Home  ›  Texte  ›  Bezugstexte

27. Juni 2003 | AufruferInnen

Angehörigen-Info Nummer 273, Seite 1 bis 3

„Glaubt den Lügen der Mörder nicht!“

27. Juni 1993/2003 – 10 Jahre nach dem Tod von Wolfgang Grams

Befreiung als Perspektive  – Repression als Reaktion Solidarität als Antwort

rewind: Sonntag, 27. Juni 1993. Bahnhof, Kleinen. Ein knapp Dreitausend-Seelenort nördlich von Schwerin, Mecklenburg-Vorpommern. Die Frau: Birgit Hogefeld. Der Mann: Wolfgang Grams. Beide organisiert in der Rote Armee Fraktion (RAF). By any means necessary. Der Verräter: Klaus Steinmetz, ein V-Mann des Verfassungsschutzes. Das Treffen: Eine Falle. Billardcafe, Bahnunterführung, Treppenaufgang, 15 Uhr. Der Angriff: Birgit Hogefeld wird zu Boden gebracht und gefesselt. Flucht: Wolfgang Grams läuft den Treppenaufgang zum Bahnsteig 3/4. Die Verfolger: GSG 9, eröffnen das Feuer. Wolfgang Grams: Schießt zurück. By any means necessary. Die Zeugin Baron, der anonyme BKA-Zeuge: Grams wurde, als er bereits regungslos im Gleisbett lag, von Beamten der GSG 9 regelrecht hingerichtet. By any means necessary. Nachrichtensperre. Der Innenminister tritt zurück. Der Generalbundesanwalt wird in den Ruhestand entlassen. Die offizielle Version: Wolfgang Grams habe den GSG 9 Beamten Newrzella erschossen und sich selbst getötet. Die Bundesregierung: Spricht den Einsatzkräften, dem BKA und der BAW ihr volles Vertrauen aus. By any means necessary. Die Niederlage der RAF ist eine Niederlage der Linken. Forward: 27. Juni 2003, 10 Jahre nach dem Tod von Wolfgang Grams: Glaubt den Lügen der Mörder nicht.

Am 27. Juni 1993 schlug das Bundeskriminalamt (BKA) in Bad Kleinen gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) zu. Wolfgang Grams wurde laut Aussagen von ZeugInnen von der GSG 9 hingerichtet, Birgit Hogefeld ist seither in Haft. Die Staatsschutzaktion in Bad Kleinen offenbart öffentlich das Ausmaß des staatlichen Vernichtungswillens gegen seine radikalen und militanten Gegner und markiert zugleich die schwere Niederlage für die Linke in der Bundesrepublik Deutschland. 10 Jahre danach nehmen wir diese Ereignisse zum Anlass, um uns mit diesem Kapitel auseinanderzusetzen. Auch wenn unsere Blickwinkel darauf durchaus sehr unterschiedliche sind, so eint uns als Teile der radikalen Linken doch die Erkenntnis, dass dies auch unsere Geschichte ist. Das Bewusstsein für diese wach zu halten und die in diesem Zusammenhang aktuellen politischen Herausforderungen verantwortlich anzugehen, sind die Hauptanliegen unserer Aktivitäten 10 Jahre nach dem Tod von Wolfgang Gras. Geschichte wird gemacht, nehmen wir unsere in die eigenen Hände!

