Politische Militanz gestern und heute
Interview zu Perspektiven militanter politischer Praxis und ihrem Verhältnis zur revolutionären Organisierung.
Glaubt man einigen Medien handelt es sich bei militanten Demonstranten in der Regel um betrunkene Chaoten oder gewalttätige Jugendliche, die die politischen Aktionen lediglich nutzen, um dort zu randalieren. Ihr werdet euch vermutlich zu keiner dieser beiden Gruppen zählen; stellt euch doch zunächst einmal vor und erzählt etwas über euch.
Laura: Ich war zunächst einige Jahre in einer sozialistischen Jugendgruppe organisiert. Durch Erfahrungen auf diversen Demonstrationen – wie Angriffe durch die Polizei, willkürliche Festnahmen bis hin zu Verfahren und Verurteilungen gegen eine Genossin wegen erlogener Aussagen von Polizisten – hat sich im Lauf der Zeit natürlich einiges an Wut angestaut. Aus meiner eher ablehnenden Haltung gegen Leute, die auch militant agieren, hat sich zunehmend eine Sympathie für solche Aktionsformen entwickelt. Es war aber dennoch nie eine reine Gefühlssache, sondern hatte auch mit der Beschäftigung mit den verschiedenen Arten politischer Praxis zu tun – zuerst witzigerweise als Referat, das ich in der Gruppe in der ich organisiert war halten und das sich ursprünglich gegen Militanz aussprechen sollte.
Als ich dann selbst an verschiedenen militanten Aktionen unter anderem bei Demonstrationen teilgenommen habe, war das wie eine kleine Befreiung: Das Ohnmachtsgefühl, das man auf so vielen Demos erlebt und ja auch erleben soll, wenn es nach den Cops geht, die Langeweile und empfundene Perspektivlosigkeit der immer gleichen Aktionsformen, war auf einmal durchbrochen. Die politische Praxis wurde nicht mehr einfach verschwiegen oder ging als eine Meldung unter Tausenden in den Zeitungen unter, sondern wurde öffentlich wahrgenommen. Es wurde offensichtlich, dass wir durchaus gegen den Repressionsapparat etwas erreichen können, wenn wir uns gut vorbereiten und bereit sind, etwas zu riskieren.
Diese Erfahrungen – beziehungsweise die eigene Praxis – haben wiederum dazu geführt, dass ich mich inhaltlich in eine etwas andere Richtung orientiert habe. Die Perspektivlosigkeit des Opportunismus meiner ehemaligen Gruppe wurde mir immer mehr bewusst und ich bin mit einigen Genossinnen und Genossen momentan dabei, eine kommunistische Organisation auf die Beine zu stellen.
Andreas: Ich komme aus der Antifa-Bewegung, habe mich aber als Student auch an Organisierungen an der Uni beteiligt und bin auch gewerkschaftlich aktiv. Seit meiner frühen Jugend habe ich an diversen Mobilisierungen gegen Nazis teilgenommen und mich später zeitweise in einer Antifa-Gruppe organisiert. Zumindest bei mir war es so, ich denke das lässt sich durchaus verallgemeinern, dass über das Erleben der Situationen bei Nazi-Aufmärschen, wie das Agieren der Polizei dort, zwangsläufig einige Fragen aufkommen: Wie können wir dem Vormarsch der Faschisten wirklich etwas entgegensetzen, reicht es, wenn wir uns auf die Straße setzen, sollen wir nur Flugblätter verteilen oder ist eigentlich wesentlich mehr nötig? Welches Verhältnis hat eigentlich der bürgerliche Staat zu den Nazis?
Die Beschäftigung damit hatte bei mir und meinen Genossinnen und Genossen glücklicherweise immer eine praktische und eine theoretische Dimension: Wir haben an vielen Mobilisierungen teilgenommen und dort sehr viele Erfahrungen sammeln können. Wir hatten also nie ein rein theoretisches Verhältnis zu politischen Mobilisierungen, sondern haben viele verschiedene Situationen erlebt und unzählige Diskussionen vor Ort geführt.
Andererseits waren wir aber nie nur aktionistisch, sondern haben uns möglichst gut auf die Aktivitäten vorbereitet und sie anschließend nachbereitet. Dazu kamen auch Diskussionen über längerfristige Perspektiven, zunächst im Kampf gegen die Nazis, später dann zwangsläufig auch zu Perspektiven, die über die jetzigen kapitalistischen Verhältnisse hinausweisen.
Wir haben relativ schnell die Auffassung vertreten, dass ein wichtiger Teil, wenn auch längst nicht der einzige, im Kampf gegen die Nazis auch die gezielte Militanz ist und denken, dass dies in der konkreten Praxis auch immer wieder bestätigt wurde – dies ist ja eigentlich auch keine wirklich neue Erkenntnis. Unsere Erfahrungen in diesem Bereich und unsere weiteren Diskussionen haben dann dazu geführt, dass wir uns auch an militanten Protesten wie zum Beispiel 2000 gegen das IWF- und Weltbanktreffen in Prag beteiligt haben. Die erfolgreiche Mobilisierung damals hat dazu geführt, dass die Vertreter der beiden Institutionen, die weltweit für massivste Ausbeutung, Hunger, Umweltzerstörungen und Armut von Millionen von Menschen mitverantwortlich sind, ihr Treffen abgebrochen haben. Die militanten Proteste, die trotz der starken Polizeirepression stattgefunden haben, trugen einen erheblichen Anteil dazu bei.
Wie schätzt ihr die Geschichte der militanten Linken in der jüngeren Geschichte ein und wie ist euer Verhältnis zu den verschiedenen Organisationen und Bewegungen, die vor euch aktiv waren?
Laura: Ok, ich werde mich mal an einem Blick in die Geschichte der militanten Linken in der BRD seit den sechziger Jahren versuchen. Ein wichtiger Bezugspunkt dabei – und bis heute wohl die bekannteste kämpfende Organisierung in der BRD – ist die RAF. Es ist hier momentan für die meisten kaum vorstellbar, dass es bei militanten Aktionen konkret darum gehen kann die Machtfrage zu stellen. Ein direkter Kampf gegen die herrschende Klasse und ihren Staat mit der unmittelbaren Perspektive einer befreiten Gesellschaftsordnung scheint unmöglich zu sein. Wir sind hier momentan tatsächlich auch in einer völlig anderen Situation als zum Beispiel in Indien, Kolumbien oder bis vor ein paar Monaten auch in Nepal beim Volkskrieg der kommunistischen Guerilla, wo es ja um die konkrete Befreiung von einzelnen Gebieten und den offenen Krieg gegen die Oligarchie geht. Diese Perspektive des Kampfes schien vor wenigen Jahrzehnten auch hier möglich zu sein. Die RAF und die antiimperialistische Linke verstanden sich als Teil der sich in den sechziger und siebziger Jahren, weltweit im Aufbruch befindenden und bis in die achtziger Jahren noch relativ starken revolutionären Bewegungen. Die revolutionären Organisationen waren in vielen Ländern, von Nicaragua über Vietnam bis in den Jemen und Palästina, damals praktisch die stärkste politische Kraft. Sie waren allerdings mit einer Oligarchie konfrontiert, die sich vor allem mit Waffenlieferungen und anderer Unterstützung insbesondere aus den USA und der BRD an der Macht hielt. Wenn die revolutionären Kämpfe dennoch erfolgreich waren, intervenierten die imperialistischen Länder immer wieder direkt militärisch. Von einer revolutionären Situation auszugehen, nicht unbedingt im nationalen Rahmen der BRD, auch wenn die sich hier ebenfalls verschärfende Situation natürlich eine wichtige Rolle gespielt hat, sondern weltweit betrachtet, war in gewisser Hinsicht also nachvollziehbar. Der bewaffnete Kampf gegen diejenigen, die praktisch weltweit an den militärischen Konflikten und damit an barbarischen Massakern und Angriffen auf sämtliche fortschrittlichen Bewegungen beteiligt waren, sich hier aber in ihr „ruhiges Hinterland“ verkrochen, war also als ganzes betrachtet tatsächlich ein breit angelegter und ohnehin militärischer Kampf. Wie groß dessen Erfolgsaussichten auf diese Art und zu dieser Zeit tatsächlich waren ist natürlich schwer zu sagen.
