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23. September 2004 | militante gruppe (mg)

Interim Nummer 602

Anschlagserklärung

Im Rahmen der vielfältigen Proteste gegen „Hartz IV/ALG II“ und die tiefgreifenden Angriffe der deutschen Sozialtechnokraten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft haben wir am 23.9.2004 Räumlichkeiten des Sozialamtes Tempelhof-Schöneberg in der Strelitzstr. 15 mit Brandsätzen angegriffen. Sozialstadtrat Bernd Krämer (CDU) rühmt sich damit das sein Amt „Hartz IV“ de facto schon praktiziert. Als kleine Anerkennung haben wir dem Sozialtechnokraten Krömer einen Umschlag mit einer scharfen 9mm-Patrone hinterlassen.

Des Weiteren haben wir als symbolischen Akt im Hintereingangsbereich eines Reinickendorfer Bezirksamtsgebäudes im Eichborndamm 236, in dem das Asylbewerberleistungsgesetz verwaltet wird, einen Brandsatz platziert.

Mit diesen Aktionen setzen wir unsere militante Linie gegen Einrichtungen der Sozialtechnokratie fort und sehen sie als Beitrag für die laufende (militante) Kampagne gegen „Hartz IV/ALG II“ Wir ordnen darüber hinaus unsere militanten Interventionen bewusst in den Mobilisierungsprozeß zur Großdemonstration „Weg mit Hartz IV“ am 2. Oktober 2004 in Berlin ein.

Wenn die Vorwegnahme von „Hartz IV“ im Sozialamt Tempelhof Schöneberg ...

Mit Jahresbeginn 2002 wurde im Sozialamt Tempelhof-Schöneberg ein Pilotprojekt gestartet, mit dem die Umsetzung des sozialen Angriffs auf Sozialhilfeempfängerlnnen schon einmal geprobt wird. Sozialtechnokrat Krömer spricht von einer „faktischen Vorwegnahme von „Hartz IV“ So sei es gelungen, SozialhilfeempfängerInnen in Jobs zu vermitteln. Mehrere Angestellte des Amtes durchsuchen täglich verschiedene Medien nach Stellenanzeigen. Mit „Arbeitgebern“, die Arbeitskräfte suchen, werde sofort Kontakt aufgenommen so Fachbereichsleiterin Ingrid Wagner, denn schließlich hätten sie als Pilotprojekt vor allem Erstantragsstellerlnnen anzubieten.

In Tempelhof-Schöneberg erhält jede(r) Sozialhilfeempängerlnnen drei Monate Zeit, im erlernten Beruf eine Arbeit zu suchen. Gelingt dies nicht, muss jeder Job akzeptiert werden. Dass es sich dabei um Arbeiten im „unteren Segment“ handelt (Packhilfen, Call-Center-Personal), scheint Sozialtechnokraten á la Krämer und Wagner nicht zu interessieren. Wichtig ist ihnen die Bilanz. Die hohen, unschönen Zahlen von Sozialhilfeempfängerlnnen sollen ohne Rücksicht auf Verluste gesenkt werden. Sogenannte Erstfälle, die sich der sozialtechnokratischen Repression entziehen, werden von Krömer als „nicht arbeitswillig“ betitelt. Mit „Hartz IV“ sei schließlich jede Arbeit zu akzeptieren. Krömer, Wagner & Co. fungieren hier als willige Vollstrecker der administrativen Zielsetzungen. lhre „Erfolgsbilanz“ ist aussagekräftig: 30% aller Erstfälle kommt kein zweites Mal, weitere 30% werden in Billigjobs verwiesen, und an lediglich 40% der Erstanstragsstellerlnnen wird Sozialhilfe ausgezahlt.

Das Sozialamt Tempelhof-Schöneberg ist durchweg übereifrig. Es liegt mit 60 Fällen pro Fallmanager weit unterhalb der Maßgaben von Hartz IV (bis zu 140 Klienten pro Managerln). Sie sehen ihr Projekt durch „Hartz IV“ und die nicht pünktliche Einführung der Computersoftware für gefährdet. Oberstes Gebot ist es, sich durch die handwerklichen Mängel von „Hartz IV“ das eigene Modell nicht kaputtmachen zu lassen.

... dem hauptverantwortlichen Sozialstadtrat Krömer auf die Füße fällt.

Im Rahmen unserer militanten Aktion gegen das Sozialamt Tempelhof-Schöneberg haben wir dem Sozialstadtrat Bernd Krämer (CDU) eine scharfe 9mm-Patrone zukommen lassen. Diese Form von Kommunikationsguerilla praktizierten wir in der Vergangenheit bereits gegen Akteure der damaligen Zwangsarbeiterentschädigungsdebatte und den Sozialstadtrat von Berlin-Reinickendorf (Frank Balzer).