„No matter how hard you try, you can’t stop us now“

Rage against the machine

Blick zurück nach vorn. RAF, Bewegung 2. Juni oder die RZ entstanden in einer Zeit weltweiter antikolonialer/ antiimperialistischer Befreiungskämpfe. Diese wirkten zurück in die kapitalistischen Metropolen, auch in der Bundesrepublik Deutschland befand sich die Linke in den 60er und 70er Jahren im Aufbruch und in relativer Stärke. Die Bewaffnung der Linken war vor diesem Hintergrund kein abwegiges Konzept und wurde von vielen Menschen getragen – anders wäre sie auch gar nicht möglich gewesen. Der politische Kampf für die Abschaffung der kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Verhältnisse, die auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhen, war damals genauso legitim, wie er es heute ist und in Zukunft bleiben wird. Beendet wurde 25 Jahre später ein politisches Konzept, das analytisch und organisatorisch offensichtlich schon seit längerem an seine Grenzen gestoßen war. Eine Guerilla kann nur so gut sein wie die Linke, deren Teil sie ist. Beendet wurde eine Struktur, die sich für lange Zeit dem Zugriff des Staates entziehen konnte und punktuell auf hohem organisatorischem Niveau handlungsfähig war. Aus heutiger Sicht eine unglaubliche Leistung. Beendet wurde auch das existierende Beispiel der persönlichen Konsequenz, mit den Privilegien des bürgerlichen Lebens in der Metropole radikal zu brechen. Sicherlich die größte Ausstrahlungskraft der bewaffneten Kämpfenden, weit über die Linke hinaus. Wenn heute über den Bruch mit den Verhältnissen diskutiert wird, ist das zumeist ein Gedankenspiel und nicht mehr eine konkrete Option. Bad Kleinen also: Endstation, nicht nur für das Leben einiger GenossInnen, sondern auch für ein Kapitel linker Politik in Deutschland. Die späteren Auflösungserklärungen der RAF und einiger RZ wirken da wie nachgereichte Pflichtaufgaben. Nicht beendet ist allerdings der offene Verlauf der Zukunft, wie es uns so viele Apologeten kapitalistischer Verwertungslogik und bürgerlicher Ideologie seit dem Zusammenbruch des Ostblocks selbstbewusst predigen. Es gibt kein Ende der Geschichte! Unsere Perspektive heißt Befreiung weltweit!

„Wenn der Vorhang fällt, schau hinter die Kulissen.“

Freundeskreis

Nichts ist vergessen und niemand! Geschichte kann nicht objektiv oder gar neutral geschrieben werden. In ihr liegt mindestens immer der Blickwinkel der Schreibenden, ihr Standpunkt bestimmt die Perspektive. Was es geben kann, ist die Sammlung von Tatsachen, wenn auch diese einem Deutungsinteresse unterliegt. Um den 20. Jahrestag von Stammheim herum gab es in den bürgerlichen Medien einen breit angelegten Versuch, mit der die herrschende Version von fast 25 Jahren bewaffneten Kampf in der BRD endgültig in den Geschichtsbüchern festgeschrieben werden sollte. Dabei bemühten sich nicht bloß die Organe des Staates, ihr Handeln erneut zu rechtfertigen. Auch zahlreiche derer, die in den 60er und 70er Jahren für die Befreiung des Menschen aufgebrochen waren, wussten nun authentisch von der Aussichtslosigkeit der Stadtguerilla zu berichten und so ihre Distanz zu belegen. In einem solchen Ausmaß war die Widerspruchslosigkeit dieses Diskurses nur möglich, weil die bestehende Linke weder de Aufmerksamkeit noch den Willen hatte, Kritik am Staat in die Öffentlichkeit zu tragen, geschweige denn die Ziele und Motivationen der bewaffnet Kämpfenden zu vermitteln. 10 Jahre nach Bad Kleinen wollen wir einen Gegenpol zur bürgerlichen Geschichtsschreibung schaffen und nicht nur in der Linken unsere Version der Geschichte zur Diskussion stellen.