Es ist nun mal so, dass in sehr vielen Fällen die bewaffnet kämpfenden Guerillas, ebenso wie die anderen fortschrittlichen Organisationen, weltweit besiegt, beziehungsweise zerschlagen wurden. In den Metropolen, „dem Herzen der Bestie“, ist es nicht gelungen, den Widerstand gegen die Politik der dortigen Machthaber stark genug zu entwickeln. Mehr oder weniger offene Diktaturen, miserable Lebensbedingungen und brutale Repression gegen jegliche fortschrittliche Organisierung in großen Teilen der Welt und eine desorganisierte oder isolierte revolutionäre Linke in der BRD und anderen Ländern der kapitalistischen Metropolen gehören mit zu den Folgen der Niederlagen.
Neben der RAF und den anderen Antiimperialistischen Zusammenhängen gab es in den letzten Jahrzehnten noch weitere militante Organisierungen wie die Bewegung 2. Juni, die Revolutionären Zellen und die Rote Zora sowie andere militante Strömungen. Es gab dabei sehr unterschiedliche Positionierungen zu politischer Militanz, andere politische Analysen, Bezugspunkte sowie Perspektiven und dementsprechend einen anderen Umgang mit militanten Aktionsformen. Dies lässt sich zumindest zum Teil direkt aus der damaligen Situation heraus erklären. Der zunehmende Wegfall der Befreiungsbewegungen, Stadtumstrukturierungen und Knappheit von Wohnraum, Ausbau der Atomkraft und viele weitere Aspekte haben unterschiedlichste Strömungen und Herangehensweisen an militante Aktionsformen hervorgerufen.
Andreas: Dazu kann vielleicht noch erwähnt werden, dass ein anderer Teil der Linken, etwa einige der K-Gruppen, bewaffnete Aktionen und teilweise auch jegliche Militanz in der damaligen Situation ablehnten. Für sie hatten sich solche Aktionen danach zu richten, wie weit entwickelt die revolutionäre Organisierung breiter Massen im eigenen Land vorangeschritten ist. Bekanntlich war und ist diese Organisierung nicht gerade weit entwickelt. Ihre Herangehensweise hat die nicht militante und nicht bewaffnet kämpfende Linke allerdings auch nicht davor geschützt, ebenfalls in eine fundamentale Krise zu geraten.
Was denkt ihr aus der Geschichte gelernt zu haben und wie haben sich eurer Meinung nach bis heute Anspruch und Ziel militanter Aktionen verändert?
Laura: Eine veränderte Situation, also veränderte Bedingungen in denen revolutionäre Politik stattfindet, erfordert unbedingt auch andere Herangehensweisen und eine andere politische Praxis. Kurz zur Veränderung der Situation in den letzten Jahren: Eine objektiv revolutionäre Situation, das heißt, etwas verkürzt gesagt, eine Situation in der sich die Widersprüche zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten stark und nur durch den Sieg der einen oder der anderen Seite überwindbar zuspitzen, ist heute nicht nur im weltweiten Maßstab betrachtet vorhanden. Sie entwickelt sich zunehmend auch in den kapitalistischen Metropolen, dem bisher noch „ruhigen Hinterland“ des Kapitals.
Ein Großteil der Symptome, die der Kapitalismus zwangsläufig erzeugt – Kriege, Armut, brutale Ausbeutung –, wurden über Jahrzehnte von hier in Länder der Peripherie „exportiert“. Die große Masse der Leute hier wurde durch die somit erreichten Extraprofite mehr oder weniger gekauft und damit weitgehend stillgehalten. Dass was wir momentan erleben, ist schlicht das spürbare Ende dieser Phase, die makabrerweise als „soziale Marktwirtschaft“ bezeichnet wurde. Dabei spielen eine ganze Reihe von Aspekten eine Rolle. Von der tendenziell sinkenden Profitrate bis hin zum Mangel an gesellschaftlichen Bereichen, die noch zur Kapital-Verwertung freigegeben werden können. Auf all dass kann ich in der Kürze aber wohl nicht weiter eingehen. Das entscheidende ist, dass sich die Situation in den Metropolen weiter zuspitzt: Hartz IV, die Erhöhung des Rentenalters, ständige Kürzungen in allen möglichen Bereichen und die Einführung von Studiengebühren sind nur ein paar der konkreten Beispiele, die diese Entwicklung kennzeichnen.
Auf diese sich immer schneller verändernde Situation muss auch die revolutionäre Linke die richtigen Antworten finden. Dies betrifft natürlich auch ihr Verhältnis zu politischer Militanz. Weder ein Zurückfallen in die rein antiimperialistische oder subjektivistische Position und den direkten ohne wirklichen Bezug zu größeren Teilen der Bevölkerung vor Ort stattfindenden Kampf, noch ein opportunistisches Abwarten, bis die Massen selbst zum Gewehr oder zum Stein greifen, wären die richtige Antwort. Diese Herangehensweisen sind zu ihrer Zeit gescheitert und es wäre in der jetzigen Situation obendrein praktisch anachronistisch, das revolutionäre Subjekt – den direkten Bezugspunkt für die eigene Praxis – nur in den revolutionären Kräften in anderen Ländern oder bei sich selbst zu suchen, anstatt die Situation der Klasse der Lohnabhängigen hier dafür aufzugreifen. Allerdings lässt sich aus der Kritik an den anderen Positionen und den vielen guten und schlechten Erfahrungen, den Erfolgen und den Niederlagen durchaus sehr viel lernen und entwickeln.
Andreas: Hier möchte ich noch ergänzen, dass die Geschichte der revolutionären und der militanten Linken, der Stadtguerilla und der verschiedenen anderen Strömungen und Organisierungen natürlich nicht mit Schlagworten wie „rein antiimperialistisch“ und „subjektivistisch“ weggewischt werden kann. Zwar gab es Kritik, wie sie Laura daran formuliert hat, auch mit diesen Schlagworten damals schon, sie umschreiben aber nur eine Tendenz und in einigen Fällen auch nur eine gewisse Phase der jeweiligen Organisierungen. Tatsächlich muss, wie wir es ja schon gesagt haben, die damalige Situation als ganzes, das Scheitern praktisch sämtlicher Teile der Linken und die tatsächliche Komplexität der jeweiligen Analysen und Perspektiven immer mitbeachtet werden. Es gibt schließlich sehr viele gute Analysen und Herangehensweisen der damaligen Zeit, an denen wir anknüpfen können.
Generell ist weder ein kritikloses Abfeiern noch eine destruktive, klugscheißerische oder verkürzte Kritik an den revolutionären Kräften die richtige Herangehensweise. Bei einem Interview zu versuchen, alles in der eigentlich notwendigen Ausführlichkeit darzustellen, würde den Rahmen aber leider sprengen.
