Teuflische Enge – Prekäre Arbeits-, Lebens- und Protestwelten im Postfordismus
Noch vor zehn Jahren waren existenzsichernde Lohnarbeitsverhältnisse die Norm. Prekäre Erwerbstätigkeiten, die deutlich unter dem Einkommens-, Schutz- und sozialen Integrationsniveau der Gesellschaft lagen, bildeten den Rand der Kernarbeiterschaft. Die Verhältnisse haben sich jedoch rasant gewandelt: Die Ränder reichen bis ins Zentrum – und was früher Kern war, sind heute Oasen. Seit 1991 hat sich der Sektor der Teilzeit- und Geringbeschäftigten um über 80 Prozent ausgeweitet, während im selben Zeitraum die Vollzeitarbeitsplätze um etwa 20 Prozent abgebaut wurden. Mittlerweile sind über sieben Millionen Menschen zur Annahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen gezwungen: Einer springt zwischen mehreren Jobs und hat gar keine Zeit, sich zu beklagen. Die andere arbeitet ohne Papiere und ohne jede Wahl. Ein dritter sieht als Selbstständiger die Chance seines Lebens. Eine vierte wird gekündigt. Die fünfte arbeitet und hat trotzdem kein Geld. Ihnen gemeinsam ist die Prekarisierung, die ihre Arbeits- und Lebenswelt teuflisch eng ineinander schiebt. Wie unterschiedlich die Betroffenen damit auch umgehen, jenseits der persönlichen Geschichten gibt es Rahmenbedingungen, die sich für alle verändert haben. Die politischen Einschätzungen dieses Wandels sind allerdings so verschieden und widersprüchlich wie das individuelle Erleben dieser Zeiten selbst.
Stetiger Sozialabbau
Während der 16 Jahre Kohl- und in der ersten Legislaturperiode der Schröder-Regierung ging es vor allem darum, Leistungen in bestehenden Sozialsystemen zu kürzen, das Tarifgefüge durch Serien von Arbeitsmarktreformen zu durchlöchern. Das Ganze gewürzt mit einer Ideologie von »Eigenverantwortung« und »selber Schuld«. In ihrer zweiten Regierungsperiode kündigten SPD und Grüne mit Hartz I-IV und Agenda 2010 die Sprengung der sozialen Sicherungssysteme an. Seit nunmehr über 20 Jahren beteiligen sich die Regierungen daran, den Gebäudekomplex sozialer Sicherungssysteme zu entkernen, auszuräumen, tragende Decken und Träger einzureißen – bis auch der letzte Laie Einsturzgefahr feststellen kann. Nun treten sie mit trauriger Miene an den Ort des Verbrechens und verkünden die Notwendigkeit, das Gebäude abzureißen – zum Schutz der Bewohner.
Eine »Große Koalition der Willigen« kann sich diese Leistung auf ihre Fahnen schreiben: Fast alle Gesetzesverschärfungen auf diesem Gebiet wurden von Regierung und Opposition gemeinsam verabschiedet. Die Unternehmerverbände nutzen indessen die Gunst der Stunde, fordern die Rücknahme fast aller betrieblichen Sonderleistungen, drohen wahlweise mit Schließungen, Auswanderungen und Tarifflucht – und bekommen stets, was sie wollen. Die Gewerkschaften haben zahllosen »Öffnungsklauseln« im Tarifrecht zugestimmt, verzichteten auf Lohn und betrieblich erkämpfte Leistungen, waren zu allen möglichen Flexibilisierungen bereit und verquasteten die versprochene »Arbeitsplatzgarantien« mit einem Bekenntnis zum Standort Deutschland. Und wenn dann doch noch etwas übrig- bleibt, erledigen Vereinbarungen auf Betriebsebene den Rest.
All dies wird nicht gegen erbitterten Widerstand verabschiedet und beschlossen. Im Gegensatz zu anderen Ländern bleiben betriebliche und außerbetriebliche Proteste marginal, zaghaft – und erfolglos. Selbst die Gewerkschaftsspitze kann mit einem gewissen Recht darauf verweisen, dass die fehlende Kampfbereitschaft an der Basis kein anderes Ergebnis zuließ. Und passiert doch einmal etwas, wie beim »wilden« Streik 2004 im Opelwerk Bochum, bekommt die Gewerkschaftsführung ganz weiche Knie, wird zum Streikbrecher und tritt mit einer Urabstimmung, die kafkaeske Züge trägt, den Brandherd aus.
So groß wie die Ohnmacht ist, so zahlreich sind die Fragen: Wo anfangen? Wo ansetzen? Macht es noch Sinn, sich in gewerkschaftliche Auseinandersetzungen einzumischen?