„Kopfschuss, das war kein Selbstmord, das war Mord!“

(WIZO) Don’t believe the hype

„Nach ewig langen 20 Sekunden ist dann der tödliche Schuss gefallen. Ein Kollege von der GSG 9 at aus einer Entfernung von Maximum 5 cm gefeuert.“ So schilderte ein anonymer zeuge des BKA kurz nach den Ereignissen von Bad Kleinen seine Beobachtungen dem Nachrichtenmagazin Spiegel. Die Verkäuferin eines Kiosks auf dem Bahnsteig berichtete einen ähnlichen Ablauf: Demnach feuerten zwei Beamte der GSG 9 aus nächster Nähe auf den bereits reglos auf den Bahngleis Liegenden, ein weiterer Hinzutretender Polizist tötete Wolfgang Grams mit einem aufgesetzten Kopfschuss. Bad Kleinen löste für kurze Zeit eine ernsthafte Staatskrise aus. Als Problem wurden schließlich aber vor alle Pannen bei der Öffentlichkeitsarbeit benannt, den polizeilichen Polizeibehörden politisch das Vertrauen ausgesprochen. Offiziell wird seither von „Erschießung“ sowie „Tod unter ungeklärten Umständen“ gesprochen. Deutsche Gerichte haben bereits ihr endgültiges Urteil „Selbstmord“ gefällt. Ohne dafür die politische Verantwortung tragen zu müssen, bleiben so doch Fakten geschaffen: Alle wissen, was in Bad Kleinen geschah und was damit auch zukünftig möglich ist. Ein ähnliches Mister bei der Herstellung von gesellschaftlichen Tatsachen, war – wenn auch inszenierter – bei der Diskussion um die angeordnete Folter der Frankfurter Polizei beobachtbar. Der Tabubruch ist auch hier vollzogen: Folter ist bei Bedarf möglich.

„Zivicops, Kameras und Lauschangriffe, das macht Ihr sicher nicht für mich, denn ich brauch das nicht!“

(Fettes Brot) stop state-terrorism!

Verbanden einige Linksliberale mit der Regierungsbeteiligung der Grünen noch die Hoffnung, nun würde an des §§ 129 und 129a (Bildung einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung) gerüttelt, bleibt davon heute nicht mehr als Schulterzucken übrig. Mit den Sicherheitspaketen nach dem 11. September 2001wurde auch der 129b, Bildung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland, aus den Amtsschubladen gezaubert. Die Willkürlichkeit, mit der unliebsame Bewegungen je nach weltpolitischer Interessenlage als legitime Befreiungskämpfer beklatscht oder als blutrünstige Terroristen diffamiert werden können, kennzeichnet den Begriff Terrorismus einmal mehr als Propagandamittel. Das Wesen dieser staatlichen Verfolgungslogik, die nicht eine konkret begangene Straftat zu Grunde legt, sondern ganz unverhohlen zu erwartenden politischen Protest zu unterbinden versucht, drückt sich ebenso in den Gefahrenabwehrgesetzen oder in den Beschränkungen der Reisefreiheit aus. Die konkreten Auswirkungen solcherlei Kompetenzen für die Staatsschutzbehörden hat die deutsche Linke in den letzten Jahren zur genüge erfahren. Wie im Verfahren gegen die Zeitung radikal. Oder mit den Ermittlungen nach §§ 129 bzw. 129A gegen die Autonome Antifa (M) in Göttingen oder die Antifa Aktion Passau. In den 90er Jahren wurden weite Teile von legal angelegten Strukturen überwacht und durchleuchtet. Auch wenn es hier zu keinen Verurteilungen kam, wurden die betroffenen Gruppen durch diese Frontalangriffe des Staates doch erheblich geschwächt: Einem ähnlichen Druck ist jetzt die Linke in Sachsen-Anhalt ausgesetzt. Die Konstruktion der Bundesanwaltschaft hier: Aus der Gruppe „Autonomer Zusammenschluss Magdeburg“ soll sich eine terroristische Vereinigung gebildet haben. In weitaus größerem Umfang sind von all diesen Befugnissen aber die in Deutschland politisch aktiven MigrantInnen und Flüchtlinge betroffen. So brauchte es bisher gar keines § 129b, um beispielsweise mit aller Härte gegen die türkische oder kurdische Linke vorzugehen und damit den NATO-Partner Türkei den Rücken freizuhalten. 2003 jährt sich ebenfalls zum zehnten Male das Verbot der Betätigung für die PKK. Ein Kurswechsel der Bundesregierung an diesem Punkt ist nicht in Aussicht.

„Endlich sind die Terroristen weg!“

Jan Delay free all political prisoners!