Laura: OK, dann also weiter mit der Bedeutung militanter Aktionsformen in der heutigen Situation. Es ist es zunächst sehr wichtig zu begreifen, dass militante Aktionsformen immer einen sehr unterschiedlichen Charakter haben können – lediglich weil sie generell illegal sind, darf nicht der Fehler gemacht werden, sie über einen Kamm zu scheren. So ist es natürlich richtig, dass wir, wie ich es am Anfang schon gesagt habe, uns momentan nicht in einem direkten Machtkampf befinden. Die militante Praxis hat also, heute hier in der BRD, nicht den Zweck direkt einen Umsturz herbeizuführen beziehungsweise als Teil eines breiten und akuten Kampfes oder Volkskrieges militärische Siege zu erlangen. Da „das Reaktionäre nicht umfällt, wenn es nicht zu Boden gestürzt wird“, die herrschende Klasse ihre Macht nicht ohne weiteres aus den Händen gibt, muss diese Perspektive immer ein wichtiger Punkt im Organisierungsprozess einer revolutionären Linken sein. Es gab in der Geschichte schon mehr als genug Beispiele dafür, dass die Revolutionären schlicht abgeschlachtet wurden, teilweise weil sie den viel besser bewaffneten Söldnern der Herrschenden ausgeliefert waren, teilweise weil sie auf den direkten Kampf nicht ausreichend vorbereitet waren oder falsche Konzeptionen verfolgten. Ob man bis zu den Bauernkriegen zurückgehen will, die Kämpfe in Deutschland zum Beispiel zur Bayrischen Räterepublik 1919 heranzieht, die Erfahrungen mit dem Faschismus in Spanien, Deutschland oder einem der anderen Länder, in Chile mit dem Militärputsch 1973 oder eines der unzähligen weiteren heran nimmt, die zu ziehenden Konsequenzen sind die selben: Wenn das System der Herrschenden in Gefahr ist, richten sie jederzeit jedes erdenkliche Blutbad an, um sich an der Macht zu halten. Marx hat die Konsequenz für die Kommunistinnen und Kommunisten einst so formuliert: „Die Waffe der Kritik kann die Kritik der Waffen nicht ersetzen.“ Und Mao hat es so ausgedrückt: „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.“ Die quasi endgültigste Form politischer Militanz muss also immer entwickelt und vorbereitet werden, nicht erst wenn der Zeitpunkt da ist, an dem diese Frage akut wird.
Eine rein theoretische Annäherung daran hätte aber natürlich keinen Sinn. Wer in den jetzigen Verhältnissen bereit ist, auch mal auf Barrikaden gegen vorrückende Bullen Steine zu werfen oder dem Nazi-Funktionär das Auto in Brand zu setzen, und auf diese Weise Erfahrungen in militanter Praxis sammelt, wird in einer eskalierenden Situation bei direkten militanten beziehungsweise militärischen Konflikten praktisch und auch theoretisch auf diesen Erfahrungen aufbauen können. Das wird in Zukunft unabdingbar sein.
Die je nach Situation immer variierenden Anforderungen und drohenden Vorgehensweisen der staatlichen Konterrevolution sind bei all dem natürlich mit zu bedenken und passende Strategien mit zu entwickeln. Das wäre vielleicht der erste wichtige Aspekt zur heutigen militanten Praxis.
Militanz spielt heute aber natürlich nicht nur als Vorstufe für eine revolutionäre Situation eine Rolle, sondern auch bei der konkreten Politik. Ich werde mal ein paar weitere Aspekte davon benennen, mit einem Schwerpunkt auf der Militanz bei den diversen Gipfeltreffen. Wie ich ganz am Anfang schon erwähnt habe, sind linke Mobilisierungen heute in vielen Fällen nicht gerade motivierend, beziehungsweise tun die Cops recht viel, um uns möglichst wenig Spielräume zu lassen. Ein paar Beispiele, welche Auswirkungen daraus folgen können: Bei der Demo gegen den Weltwirtschaftsgipfel – dem heutigen G8-Gipfel – 1999 in Köln waren zwar mehrere zehntausend Leute auf der Straße, die Stimmung war durch Musik und ähnliches relativ gut. Es fanden aber praktisch keine wirklichen Aktionen statt, weil die Tagungsstätte des Gipfels abgeschirmt war und die Polizei die Demo durch ein Spalier und ständige Angriffe wegen Kleinigkeiten recht gut unter Kontrolle hatte. Die Demo war also alles andere als ein Auftakt einer starken und motivierten Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung – es gab danach zur Mobilisierung ein paar Texte, ein paar Zeitungsmeldungen und das war’s. Wenig später fand in Seattle die Tagung der WTO statt. Die Proteste wurden dort auch militant geführt und das WTO Treffen stark in seiner Durchführung beeinträchtigt. Dieser Erfolg trug weltweit zur Gründung der so genannten Anti-Globalisierungsbewegung mit ihren vielen sinnvollen Facetten bei. Sicher wäre auch zum Beispiel die Motivation nach den Protesten gegen das IWF- und Weltbanktreffen in Prag 2000 ebenso unvorstellbar gewesen, wenn es dort nicht durch die militanten Aktionen zu einer so unübersehbaren und erfolgreichen Mobilisierung gekommen wäre. Wären diese Mobilisierungen und auch die vielen danach, etwa Quebec, Göteborg, Genua und Evian, nichts weiter gewesen als Demos von A nach B, hätten nicht die einigen hundert oder einigen tausend Militanten dort so viel organisiert und auch riskiert, hätte der Motivation von unzähligen AktivistInnen weltweit eine ihrer wichtigsten Quellen gefehlt.
Andreas: In diesem Zusammenhang spielt noch ein anderer wichtiger Punkt mit rein. Wer bekommt denn schon mit, was es weltweit an Widerstand gibt, dass niemand, der sich gegen die aktuellen Verhältnisse auflehnt, allein ist, sondern Millionen Menschen weltweit das gleiche tun – teilweise eben auch mit Erfolgen? In den bürgerlichen Medien, die nun mal für die allermeisten hier die einzige Quelle für nahezu sämtliche Information sind, gehen kurze Meldungen über eine Demo hier oder dort nahezu immer unter, wenn sie überhaupt Erwähnung finden. Als aber zum Beispiel in Genua Hunderttausende versuchten die Rote Zone, in der sich die acht mächtigsten Typen der Welt verschanzten, zu stürmen und mit allen Mitteln bereit waren sich stundenlange Schlachten mit der Polizei zu liefern, war das über Wochen überall Thema. Auch ein kleiner Anschlag auf eine Zeitarbeitsfirma hier oder ein Parteibüro dort findet in der Regel Erwähnung und macht deutlich, dass der linke Widerstand nach wie vor existiert. Erst mal überhaupt mitzubekommen, dass es Leute gibt, die so denken und handeln, ist eine der Grundvoraussetzungen dafür, selbst mal die Option linker Organisierung und Aktivitäten wahrzunehmen.
Dass die bürgerlichen Medien darüber natürlich nicht objektiv berichten, ist klar, dafür müsste oder muss die revolutionäre Linke es schaffen, ihre Publikationen selbst gut zu organisieren und unter die Leute zu bekommen, das ist aber eine andere Geschichte.
Laura: Ein weiterer Punkt zum Sinn militanter Aktionen wäre noch folgender: Eine der gefährlichsten Waffen der herrschenden Klasse ist die Integration von Teilen des Widerstandes. Der berühmte freiwillige Marsch von Teilen der Achtundsechziger durch, genauer, in die Institutionen des bürgerlichen Staates ist vielleicht eines der bekanntesten Beispiele. Die einst mit radikalen fortschrittlichen Forderungen angetretenen Grünen sind ein noch beschämenderes. Wer denkt, er könnte den Widerstand von der anderen Seite der Barrikade aus am besten unterstützen und daher die Seiten wechselt, wird in der Regel früher oder später selbst ein Teil des Problems. Dies hat sich in der Geschichte schon unzählige Male gezeigt und die Herrschenden haben es schon lange erkannt. Die Angebote an NGOs und Teile des Widerstandes, etwa bei diversen Gipfeltreffen teilzunehmen beziehungsweise dort eine „beratende Funktion“ inne zu haben, sind sicher eine Konsequenz davon. Eine solche Herangehensweise dient dazu, Teile des Widerstandes abzutrennen und in die herrschende Politik zu integrieren – wenn in den meisten Fällen auch nur als belangloses Anhängsel.
Sie dient auch dazu, die Gipfeltreffen nach außen als tatsächlich im Interesse aller darstellen zu können – schließlich sind ja sogar die Kritiker dieser oder jenen Facette der herrschenden Politik an diesem vermeintlich demokratischen Spektakel beteiligt. Wie weit dies letztlich gehen kann, zeigte sich beim G8-Gipfel 2005 in Gleaneagles: Der Kriegstreiber und rechte Sozialdemokrat Tony Blair rief sogar mit zu den „Gegendemonstrationen“ gegen den G8-Gipfel – an dem er selbst teilnahm – auf. Der U2-Sänger Bono lobte als Teil der „globalisierungskritischen Bewegung“ und Beteiligter an größeren „Anti-G8-Events“ nach dem Ende des Gipfels sogar die G8-Regierungschefs. Diese hatten schließlich den Ländern des Trikonts einen minimalen Teil ihrer Schulden erlassen.