Sind Forderungen nach existenzsichernden Arbeitsverhältnissen, nach Arbeitszeitverkürzungen (bei vollem Lohnausgleich) überholt? Ist der Nationalstaat noch die richtige Adresse, um soziale Standards durchzusetzen oder reklamiert man damit einen »Sozialstaat«, der längst passé ist? Gesetztenfalls die Globalisierung ist unumkehrbar – was bedeutet dann die Forderung nach einer »Globalisierung von unten«? Sind unter diesen veränderten Bedingungen Kämpfe vor Ort nicht längst überholt?
Linke Positionierungen, die in diesem Zusammenhang immer wieder eingenommen werden, möchte ich im folgenden aufgreifen und entlang der sich immer wieder stellenden Fragen zu neuen Antworten anregen.
Rückkehr zu fordistischen Zeiten?
Eine linke Theorie des Fordismus besagt, dass soziale Standards, existenzsichernde Arbeitsverhältnisse und ein keynesianistischer (Wohlfahrts-)Staat das Dreigestirn dieser Wirtschaftstheorie ausmachten. Tatsächlich waren diese Systemmerkmale aber eine Antwort auf Kämpfe, in denen der Massenproduktion und der brutalen Taylorisierung von Fließbandarbeit das Soziale abgerungen werden mußte. Existenzsichernde Arbeitsverhältnisse sind keine dem Fordismus eingeschriebenen Systemkomponenten – und prekäre Arbeitsverhältnisse kein spezifisches Kennzeichen des Postfordismus. Sie sind im ersten Fall erfolgreichen Lohn- und Arbeitskämpfen geschuldet, im zweiten Fall Ergebnis ausbleibenden Widerstands.
Gerne wird die Ära des Fordismus mit Vollbeschäftigung, die neue Epoche des Postfordismus mit dem Abschied von ihr in Verbindung gebracht. Man hält das Gerede von der »Schaffung von Arbeitsplätze«, »Sozial ist, was Arbeit schafft« (BDI-Chef Michael Rogowski im Jahr 2003) für blanke Ideologie, die den Umstand überflüssig gewordener Arbeitskräfte kaschieren soll. Manche sahen gar am Horizont die »Abschaffung der Arbeit« aufscheinen, die im Kapitalismus zur Verelendung vieler und im Kommunismus zur Grundlage einer Gesellschaftlichkeit führt, in der alle nach ihren Bedürfnissen leben können. Diese Einschätzung hat sich als großer Irrtum herausgestellt. Was die SPD-Grünen-Regierung in ihrer zweiten Regierungsperiode (2002–05) auf den Weg gebracht hat, zielt – neben der Drohung in Richtung Nochbeschäftigter – auf die Verwertung der Überflüssigen, auf die Reintegration von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern in den Verwertungsprozeß. Genau das ist Postfordismus.
Die Mär vom hilflosen Staat
Seit Jahr und Tag hören wir von Schröders Regierung, dass sich nicht nur die Bürger der globalen Herausforderung stellen müssen, sondern auch der Staat. In dieser globalisierten Kampfarena werden nicht nur Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Lohnabhängige und Arbeitslose aufeinander gehetzt. Auch der Nationalstaat müsse mit niedrigen Steuersätzen und noch niedrigeren Sozialstandards um den billigsten Standort in den Ring steigen. Bei dieser Gelegenheit schlagen SPD- und Grünenpolitiker gerne die Hände über den Kopf zusammen, um Ohnmacht zu signalisieren: Sie würden ja gerne vieles ganz anders machen, aber es geht nicht anders. Auch die linken Theorien des Postfordismus haben Abschied genommen von einem mächtigen Nationalstaat. Er habe aufgehört, in ökonomische Prozesse einzugreifen. Die Politiker wären nur noch hochdotierte Butler im Dienste der Global players aus der Ökonomie, die man bestenfalls um ein großzügiges Trinkgeld anschnorren kann.
Mitnichten! Die nationale Politik von SPD und Grünen hechelt nicht hilflos und ohnmächtig den Gesetzen des Weltmarktes hinterher: Sie planiert, markiert, räumt ab und macht Wege frei. Allein im Zuge der Wiedervereinigung flossen bis heute über eine Billion Euro an Steuergeldern (einschließlich Solidarzuschlag) in den »Aufbau Ost«, nicht von Geisterhand, sondern durch politische Entscheidung über die Legislaturperioden und Kanzlerwechsel hinweg! Wenn Unternehmer und Staat in Eintracht existenzsichernde Arbeitsverhältnisse liquidieren und durch Teilzeit- und Geringbeschäftigte ersetzen, dann hat ihnen das nicht der global spirit zugetragen, sondern es wurde ihnen durch die Hartz-»Reformen« der letzten Jahre ermöglicht.