Birgit Hogefeld wurde 1996 zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar, Eva Haule und Rolf Clemens Wagner sind für ihre Mitgliedschaft in der RAF noch immer im Knast. Die Angeklagten im Prozess gegen die Revolutionären Zellen (RZ) sind von Haftstrafen bedroht, Lothar Ebke ist in Kanada in Auslieferungshaft. Aus der kurdischen und der türkischen Linken sitzen zahlreiche GenossInnen auch in deutschen Gefängnissen; ebenso wie Thomas Meyer-Falk oder Rainer Dittrich. Am 21. Januar 2003 wurde der Baske Paulo Elkoro in Nürnberg festgenommen. Er befindet sich in Untersuchungshaft in der JVA  Stadelheim. Gegen ihn wird nach § 129b ermittelt, der spanische Staat verlangt seine Auslieferung. Am 27. November letzten Jahres wurden Marco Heinrichs und Daniel Winter wegen des Vorwurfs festgenommen, eine terroristische Vereinigung mit dem Namen „Kommando Freilassung aller politischen Gefangenen“ gegründet und zwei Anschläge im März 2002 begangen zu haben. Dabei handelte es sich um einen nicht gezündeten Brandsatz unter einem Fahrzeug des BGS in Magdeburg sowie den Wurf eines Molotow-Cocktails gegen die Fassade eines LKA-Gebäudes. Am 16. April 2003 wurde Carsten Schulze aus Magdeburg als weiterer Beschuldigter festgenommen, die Vorwürfe gegen die Drei wurden nun um diverse unaufgeklärte Anschläge der letzten Jahre in der Region Magdeburg erweitert. Dort, wo sich Widerstand regt, der den Rahmen des Bürgerlichen Gesetzbuches verlässt oder gesellschaftliche Bedeutsamkeit erlangt, kann die Linke mit den Gegenschlägen des Staates rechnen. Deutlich wurde dieses einmal mehr mit den Auseinandersetzungen um die Gipfeltreffen; auch die Antifa- und „Antiglobalisierungsbewegung“ sind danach unmittelbar von Gefängnisstrafen betroffen. Der Frage nach dem Verhältnis zu den politischen Gefangenen muss sich die Linke stellen. Ohne dieses sind offensive Schritte der Linken wie beispielsweise in Göteborg oder Genua nicht zu verantworten. Die Bedrohung durch Knast kann nicht zum bloßen persönlichen Risiko der Einzelnen und zum Problem der Angehörigen verkommen. Politische Solidarität ist eine Aufgabe der Linken insgesamt. Die deutsche Linke hat offenbar seit langer Zeit nicht mehr die Kraft, durch öffentlichen Druck eine Verbesserung der Situation der politischen Gefangenen durchzusetzen. Dennoch gibt es für uns keinen Grund, die Hände an diesem Punkt sprachlos in den Schoß zu legen. Fehlen uns auch die Mittel, die politischen Gefangenen gesellschaftlich zu thematisieren, so haben wir dennoch die Verantwortung, das Bewusstsein um die Gefangenen in der Linken und die Anforderungen einer politischen und materiellen Solidaritätsarbeit anzupacken. Wenn es die Absicht des Staates ist, einzelne GenossInnen mit Prozessen und Knast auch in ihrer finanziellen Existenz zu bedrohen, dann ist es die Aufgabe der Linken, diese Last auf viele Schultern zu verteilen und Geld zu sammeln. Wenn es die Absicht des Staates ist, Menschen durch Knastmauern voneinander zu trennen, dann ist es die Aufgabe der Linken, diese Mauern zumindest in unseren Diskussionen einzureißen, indem wir die GenossInnen drinnen zum Teil der politischen Auseinandersetzungen draußen machen. Wenn es die Absicht des Staates ist, politische Ansätze wegzusperren. dann ist es die Aufgabe der Linken, die Auseinandersetzung gerade um diese Politik zu suchen.

Die Initiative „zehn Jahre nach dem Tod von Wolfgang Grams“ haben ergriffen: Antifa Bad Homburg, Antifaschistische Aktion LEVerkusen (AALEV), Autonome Antifa (M) Göttingen, Komitee 18. März Münster, Libertad!, Organisierte Autonomie (OA) Nürnberg, Soligruppe Magdeburg / Quedlinburg

Weitere Informationen und Termine: www.badkleinen.tk und www.badkleinen.de.vu

AufruferInnen, 27. Juni 2003