Um es noch mal zu verdeutlichen: Die G8-Staaten sind weltweit für Kriege, Ausbeutung, Repression, die Unterstützung diverser rechter Regimes, Armut und vieles andere verantwortlich. Sie setzen dies entweder mit direkten militärischen Handlungen, mit ihren Institutionen wie dem IWF und der WTO oder mit Waffenlieferungen und Geheimdienstoperationen durch. In ihren eigenen Ländern lassen sie die Schere zwischen reich und arm immer weiter auseinander klaffen, betreiben Sozialabbau, verschärfen die Situation für MigrantInnen, die aus dem Elend in ihren Ländern flüchten und vieles mehr. In den bürgerlichen Medien schaffen sie es dabei, sich selbst als die legitime Führung der westlichen Welt, als menschenfreundliche Demokraten und ähnlichem zu verkaufen. Soweit so schlecht. Wenn nun aber obendrein die Bewegung gegen diese Politik auch noch so dargestellt wird, als würde sie dies alles nur kritisch begleiten oder sogar eine positive Entwicklung bei den G8-Ministern ausmachen, ist dies dann doch tatsächlich der Gipfel. Als eine der wenigen Möglichkeiten, um eine radikale Ablehnung auszudrücken und sich nicht vereinnahmen zu lassen, bleibt dann tatsächlich nur eine unübersehbare militante Praxis. Das Bild, das die Politik der Herrschenden verdient hat, ist nicht irgendein vermeintlicher Vertreter der „globalisierungskritischen Bewegung“, der vor den Kameras den Protagonisten dieser Politik die Hände schüttelt – vielleicht noch mit ein paar Bildern von Demonstrationen im Hintergrund. Das Bild, das sie verdient, ist, dass ihre Protagonisten, sich hinter Zäunen und Tausenden Soldaten und Polizisten verschanzen müssen, weil Zehn- oder Hunderttausende DemonstrantInnen versuchen, ihr Treffen anzugreifen und zu verhindern.
Das waren jetzt mal ein paar Aspekte. Dazu wäre vielleicht noch zu sagen, dass es alles natürlich noch viel komplexer ist: Eine nicht vermittelte oder nicht vermittelbare militante Aktion zum Beispiel kann auch das Ergebnis haben, dass zwar über die dazugehörige Mobilisierung berichtet wird, sie aber auch unabhängig der üblichen Hetze der bürgerlichen Medien nichts als eine schlechte Publicity bringt.
Auch können durch militante Aktionen unterstützte Mobilisierungen motivierend wirken, wenn allerdings viele Leute dabei festgenommen oder von der Polizei verletzt werden, kann sie auch den gegenteiligen Effekt haben. Dass alles ließe sich jetzt noch viel weiter ausführen, ich möchte damit folgendes zum Ausdruck bringen: Militanz kann von entscheidender Bedeutung sein und ist unabkömmlich für eine Veränderung der Verhältnisse. Sie ist aber kein Selbstzweck und stellt einen Bereich politischer Praxis dar, der sehr überlegt, organisiert und vorsichtig gehandhabt werden muss. Eine militante Aktion ist nicht per se revolutionärer oder effektiver als andere Aktionsformen, es kommt gerade in diesem Bereich vielmehr darauf an, welche Analyse und welches Ziel im konkreten Fall dahinter steht und wie gut sie organisiert wird.
Es ist also wichtig, dass dieser Bereich der politischen Praxis nicht übermotivierten Jugendlichen oder anderen weniger überlegt handelnden Leuten überlassen wird, sondern dass die organisiert handelnde Linke mit ihren Konzepten darin möglichst präsent ist.
Andreas: Ein weiterer wichtiger Punkt, der die Notwendigkeit militanter Aktionsformern verdeutlicht, ist auch heute das konkrete Ziel. So könnten wir hier zum Beispiel sehr viel von den Arbeitskämpfen in den allermeisten anderen Ländern lernen. Abwehrkämpfe gegen weitere Lohnsenkungen, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen oder Entlassungen kämpferischer Kolleginnen und Kollegen werden nicht durch Bitten und Betteln entschieden. Auch Forderungen nach Verbesserungen werden sicher nicht erfolgreich sein, wenn ihnen nicht auch mit konkreten Aktionen Nachdruck verliehen wird. Wer also heute nur erst mal im Kleinen etwas erreichen will, muss sich darüber bewusst sein, dass dies nur durch ernsthafte Kämpfe geht. Die Kämpfe in Frankreich, Italien, Spanien und vielen anderen Ländern, gegen die selben Angriffe von Staat und Kapital wie sie auch hier stattfinden, gegen Kürzungen der Löhne, der sozialen Absicherungen oder im Bildungswesen, werden dort aus gutem Grunde ganz anders geführt. Besetzungen von Fabriken oder Universitäten, deren militante Verteidigung, Auseinandersetzungen mit der Polizei bis hin zu Angriffen auf Chefetagen und Behördengebäude gehören dort zu den Streiks und sozialen Protesten dazu. Schaut man sich im Vergleich dazu zum Beispiel die Proteste hier gegen die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre an, die die Regierung und das Kapital einfach ignorieren konnten, wird eigentlich klar, wie notwendig eine kämpferische Praxis und eine gehörige Portion Militanz gewesen wäre beziehungsweise auch weiterhin ist.
Auch bei der Verteidigung gegen und dem Zurückdrängen der Nazis geht es um ganz konkrete Erfolge, die nur erzielt werden können, wenn man auch eine militante Praxis mit einbezieht. Wären in den letzten Jahrzehnten nicht unzählige Aktionen gelaufen von Anschlägen auf ihre Infrastruktur bis zu direkten Angriffen auf ihre Aufmärsche, kann man sich an zwei Fingern abzählen, dass es ein noch größeres Problem mit der neonazistischen Bewegung in der BRD gäbe.
Wenn man sich also ernsthaft fragt, wie können Sozialproteste, Arbeitskämpfe, antifaschistische Aktivitäten und die Verhinderung der weiteren Zerstörung der Natur effektiv gestaltet werden, wäre ein genereller Verzicht auf militante Aktionen praktisch eine vorgezogene Kapitulation. Militanz muss immer ein Bestandteil der alltäglichen politischen Praxis sein und heute, dort wo es notwendig ist, mit der nötigen Vorsicht eingesetzt, gut organisiert und vermittelt werden.
Zuletzt noch: Der Repressionsapparat mit den diversen Polizei- und Geheimdiensteinrichtungen beschäftigt sich sehr intensiv mit der Frage der Militanz. Im Interesse der Verteidigung der bestehenden Verhältnisse tut er alles, um militante Aktionsformen zu verhindern, die AktivistInnen zu diffamieren, zu isolieren und zu kriminalisieren. Die Linke, egal ob in Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen oder anderen Zusammenhängen organisiert, würde gut daran tun, sich im Interesse der Perspektive einer anderen Gesellschaftsordnung ebenfalls intensiv mit der Frage der Militanz zu beschäftigen. Dabei sollte es um eine objektive und fundierte politische Analyse gehen, die persönlichen Konsequenzen daraus muss dann jeder und jede für sich selbst ziehen.
Es gibt einige Argumente, die sich gegen militante Aktivitäten bei Gipfelprotesten aussprechen, nicht nur außerhalb der Protestierenden, sondern auch von Gruppen wie Attac, christlichen Gruppen und Teilen der Gewerkschaften. Was sagt ihr zu den folgenden Argumentationen: Straßenkämpfe und kaputte Scheiben führen zu schlechter Medienberichterstattung und stellen die politischen Ziele der Proteste in den Hintergrund.