Manch linke Theorie vom Ende nationaler Politik tut so, als ob »nationale Politik« mit einem »Interessensausgleich zwischen Arbeit und Kapital« und »Wohlfahrt« gleichzusetzen wäre. Tatsache ist jedoch, dass der Nationalstaat auch dann Bestand hat und Wirkung zeigt, wenn er soziale Gegensätze nicht ausgleicht, sondern verschärft. Mehr noch: Die Verschärfung der sozialen Gegensätze verlangt nach mehr Staat. Wenn man all die »Sicherheitspakete« addiert, die die Bundesregierung in den letzten sechs Jahren verabschiedet hat – wenn man die außenpolitischen Veränderungen der letzten Jahre hinzunimmt, den ersten Angriffskrieg auf Jugoslawien 1999, Auslandseinsätze im ehemaligen Jugoslawien und Afghanistan, die Forderung nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat – dann kündigt all dies nicht das Absterben nationaler Politik und Interessen an!
Globalisierung als letzte Instanz?
Die Neoliberalen werden nicht müde, von der Globalisierung zu reden, als wäre das ein Schicksal, eine Naturgewalt. Dem internationalen Wettbewerb müsse man sich stellen – Mitmachen oder Untergang ist die Devise. Alternativen gebe es nicht. Dass »Globalisierung« immer und zu jeder Zeit ein gesellschaftlicher Prozeß ist, der politisch gewollt, gesteuert, von nationalen und transnationalen Machtinteressen gelenkt wird, beweisen tagtägliche Schachzüge, mit denen transnationale Interessen gegen andere in Position gebracht werden. So drohte die US-Regierung mit Handelssanktionen gegenüber China, wenn es nicht bereit ist, den freien WTO-Handel mit billigen Textilwaren selbst zu beschränken. Wenn die EU 45 Milliarden Euro an Subventionen in die europäische Landwirtschaft pumpt, um sie vor billigeren Anbietern zu schützen, dann trällern sie dabei nicht das Hohelied auf den »freien Wettbewerb«, vor dem sich alle beugen müssen. Im Gegenteil. Mit diesen und anderen Maßnahmen beweisen sie, dass man dem Schicksal der Globalisierung, dem Gesetz des Weltmarktes durchaus entrinnen kann – wenn ein Staat die nötige Macht hat, um seine nationalen Interessen durchzusetzen.
Wenn französische oder deutsche Unternehmen in Polen billige Arbeitskräfte anheuern, mit der Verlagerung ihrer Produktion nach Lettland drohen (weil dort die Unternehmenssteuern gesenkt wurden), dann liegt das nicht an irgendwelchen Unumstößlichkeiten, wie dem Gesetz der Schwerkraft. Dem liegt eine Wirtschaftspolitik zugrunde, in der die Konkurrenz nationaler Ökonomien nicht aufgehoben, sondern zum inneren Akkumulationsprinzip erhoben wurde. Damit wird weder die Macht des transnationalen Kapitals, noch die Macht transnationaler politischer Institutionen bestritten. Nationale Politik geht darin nicht unter, sondern nimmt eine bedeutende Rolle ein.
Internationalismus nur anderswo?
Dem Vorwurf, sich in nationale Interessen einzumischen, wird gern mit großer Weitsicht begegnet: »Globalisierung von unten« steht dann am Ende der Analyse und ganz oben auf der Liste gerufener Demoparolen, mit dem anschließenden Verweis auf den internationalistischen Charakter der Kämpfe in China, Mexiko und sonst wo ... Doch was wäre dieser Internationalismus, wenn er sich nicht auf Kämpfe beziehen könnte, die unter national spezifischen, besonderen regionalen und lokalen Bedingungen geführt werden? Wenn Menschen in Indien gegen einen Staudamm, gegen die Monopolisierung von Saatgut protestieren, wenn in Bolivien Menschen gegen die Privatisierung von Wasser, Strom und Gas kämpfen, dann machen sie dies unter den Voraussetzungen einer nationalen Politik. Kämpfe werden nicht gewonnen, wenn von nationalen Bedingtheiten abgesehen wird, sondern wenn solche Kräfteverhältnisse richtig eingeschätzt werden. Internationalistisch ist nicht die feurige Bezugnahme und Identifizierung mit Widerstandsbewegungen auf einem anderen Kontinent, sondern eine Praxis, die diese Kämpfe mit unseren Auseinandersetzungen in Beziehung bringt – wenn wir in aller Bescheidenheit tun, was wir woanders bewundern.