Mit der aktuellen Verschickung an Krämer verfolgen wir mehrere Ziele. Zum einen möchten wir sozialtechnokratischen Akteuren wie Krömer in „geballter“ Form präsentieren, was es heißt existenzielle Ängste zu haben. Die Ängste vor Armut und sozialer Verelendung haben konkrete Auswirkungen. In Berlin haben sich in den letzten Wochen Formen des individuellen Widerstands gegen sozialtechnokratische Repressionen gehäuft (Messerattacke im Arbeitsamt Lichtenberg, bewaffnetes Agieren im Landesozialgericht). Gerade am zweiten Beispiel wird deutlich, daß aus individueller Not heraus ein grenzenüberschreitendes Agieren für Viele eine legitime Praxis darstellt. Wenn den kommerziellen Medien geglaubt werden kann, leidet der Akteur seit mehr als drei Jahrzehnten an physischen und psychischen Schmerzen. Eine erfolgreiche BehandlunglOperation wird ihm bis heute verwehrt.

Zum anderen möchten wir mit der Aktionsform Patronenverschickung deutlich machen, daß der Einsatz weiterführender Mittel in zugespitzten Phasen von Protesten und Revolten in breiten gesellschaftlichen Kreisen als gerechtfertigt angesehen wird und keine Erfindung der revolutionären Linken ist. Sich dieser Diskussion zu verschließen, geht an den gesellschaftlichen Realitäten, wie man unschwer erkennen kann, völlig vorbei. Es wäre politisch falsch, eine Auseinandersetzung um diese weitergehenden Methoden abzulehnen. Innerhalb einer solchen inhaltlichen Auseinandersetzung bestünde die Möglichkeit, diese individuellen Akte nicht als Kurzschlusshandlungen „verwirrter Desperados“ abzutun, sondern als Symptome der sozialen Eskalation zu werten. Aspekte des organisierten bewaffneten Kampfes haben wir bereits als Nebengleis innerhalb der Militanzdebatte angeschoben. Zu verschiedenen Zeiten drängen sich verschiedene Fragestellungen auf, die nicht mehr nur im Vorbeigehen angeschnitten werden können. Wenn wir nicht abseits stehen wollen, sollten diese vertieft werden.

Bernd Krömer, Frank Balzer und andere müssen sich nicht wundern, wenn der von ihnen eingesetzte Hammer zurückschwingt. Sie verbauen den an den Rand gedrängten Bevölkerungskreisen systematisch den Lebensweg und gehen bürokratisch darüber hinweg, wenn sie tagtäglich Betroffenen ihrer Existenzgrundlagen berauben.

Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) als Vorlage für „Hartz IV“

Das Bezirksamt Reinickendorf und besonders Sozialstadtrat Frank Balzer ist seit Jahren für sein besonders repressives und menschenverachtendes Vorgehen gegen Migrantinnen bekannt

Das Asylbewerberleistungsgesetz (Gutscheinsystem/Sachleistungen statt Bargeld, 30% unterhalb des Sozialhilfesatzes) wird von Balzer im Gegensatz zu anderen Sozialstadträten hartnäckig verteidigt. Mit dieser Sondergesetzregelung wird der Bevölkerungsgruppe von Flüchtlingen, EinwanderInnen und MigrantInnen jede Eigenständigkeit genommen; sie sind als lobbyloses Klientel der Amtswillkür weitgehend schutzlos ausgeliefert. An Migrantlnnen lassen sich jene sozialrechtlichen Einschnitte und verwaltungstechnische Repressalien austesten, die dann in dosierter Form auf andere Bevölkerungsgruppen übertragen werden. Migrantlnnen sind die erste Experimentiermasse, an der sich die sozialtechnokratischen Planer austoben können.

Die Herabsenkung der Arbeitslosenhilfe im Zuge der Einführung des „ALG II“ auf Sozialhilfeniveau ist nur der Vorbote für weitere Eingriffe. Bereits jetzt werden immer wieder Stimmen laut, die fordern, ein Gutscheinsystem/Sachleistungen auf weitere verarmte Bevölkerungskreise auszudehnen. So werden „unnütze Esser“ schleichend, aber sicher sich selbst überlassen.

In den bisherigen „Anti-Hartz-Protesten“ ist die Komponente, daß MigrantInnen das sozialtechnokratische Übungsgelände darstellen, stark vernachlässigt worden. Aufgrund der materiell sehr ähnlichen Situation böten sich hier gegenseitige Bezugnahmen an. Der sozialrevolutionäre Kampf gegen die Entrechtungs- und Verarmungsprogramme von oben muß im kommenden „Heißen Herbst“ eine deutlich antirassistische Schlagseite bekommen.