Andreas: Die bürgerlichen Medien vertreten ein bestimmtes Interesse. Etwa dadurch, dass die Chefredakteure und Vorstände in der Regel selbst Mitglieder in einer Partei sind und auch ihren Posten in vielen Fällen nur durch ihre politische Opportunität bekommen haben. Oder noch konkreter, wenn etwa bedacht wird, dass so gut wie alle Zeitungen von großen Anzeigenkunden abhängig sind. Im Kleinen kann es natürlich auch schon am einzelnen Redakteur hängen, der sich mit einem Artikel der sich positiv auf ein kritisches Thema bezieht, nicht seine Karriere verbauen will. Es gibt einige gute Veröffentlichung, die belegen, wie abhängig, unkritisch, manipulierend und monopolisiert die Medienlandschaft heutzutage ist. Jeder der es nicht glaubt, kann es jederzeit nachlesen.
Daraus folgt, dass die Linke nicht gut daran tun würde, ihre Praxis danach auszurichten, was danach in den Medien darüber berichtet wird. Dies wäre eine hoffnungslose Herangehensweise und würde den Medien ja noch mehr Macht in die Hand geben, als sie ohnehin schon haben. Das wird ja auch immer wieder dadurch unter Beweis gestellt, dass auch nicht militante Aktionen in vielen Fällen falsch dargestellt werden und über sie hergezogen wird – wenn sie überhaupt Erwähnung finden.
Laura: Die Berichterstattung beziehungsweise die zugängliche Information über die Praxis der Linken mit dieser Erkenntnis aber ad acta zu legen, wäre ebenso falsch und es gibt ja viele Ansätze, wie mit diesem Problem umgegangen werden kann. Die Schaffung eigener Medien wie indymedia.org und vieler anderer ist eine Möglichkeit, die in den letzten Jahren stark zugenommen hat, die Unterstützung kritischer und linker Zeitungen wie der Jungen Welt eine andere. Auch die Aktivitäten können zumindest in Ansätzen direkt vermittelt werden, ganz direkt, wenn etwa Flugblätter bei oder nach Aktionen verteilt werden oder indirekt, wenn es Erklärungen dazu gibt, aus denen die Zeitungen dann doch vielleicht ein paar Sätze zitieren oder die über linke Publikationen oder im Internet publiziert werden. Auch Aktionen zu machen, die sich fast schon von alleine vermitteln und von den meisten Leuten auch verstanden und positiv aufgefasst werden, selbst wenn die Medien noch so viel darüber herziehen, ist eine wichtige Option.
Im Übrigen sollte noch erwähnt werden, dass die politischen Ziele der Proteste, die angeblich von den Berichten über Straßenkämpfe überdeckt werden, auch ohne militante Proteste kaum wirklich erwähnt werden. Genau genommen finden sie diese in der Regel nur, wenn sie entweder nicht sehr radikal sind, wenn ein Bericht darüber als Beleg für eine „objektive Berichterstattung“ herhalten soll oder wenn sie damit in das bürgerliche Lager integriert werden sollen, um die militanten und revolutionären Kräfte zu isolieren.
Und mal noch ganz nebenbei: Es ist gar nicht so, dass alle, die in den bürgerlichen Medien Berichte über militante Aktionen lesen, diesen generell ablehnend gegenüber stehen. Zumindest eine klammheimliche Sympathie ist bei vielen vor allem dann vorhanden, wenn sie die Aktion als zielgerichtet verstehen, unabhängig was die Medien dann noch für einen Quatsch dazu schreiben.
Andreas: Das ganze ist eigentlich auch eine Frage der Methodik. Lassen wir unsere Aktionsformen von anderen, in diesem Fall von den bürgerlichen Medien bestimmen, oder bauen wir unsere Seite auf, versuchen wir selbst, das Richtige zu entscheiden und einen Umgang mit den Problemen, wie eben der negativen Berichterstattung, zu finden?
Die Gewalt einiger Demonstranten kann dazu führen, dass von der Reaktionen der Polizei viele weitere betroffen werden, bis hin zu Festnahmen, Tränengasangriffen oder Verboten ganzer Demonstrationen.
Laura: Dies ist ein ähnliches Problem wie der gerade angesprochene Umgang mit den Medien – richten wir uns nur nach dem Vorgehen der Gegenseite oder versuchen wir stattdessen einen sinnvollen Umgang damit zu finden. Der bürgerliche Staat allgemein und konkret in diesem Fall die Polizei, gehen gegen alles vor, das die herrschende Ordnung in Frage stellt oder ihr gefährlich werden könnte. Jeder der es wissen will, weiß, dass Angriffe seit jeher nicht nur in der Militanz einer Bewegung begründet liegen.
Aktuell sieht das in etwa so aus: Während vor ein paar Jahren Demos vielleicht angegriffen wurden, weil Leute sich vermummt haben, gibt es heute schon Angriffe weil Seitentransparente mitgeführt werden, Leute eine Mütze und eine Sonnenbrille tragen oder sonst wie gegen die Auflagen der Behörden verstoßen wird.
Andreas: Wenn heute Streikposten von der Polizei weggeräumt werden, passiert dies nicht, weil sie zu militant wären, sondern weil es ein ökonomisches und politisches Interesse der Bourgeoisie daran gibt. Wenn die Streiks dadurch scheitern und die Leute danach eben noch länger oder unter noch mieseren Bedingungen arbeiten müssen, redet davon niemand. Wenn die Streikposten sich aber nicht einfach wegräumen lassen, sondern sich verteidigen oder offensiv agieren, es vielleicht auch ein paar Verletzte und Festnahmen gibt, ist es einfach Quatsch dies dann zu skandalisieren und zu behaupten, dass die Militanz die Ursache davon wäre. Damit würde man ja praktisch jegliche Gegenwehr generell ablehnen und die Verhältnisse mit all ihrer täglichen Brutalität und Gewalt akzeptieren, nur weil die Bedrohung durch die Staatsgewalt existiert.
Man würde auch immer weitere Angriffe auf Löhne und soziale Leistungen, Kriege und die Zerstörung der Umwelt mehr oder weniger akzeptieren müssen oder zumindest nicht zu vehement dagegen aktiv werden dürfen, weil ansonsten die Staatsgewalt all zu heftig zurückschlagen könnte.
Laura: Noch ein Aspekt: Das Problem ist ja heutzutage nicht das, dass die Menschen nicht auf Demos gehen, weil sie Angst haben müssten festgenommen zu werden, sondern weil sie denken, es bringt ohnehin nichts. Nicht ein weiteres Zurückschrauben der Aktionsformen kann also die momentan richtige Herangehensweise sein, sondern eine Debatte darüber wie auch wieder mal Erfolge erkämpft werden können. Dazu gehört eine sinnvolle und gut organisierte Militanz.
Nichtsdestotrotz ist es natürlich sehr wichtig, dass darauf geachtet wird, dass keine Unbeteiligten in Situationen geraten, auf die sie nicht vorbereitet sind oder mit denen sie nicht klarkommen. Die militanten Aktivistinnen und Aktivisten müssen sich ihrer Verantwortung hierbei wirklich bewusst sein. Letztlich liegt es aber an der Polizei, auf Demonstrationen die Leute nicht anzugreifen. Darauf sollten alle Kräfte hinwirken, statt sich untereinander in die Haare zu bekommen, weil das Agieren der einen angeblich zwangsläufig das Vorgehen der Polizei bedingen würde.
Andreas: Wer sich die Geschichte oder die Situation in anderen Ländern anschaut sollte im Übrigen wissen, dass Pazifismus nicht vor Angriffen durch den Staat schützt. Manchmal stimmt sogar eher das Gegenteil, ein Beispiel, was mir dazu gerade einfällt, wäre etwa der Militärputsch in Chile 1973, der damals für viele auch in der BRD ein Grund war, ihre politische Analyse und Praxis zu überdenken und sich an den Konzepten der Stadtguerilla zu orientieren. Der Putsch unter General Pinochet, unterstützt von den westlichen Regierungen, fand gegen eine demokratisch gewählte sozialistische Regierung statt. Diese hat eben nicht mit aller Entschlossenheit gegen die faschistischen und konservativen Kräfte gekämpft, sondern stattdessen sogar die Bewaffnung der Arbeiterinnen und Arbeiter verhindert, um bloß nicht zur Eskalation beizutragen – eben auch mit dem Gedanken, bloß keine tatsächliche Konfrontation einzugehen. Der Putsch war dann mit all den Toten, Gefangenen und den Jahren des Terrors gerade deswegen erfolgreich, weil die Linken und die Arbeiterinnen und Arbeiter zu wenig bewaffnet waren und ihm kaum Widerstand entgegensetzen konnten.