Zur linken Theorie vom Fordismus und Postfordismus gehört auch eine progressiv zur Schau gestellten Härte: Wer immer noch den »Sozialstaat« reklamiere, dem »Wohlfahrtsstaat« nachtrauere und diesen heute einklage, der betreibe eine nostalgische und reaktionäre Politik.
Der von Joachim Hirsch beispielsweise skizzierte »Wettbewerbsstaat« ist aber nicht das Ergebnis einer liberalen Wirtschaftstheorie und eines – dem Postfordismus eigenen – Staatsverständnisses. Hirsch beschreibt vielmehr ein neues Regulationsregime, das Klasseninteressen und gesellschaftliche Machtverschiebungen neu austariert. Die Tatsache, dass der Staat Abschied von der »Verteilungsgerechtigkeit« nimmt, ist keinem neuen Staatsverständnis der politischen Klasse geschuldet. Sie muss – mangels mächtiger Gegner – keine Rücksicht mehr auf Klassengegensätze nehmen.
Wenn Linke dem »Sozialstaat« keine Träne nachweinen, dann verwechseln sie Ideologie mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und sozialen Errungenschaften, die in den 60er, 70er und 80er Jahren erkämpft wurden – und nun Zug um Zug rückgängig gemacht werden.
Weder hat der Fordismus den »Sozialstaat« erfunden, noch hat der Postfordismus ihn abgeschafft. Was postum zum »Sozialstaat« deklariert wurde, waren und sind vor allem soziale Errungenschaften, die dem Taylorismus der 20er/30er Jahre so sehr abgerungen werden mussten, wie dem Nachkriegsdeutschland der 60er und 70er Jahre. Der Kampf um Sozialstandards, die ein würdiges Leben gewährleisten, unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht und nationaler Zugehörigkeit, hat die deutsche Linke nicht hinter sich, sondern vor sich – wenn eins ihrer zentralen Anliegen eine Gesellschaftlichkeit ist, in der nicht das Geld die Lebenschancen und -erwartungen bestimmt, sondern das universalistische Recht auf Glück.
Mut und Gelassenheit
Jenseits von vagen Andeutungen (»Eine andere Welt ist möglich«) und strengen Festlegungen (»Für den Kommunismus«) stellt sich die Frage: Was machen wir (als Linke) bis dahin?
Die einen vertrauen auf ihre eigene Untergangstheorie zum Kapitalismus – und warten ab. Andere sehen in der Ära des Empire eine Multitude heranreifen, die so gut wie alles auf sich vereinigt, was zum Kommunismus taugt – und den Kapitalismus einfach links liegen läßt. Wieder andere kämpfen vor Ort, ganz ohne apokalyptische oder messianistische Vorhersehungen, lokal (Agenturschlußkampagne, Proteste gegen Ein-Euro-Jobs). Und ganz viele sind mit vielen Dingen zwar auch nicht einverstanden, wissen aber nicht, was sie dagegen tun können, was möglich und realistisch ist.
Ist es zuviel, einen existenzsichernden Lohn, eine Grundsicherung für alle, ein Gesundheitssystem zu fordern, das alle mit der bestmöglichsten Medizin versorgt? Überfordern wir damit nicht den Kapitalismus? Muß man Autonomer oder Kommunistin sein und das kapitalistische System beseitigen wollen – wenn’s sein muß auch gewaltsam – um diese Vorstellungen umzusetzen?
Etwas mehr Gelassenheit und etwas mehr Mut zugleich sind nötig. Weder in den wilden Jahren von 1969 bis 1973 noch in den 80er Jahren gefährdeten Lohn- und Arbeitskämpfe, Haus- und Platzbesetzungen, oder Sabotage und Anschläge das kapitalistische Akkumulationsregime: Die reale Entwicklung der Wirtschaftsleistung (gemessen am Bruttoinlandprodukt) stieg ungebrochen an. All diese Kämpfe beeinflussten zwar die Gesellschaft und das politische Klima massiv und nachhaltig, doch die Zonen kapitalistischer Akkumulation konnten sie nicht erschüttern. Es waren externe Einflüsse, die zur Rezession und Stagnation führten: Einzig und alleine die »Ölkrisen« 1975 und 1982 führten zu einem leichten Rückgang des Bruttoinlandproduktes (BIP). Zwischen dem Kampf um Verbesserungen im Bestehenden und dem Kampf um seine Beseitigung ist noch viel Luft! Lasst uns tief Luft holen! ... und zu aller erst das Regime der Angst überwinden!
* Vom 5. bis 12. August findet in Reddebeitz/Wendland das »Camp in prekären Zeiten« statt.
Wolf Wetzel, 3. August 2005