Wir haben uns bei dem Brandanschlag auf dieses Bezirksamtsgebäude mit einer rein symbolischen Wirkung begnügt. Denn dort existieren nicht nur die Büroräume der Verwalter des Asylbewerberleistungsgesetzes, sondern ebenso Anlaufstellen für Obdachlose und „Ex-Knackis“. Hier wurden ganz sinnbildlich alle gesellschaftlichen „Rand- und Problemgruppen“ konzentriert. Mit einem kompletten Inbrandsetzen des Gebäudes, das sich von der Lage und Struktur gemäß der Anleitung aus der radikal 157 (Frühjahr 2004) angeboten hätte, wäre eine Beeinträchtigung für diese Personengruppen nicht auszuschließen gewesen.

Die Initiative ergreifen – „Hartz IV/ALG II“ zu Fall bringen!

Wie bereits in unserem „Anti-Grottian-Papier“ (Interim Nr. 601, 16.9.04) erwähnt, haben wir es mit einem breiten und vielfältigen Widerstand gegen „Hartz IV/ALG II“ und einer bewegungsartigen Protestwelle zu tun. Diese Dimension der Angriffe auf die sozio-ökonomischen und materiellen Grundlagen breiter Teile der Bevölkerung war so in der BRD noch nicht wahrnehmbar. Hinsichtlich dieser Situation stehen wir als revolutionäre Linke vor einer Herausforderung, die es zu nutzen gilt.

Die Auseinandersetzungen um „Hartz IV“ haben in Teilen ein Konfrontationsniveau erreicht, die den rechtsstaatlich normierten Rahmen verlassen. Nicht umsonst erarbeitet das Innenministerium von Sachsen-Anhalt einen polizeilichen Notfallplan, da spätestens bei den zu erwartenden Unregelmäßigkeiten der Auszahlung des ALG II-Geldes mit militantem Engagement aus bisher „unauffälligen Kreisen“ der Bevölkerung gerechnet wird. Für uns als revolutionäre Linke bedeutet das, die größere Offenheit breiterer Teile der Bevölkerung aufzugreifen, und die Proteste in einem sozialrevolutionären und klassenkämpferischen Sinne weiterzuentwickeln.

Es bietet sich die Chance, durch gut geplante und durchgeführte Aktionen mehr als nur Sand im Getriebe der sozialtechnokratischen Maschinerie zu sein. Aufgrund planerischer und technischer Pannen halten jetzt schon Viele ein reibungslosen Ablauf der Einführung von „Hartz IV“ für unwahrscheinlich. Militante Aktionen gegen sozialtechnokratische Einrichtungen haben also die reelle Chance. Bausteine dieses Projektes so zu zerstören, daß der ganze Ablauf ins Stocken geraten oder gar vollständig ausgebremst werden kann.

Gefreut haben wir uns über die letzten Beiträge zur Militanzdebatte (Friends of Interim, Familie Feuerstein). Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir uns inhaltlich näher damit auseinandersetzen. Allerdings ist den Friends ein inhaltlicher Fehler unterlaufen, den wir sofort korrigieren möchten. Bei genauer Recherche hätte auffallen müssen, daß wir als Gruppe noch keine Anschläge gegen Arbeitsämter durchgeführt haben (abgesehen von der Gemeinsamen Anlaufstelle des Sozialamtes Pankow und des Arbeitsamtes Berlin-Nord – sog. „MoZArT-Projekt“). Es gab in den letzten Jahren mehrere militante Aktionen gegen Arbeitsämter in Berlin und anderswo. Dazu bekannten sich jedoch andere militante Zusammenhänge. Wir verhalten uns zu diesen Aktionen solidarisch, möchten aber darauf verweisen, bei solchen Aussagen genauer zu gucken, da sonst dem Staatsschutzapparat in die Hände gespielt wird.

Kampf der Sozialtechnokratie – Hartz IV/ALG II und AsylbLG sabotieren!

Die Freiheit der revolutionären Gefangenen erkämpfen – Repressionsapparate angreifen!

Den sozialrevolutionären und antiimperialistischen Widerstand organisieren!

Für eine militante Plattform – für einen revolutionären Aufbauprozeß – für den Kommunismus!

militante gruppe (mg), 23.09.2004

Diese militanten Aktionen widmen wir Kemal Altun, der 1983 Opfer des institutionalisierten Rassismus der BRD wurde und Tommy Weißbecker, der 1972 bei einer Fahndungsaktion der Bullen erschossen wurde.