Aber werden nicht viele Menschen von den Bildern vermummter Demonstranten abgeschreckt und beteiligen sich deshalb gar nicht erst an den Protesten?
Andreas: Über das Auftreten der Linken hier auf Demos kann man sicher sehr viel sagen. Auf langweiligen und schwachen Demos laufen die Kids ganz in schwarz mit Kapuze und Sonnenbrille – wenn sie sich das mal von außen anschauen würden, würden sie, denke ich, gleich merken, wie uncool und komisch das eigentlich ist.
Auf anderen Demos wiederum machen sich die Leute über Vermummung überhaupt keine Gedanken und die Polizei hat es, selbst wenn es nur um kleinere Rangeleien geht, dann leicht, die entsprechenden Leute zu identifizieren und festzunehmen. Um ein wirklich ansprechendes und sinnvolles Auftreten auf den Demos zu haben, ist, denke ich, einiges an politischem Bewusstsein und Organisierung notwendig. Vielleicht ist das Bild einer Demonstration auch immer ein kleiner Blick auf den tatsächlichen politischen und organisatorischen Zustand der Linken. Das eigentlich nur am Rande.
Wenn die Linke es schaffen würde, ihre Protestformen ansprechend zu gestalten und sich wirklich Gedanken über das Auftreten zu den unterschiedlichen Anlässen zu machen, würde die Vermummung von einem Teil der Protestierenden, denke ich, keine wirklich negative Auswirkung haben. Daran sollte man viel eher ansetzen.
Laura: Es gibt aus guten Gründen so gut wie immer unterschiedliche Blöcke. Wer sich vermummen will und eventuell auf eine Konfrontation eingestellt ist, hat in der Regel seinen Bereich. Wer kein Risiko eingehen will, sondern nur demonstrieren will, kann dies in der Regel auch ohne weiteres tun. Anzustreben wäre es dabei natürlich, dass es im Vorfeld Absprachen gibt, welches Auftreten ist sinnvoll, wer läuft wo, worauf ist Rücksicht zu nehmen und ähnliches. Genau das klappt ja auch immer wieder mal ganz gut.
Andreas: Es gibt leider recht viele Gründe für Leute, nicht an Protesten teilzunehmen. Ihnen kann der Sinn beziehungsweise die Erfolgsaussicht nicht bewusst sein, sie wissen mit den politischen Zielen der Proteste nichts anzufangen oder verlassen sich einfach auf die anderen, weil sie selbst zu faul sind. Falls tatsächlich nur das Auftreten oder Agieren eines Teils der Protestierenden der Grund sein solle, nicht selbst aktiv zu werden, riecht das ehrlich gesagt – Entschuldigung – ein wenig nach fauler Ausrede.
Einige meinen, dass der Kampf für eine gerechtere Welt nicht mit Mitteln der Gewalt geführt werden darf, da diese grundsätzlich abzulehnen sind. Was meint ihr dazu?
Laura: Hört sich super an, genau das habe ich auch lange so vertreten. Es ist leider allerdings so, dass wir die Gewalt nicht erfinden müssen, sondern sie tagtäglich überall vorhanden ist. Die Herrschenden wenden jegliche erdenkliche Gewalt an, um ihr System aufrechtzuerhalten, die rechten Kräfte, um die Verhältnisse für viele sogar noch schlimmer zu machen und viele der Ausgebeuteten wenden Gewalt in allen möglichen Formen gegen die Falschen an, weil sie denken, dass es ihnen so etwas besser geht. Gewalt existiert nicht nur überall ganz offensichtlich, sondern auch wenn jeden Tag auf der Welt einige zehntausend Menschen verhungern, obwohl es längst mehr als genug zu Essen gibt, wenn sie an heilbaren Krankheiten sterben, wegen mieser Arbeitsbedingungen ums Leben kommen oder krank werden. Wenn ausgerechnet die Linken darauf verzichten, auch mit Gewalt die Verhältnisse zu kippen und damit die Grundlage zu schaffen, um eine befreite Gesellschaftsordnung aufzubauen, würde das eben nichts anderes heißen, als dass sie die tagtägliche Gewalt weiterhin zulassen. Sie würden damit versuchen, sich aus der alltäglichen Barbarei rauszuhalten und lediglich ihr Gewissen zu bereinigen, statt die Verhältnisse zu verändern.
Gewalt ist in erster Linie ein Mittel zum Zweck. Eine militante Aktion gegen eine Konzernniederlassung oder gegen das Auto eines der Verantwortlichen für Sozialabbau wird als gewalttätig angesehen, ist aber viel weniger brutal, als vieles von dem, das nicht als Gewalt betrachtet wird.
Wie heuchlerisch die Debatte im bürgerlichen Lager zu Gewalt ist, zeigt sich momentan wieder mal sehr deutlich: Die Leute aus der RAF werden von morgens bis Abends überall als Terroristen dargestellt, weil sie einst den bewaffneten Kampf gegen den mordenden US-Militärapparat und die deutsche imperialistische Bourgeoisie, deren Hände nicht erst seit dem Faschismus blutgetränkt sind, aufgenommen haben. Ihre „Gewalt“ wird aufs schärfste verurteilt. Die Toten der RAF, die von Bullen abgeknallt oder in den Knästen umgebracht wurden, die jahrelange Folter durch Isolationshaft, die fast drei Jahrzehnte, die viele in den Knästen verbracht haben, hat in dieser Debatte scheinbar nichts mit Gewalt zu tun. Wenn all das überhaupt erwähnt wird, dann wird es als Notwendigkeit dargestellt, um der „Gewalt“ der RAF beizukommen. Das tatsächlich die RAF es war, die der viel länger und in völlig anderen Dimensionen stattfindenden Gewalt des deutschen Staates und der US-Kriegspolitik beizukommen versuchte, wird natürlich nicht erwähnt. Ob es nicht auch eine Art von Gewalt sein könnte, wenn Christian Klar wegen einer politischen Äußerung, die ihm eigentlich zustehende Hafterleichterung nicht bekommt, oder eine menschenfeindliche Medienhetzjagd gegen Brigitte Mohnhaupt stattfindet, fragt sich offensichtlich kaum jemand.
Was ich mit all dem eigentlich sagen will ist Folgendes: Wer sich damit beschäftigt, ob es legitim ist Gewalt anzuwenden, sollte sich der ganzen Dimension dieser Frage bewusst sein. In vielen Fällen zeugt eine Ablehnung von Militanz oder eine Kritik an militanten Aktivistinnen und Aktivisten mit der genannten Argumentation letztlich nur von einer moralischen Untermauerung der eigenen Passivität oder schlimmer der eigenen Unterstützung der herrschenden Verhältnisse.
Andreas: Der Kapitalismus ist ein Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis, er beruht darauf, dass die herrschende Klasse, diejenigen die über die Produktionsmittel verfügen, samt ihren Anhängseln die große Mehrheit der Bevölkerung ausbeuten. Diese Ausbeutung kann hier offener und da verdeckter ablaufen, sie kann sich verschärfen oder in gewissen Zeiten und an gewissen Stellen etwas zurückgenommen werden. Immer wenn ein großer Teil der Ausgebeuteten jedoch dieses System in Frage stellt oder auch nur in Teilen sein Interesse gegen das der Ausbeuter durchsetzen will, werden die Herrschenden die Gewalt anwenden, die sie für notwendig halten. Es ist also weniger eine Frage der Moral, sondern der einer nüchternen Analyse, wie diese Verhältnisse zu ändern sind. Wenn diese Analyse aufzeigt, dass eine gewisse Konfrontation, ein tatsächlicher Kampf dafür notwendig ist und es keine andere Möglichkeit gibt, spielt es nun mal keine Rolle, ob man es lieber hätte, dass alles völlig friedlich abläuft. Wenn man die Analyse, wie die Verhältnisse zu verändern sind, beiseite lässt oder gar zum Entschluss kommt, lieber keine wirkliche Veränderung zu wollen, als dabei auch das Vorgehen zu akzeptieren, das allgemein als gewalttätig angesehen wird, führt das sogar dazu, dass man selbst dazu beiträgt, die herrschenden Verhältnisse mit all ihrer Gewalt aufrechtzuerhalten.
