftemangel z.B. in der Pflege von Alten und Kranken soll über „gesteuerte Zuwanderung“ behoben werden.
Einige Worte an die Genossinnen von (am)
Liebe GenossInnen, wir danken Euch zunächst, dass Ihr in der Interim Nr. 541, 10.1.02 so prompt auf unser Schreiben reagiert habt. Wir können an dieser Stelle nicht ausführlich auf Euer Papier eingehen, da wir mit der Aktionsvorbereitung und -durchführung gegen das Reinickendorfer Sozialamt beschäftigt waren.
Nur so viel: Wir denken, dass es zwischen unseren Gruppen einen hohen Grad an inhaltlicher und praktischer Übereinstimmung gibt. Aufgrund dessen sollten wir unseren begonnenen Dialog über die Interim fortsetzen. Wir werden in den nächsten Wochen auf Eure Texte in den Interimausgaben Nr. 501 und 541 Bezug nehmen und generell versuchen, einige zentrale Aspekte zu den Erfahrungen vergangener revolutionärer Kämpfe und ihren aktuellen Ausgangsbedingungen herausfiltern, um nach und nach eine Debatte über militante und bewaffnete Politik zu entwickeln. Dabei halten wir es für sinnvoll, keinen inhaltlichen Rundumschlag zu dieser Thematik zu servieren, sondern sich anfangs auf einige Fragestellungen zu konzentrieren.
Dieser Debattenversuch (vgl. Interim Nr. 539, 29.11.01) kann nur gelingen, wenn er verbindlich von den interessierten Militanten und allen Solidarischen getragen wird, wenn sich aufeinander bezogen wird und der Fundus einer jahrzehntelangen Widerstandsgeschichte der revolutionären Linken den Hintergrund bildet.
Gegen den „sozial“staatlichen angriff den Widerstand von unten organisieren! Vertreterinnen der Sozialtechnokratie zur Rechenschaft ziehen!
Für eine klassenkämpferische und sozialrevolutionäre Widerstandsperspektive!
militante gruppe (mg), 05.02.2002
P.S.: An unsere GenossInnen der revolutionaeren aktion carlo giuliani;
Wir werden Euren Diskussionsbeitrag (vgl. Interim, Nr. 542, 24.1.02), der bereits einige konkrete Vorschläge für eine gemeinsame Organisierung und eine inhaltlich-praktische Stoßrichtung enthält, ebenfalls in den nächsten Wochen behandeln. Wir halten es für sinnvoll, wenn wir unsere Textbeiträge mit denen der GenossInnen von (am) diskutieren, damit wir in einen konzentrierten Dialog mit jenen militanten Zusammenhängen treten können, die ihre Aktionen mittelfristig in einen organisierten Rahmen stellen wollen.