Laura: Wenn wir aber jetzt hier dafür argumentieren, dass Militanz oder Aktionsformen, die als „gewalttätig“ gelten, als leider notwendig betrachtet werden, darf das nicht einseitig missverstanden werden. Alle Aktivitäten der Linken, ihre Organisierungsweise, ihr Umgang und auch ihre Praxis müssen natürlich immer auch danach ausgerichtet sein, wie die zukünftigen Verhältnisse aussehen sollen. Sie müssen es praktisch schaffen, hier und jetzt pragmatisch zu funktionieren, ohne sich selbst der Barbarei anzugleichen und ohne Solidarität, Selbstbestimmung und andere Grundlagen einer anderen Gesellschaftsordnung auf später zu verschieben. Damit wurden sicher schon viele Fehler gemacht. Die Niederlagen der Versuche einer revolutionären Umgestaltung um die 1920 Jahre herum, die immer wieder blutig niedergeschlagen wurden, haben sicher einen Teil zur Entartung in Form des Stalinismus beigetragen. Dort wurde praktisch jegliche Gewalt, selbst gegen Kommunistinnen und Kommunisten, die eine andere Linie verfolgten, als notwendig betrachtet. Daraus muss selbstverständlich gelernt werden und es sollte Einigkeit über die Notwendigkeit einer selbstkritischen Reflektion der kommunistischen Linken über diese Form der Herangehensweise bestehen.
Ist es nicht so, dass sich in demokratischen Verhältnissen alle an die Spielregeln halten müssen und dass wer sie verlässt und Gewalt ausübt, damit die demokratischen Errungenschaften in Frage stellt und sich damit in die Nähe totalitärer Weltanschauungen begibt?
Andreas: Die anscheinend demokratischen Verhältnisse bedeuten weltweit seit jeher alles andere als gleiche Rechte, wirkliche Demokratie oder Freiheiten für den Großteil der Menschen. In den wenigen kapitalistischen Metropolen, in denen nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung lebt, gibt es jetzt gerade mal seit ein paar Jahrzehnten zumindest an der Oberfläche das was als „demokratische Errungenschaften“ präsentiert wird. In den allermeisten anderen Ländern herrscht Armut, Krieg, Unterdrückung oder Repression gegen die politische Opposition. Die kapitalistischen Metropolen sind aber genau dafür verantwortlich. Sie haben durch Kolonialismus über Jahrhunderte die Infrastruktur vieler Länder zerstört und sie ausgeplündert. Sie unterstützen bis heute ihnen treue Regimes mit Waffen und Geld im Kampf gegen die fortschrittliche Opposition oder führen ganz direkt Kriege und bomben die Länder in Schutt und Asche wenn sie meinen, dass es sein muss.
Und hier zeigt sich doch, was von den demokratischen Verhältnissen wirklich zu halten ist. Was sind denn Berufsverbote für Kommunistinnen und Kommunisten, der immer krassere Ausbau des Polizeiapparates und des Überwachungsstaates, die seit dem KPD-Verbot stets drohende Zerschlagung einer politischen Opposition, das Verbot politischer Streiks, Isolationshaft, Notstandsgesetze und die unzähligen weiteren Facetten der aktuellen Demokratie? Sind sie Notwendigkeiten, um die Demokratie zu schützen oder sind sie nicht undemokratische Maßnahmen, die die Interessen der Bourgeoisie aufrechterhalten sollen? Die Verhältnisse hier haben ihren demokratischen Schein nur halbwegs bewahren können, weil es keine wirklich große Opposition gab. Diese gab es zum einen nicht, weil sie spätestens seit 1918, insbesondere dann im Faschismus, physisch vernichtet wurde und mit dem KPD-Verbot 1956 auch die Reste ihrer Infrastruktur zerschlagen wurden. Zum anderen weil, die Leute über eine gewisse Zeit materiell befriedigt und so auch leicht manipuliert werden konnten. Je mehr die Unzufriedenheit der Leute aber wieder zunimmt und immer dann, wenn sich eine wirkliche Opposition erhebt, zeigt der Staat seine Fratze und setzt die Demokratie einfach mal kurz außer Kraft.
Laura: Dass hier gerade nicht auf Demos geschossen wird, was aber vor nicht allzu langer Zeit auch schon vorkam und in anderen „demokratischen“ Staaten an der Tagesordnung ist, und dass die staatliche Repression nur immer wieder mal kurz aufflackert, aber im allgemeinen der Schein einer demokratischen Situation gewahrt werden kann, hat auch noch ganz andere Gründe. Eine wichtige Bedeutung hat zum Beispiel die Manipulation der Leute. Solange sie mit der offenen und verdeckten Propaganda der bürgerlichen Medien voll gestopft und ruhig gehalten werden können, wird keine direkte Repression benötigt. Nahezu jeden Tag werden wir mit Sendungen und Kommentaren zur Bösartigkeit des Kommunismus und zur Alternativlosigkeit und den Vorteilen des Kapitalismus oder auch einfach nur mit Nonsens zugeschüttet.
Solange die Menschen nur unzufrieden sind, aber ihre Wut sich nicht gegen das herrschende System richtet, weil es keine starke organisierte politische Kraft mehr gibt, die genau das entwickeln kann, die Gewerkschaften von treuen Anhängern der Regierungsparteien kontrolliert werden, scheint es natürlich so, als wären alle irgendwie zufrieden. Dieser Anschein ändert aber nichts an der Realität und die ist eben alles andere als demokratisch.
Andreas: Max Reimann, Abgeordneter der KPD hat damals zur Verabschiedung des Grundgesetzes, gegen das die KPD gestimmt hat, in etwa folgendes gesagt: Wir Kommunisten sind gegen dieses Grundgesetz, weil es die herrschenden Verhältnisse festschreibt, wir werden es aber gegen diejenigen verteidigen müssen, die jetzt dafür stimmen, es aber irgendwann immer weiter außer Kraft setzen werden. Damit hat er eigentlich ziemlicht gut das auf den Punkt gebracht, worum es bei der Frage nach Demokratie eigentlich geht. Als militante Revolutionäre und Kommunisten streben wir nicht einen Rückschritt hinter die bürgerliche Demokratie an. Im Gegenteil, wir wollen eben darüber hinausgehen und wirklich demokratische Verhältnisse umsetzen. Diejenigen, die sich hinter der löchrigen demokratischen Fassade verstecken, sind die tatsächlichen Feinde der Demokratie.
Könnt ihr zum Schluss noch eine Prognose für die Anti-G8-Proteste im Juni wagen: Denkt ihr, dass es dort zu ähnlich heftigen Straßenkämpfen wie in Genua 2001 kommen wird? Wie steht ihr zur aktuell gegen den Gipfel laufenden militanten Kampagne und was würdet ihr für richtig halten?
Laura: Das, was in Heiligendamm und der Umgebung laufen wird, hängt direkt mit dem allgemeinen Zustand der revolutionären Linken, der sozialen Bewegungen und der Konterrevolution zusammen. Dazu kurz ein paar Sätze: Es existiert in der BRD momentan keine starke revolutionäre beziehungsweise kommunistische Bewegung, geschweige denn Organisierung. Es gibt hier und da Gruppen, die lokal eine gewisse Relevanz haben, oder bundesweit organisierte Parteien, die zumindest in Ansätzen eine funktionierende Infrastruktur besitzen, das ist aber nicht viel. Die revolutionäre Linke ist gesellschaftlich isoliert und scheint daran teilweise noch nicht einmal etwas ändern zu wollen, beziehungsweise, wenn doch, dies dann durch opportunistische Anbiederung zu versuchen. Kurz gesagt befinden sich die revolutionären Kräfte in der BRD schon lange in einer Krise, sowohl aufgrund der lange Zeit sehr schwierigen objektiven Verhältnissen als auch aufgrund von eigenen Fehlern. Es gibt wohl hier und da wieder Lichtblicke und die Hoffnung, dass die momentane Krise zur Klärung führt, dies wird aber sicher noch einige Zeit dauern.
Die sozialen Bewegungen sind ebenfalls in einer Krise: Der reformistische Teil ist mit seiner Politik weitgehend gescheitert, da Staat und Kapital heute so gut wie keine Zugeständnisse mehr machen, die Reformisten also praktisch keinerlei Erfolge mehr vorweisen können. Dass sie dann in vielen Fällen versuchen, ihre Niederlagen als Erfolge zu verkaufen, hat ihnen bei vielen die Glaubwürdigkeit genommen. Der radikalere Teil der sozialen Bewegungen, etwa innerhalb der Gewerkschaften, ist nach wie vor den Angriffen der Reformisten ausgesetzt und kann sich nur schwer Gehör verschaffen und eigene Akzente setzen. Die breite Masse ist desillusioniert und sieht kaum noch Perspektiven in sozialen Protesten, es gibt kaum neue, motivierende Debatten oder Aktionsformen.
Die staatliche Konterrevolution hingegen, der Apparat aus Polizei, Gerichten, Geheimdiensten und Medien hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich aufgebaut. Er hat kaum Probleme, hier jede erdenkliche Situation zu kontrollieren und sich im Voraus darauf einzustellen. Hier ein paar Spitzel postieren, dort Aktivistinnen abhören, sie dort zu langjährigen Strafen verurteilen, hier wieder die Bewegung spalten, die einen integrieren, die anderen angreifen, alles begleitet von erdrückendem Abgesang oder erschlagender Hetze sämtlicher etablierter Medien – das alles ist kein Problem für ihn.
Die Grundvoraussetzung für die Aktivitäten zum G8-Treffen sind also erst mal eher schlecht. Zum Glück ist alles aber deutlich komplexer. Gerade in Zeiten der Krise können große Mobilisierungen zu einer starken Dynamik führen. Dies wird nicht bedeuten, dass der G8-Gipfel tatsächlich angegriffen und die Schweine samt ihren Bewachern über die Ostsee gejagt werden können – das würde ganz realistisch gesehen auch wenig bringen, solange sich der Organisierungs- und Bewusstseinsgrad der linken und sozialen Bewegungen auf dem eben beschriebenen Niveau befindet. Es ist aber gut möglich, dass über die Mobilisierung viele Leute aktiviert werden, sich darüber politisieren und die Notwendigkeit sich zu organisieren, erkennen werden. Er wird uns neue Erfahrungen und einen Einblick in unsere Stärken und Schwächen liefern, die bei solchen konkreten Aktivitäten immer offen gelegt werden.
Andreas: Ich denke auch, dass wir uns darüber klar sein müssen, dass die Proteste gegen den G8-Gipfel keine neue Dimension erreichen werden. Wenn es gut läuft, können wir dort aber den Herrschenden ihre Show zumindest in Ansätzen etwas vermiesen, einige kleinere Erfolge erzielen, den Protest gegen die Politik der G8-Staaten und das ganze kapitalistische System sichtbar machen und vor allem durch das gemeinsame Organisieren und die gemeinsame Praxis unsere Seite stärken. Egal wie es läuft, wer sich nicht an den Protesten beteiligt, wird in jedem Fall etwas verpassen. Diejenigen, die sich nicht während der Mobilisierung schon beteiligt haben und dann enttäuscht sind, weil dort nicht genug geht, werden sich hoffentlich danach Gedanken machen, woran das liegt und die richtigen Konsequenzen daraus ziehen.
Laura: Jetzt aber zu den Aktionsformen. Es ist sehr schwierig einzuschätzen, was dort möglich und sinnvoll sein wird. Einerseits werden wir dort mit dem größten und bestorganisiertesten Polizeieinsatz, den die meisten wohl jemals erlebt haben, konfrontiert sein. Tausende Bullen, Geheimdienstler, Kameras, Spitzel und was der Repressionsapparat noch alles hergibt, werden uns gegenüberstehen. Und das ohne, dass wir tatsächlich behaupten könnten in den letzten Jahren in größerem Rahmen auch nur annähernd auf unseren Erfahrungen etwa beim G8 in Genua aufgebaut zu haben und unsere Seite weiterentwickelt zu haben.
Andererseits wäre es natürlich völlig falsch, sich von diesem Aufgebot von vorneherein einschüchtern zu lassen. Ich denke, dass symbolische Aktionen wie Blockaden, Rangeleien an Polizeiabsperrungen, vereinzelte Auseinandersetzungen bei Polizeiangriffen oder Versuche zum Zaun zu kommen und auch die eine oder andere militante Aktion durchaus drin sein können. Ob es größere Auseinandersetzung wie in Genua damals geben wird, halte ich allerdings für fraglich. Sollte es dazu kommen, hoffe ich, dass sie entsprechend der Bedingungen geführt werden und die Leute sich nicht dabei verheizen.
Andreas: Eine der Antworten auf die tatsächliche Schwierigkeit, vor Ort die Initiative ergreifen zu können und gegen den Repressionsapparat momentan etwas zu erreichen, ist die schon seit längerem laufende militante Kampagne. Einige Gruppen bundesweit haben insgesamt schon Dutzende Anschläge und Aktionen zum G8-Gipfel durchgeführt. Dies ist sicher eine Möglichkeit, außerhalb der direkten Reichweite der Repressionsorgane eigenständig aktiv werden zu können. Daran kann, denke ich, durchaus in der Zukunft angeknüpft werden.
Was noch zu beachten wäre ist Folgendes: Es ist richtig, sich Möglichkeiten zu suchen, militant agieren zu können, dies auch dezentral und in kleinen Gruppen zu tun. Dies kann aber nicht eine zentrale politische Organisierung ersetzen. Momentan sind die Anschläge sozusagen eine Art Verlagerung von Teilen der politischen Praxis in kleinere konspirative Zusammenhänge, es muss aber auch der Schritt organisiert werden, diese auf einer gewissen Ebene zusammenzuführen, die Möglichkeiten militanter Praxis wieder auszudehnen und sie in einen Bezug zu einem Aufbauprozess der revolutionären Linken auch in anderen Bereichen zu bringen. Das kann natürlich nicht allein die Aufgabe der Leute in militanten Organisierungen sein, sondern erfordert eine Debatte und ein Streben danach auch in anderen Organisierungen.
Danke für das Interview, wollt ihr am Ende noch etwas loswerden?
Laura: Es sollte bitte beachtet werden, dass wir hier nicht für alle Militanten sprechen und es natürlich auch unter denen, die sich als Militante verstehen, sehr viele unterschiedliche Positionierungen zu sämtlichen Themen, zu denen wir hier was gesagt haben, gibt.
Es sollte auch klar sein, dass wir hier sicher nicht alle wichtigen Aspekte ansprechen und auch nicht alle offenen Fragen ausführlich genug beantworten konnten.
Andreas: Nicht nur zur Frage der Militanz sollten wir die momentane Situation zur Klärung nutzen, von den historischen und internationalen Versuchen lernen, die sich verändernde allgemeine Situation begreifen, fragend und handelnd vorangehen, uns organisieren und unsere Seite aufbauen – das ist fast schon alles.
Wir grüßen alle Genossinnen und Genossen in den Knästen und möchten alle bitten, die Gefangenen nicht zu vergessen und die Antirepressionsstrukturen wie etwa die Rote Hilfe zu unterstützen. Wir freuen uns, dass Brigitte Mohnhaupt endlich draußen ist und wünschen Christian Klar ein baldiges Ende seiner Haft.
Wir Grüßen auch alle Genossinnen und Genossen, die sich an der militanten Kampagne beteiligen und damit viel Arbeit, Verantwortung und Risiko auf sich nehmen.