Runder Tisch militanter AktivistInnen zur Vergangenheit und Zukunft der linksradikalen Bewegung
„Militanz ist ein Mittel, kein Programm“
Der Verrat von Tarek Mousli, der lange bei den Autonomen aktiv war, hat die Szene durcheinandergewirbelt. Die nachfolgende Repressionswelle hat uns erst recht gezwungen, uns mit der Geschichte der Revolutionären Zellen auseinanderzusetzen. In der Szene ist das in Ansätzen passiert, aber die Frage, welchen Stellenwert die RZ eigentlich als militante Perspektive hatten, ist genausowenig angesprochen worden, wie eine linksradikale Zukunft jetzt nach dem nachträglichen Ende der RZ aussehen kann. Deshalb haben wir uns als militante AktivistInnen verschiedener Herkunft zusammengesetzt und uns die Köpfe heiß geredet. Mit freundlicher Unterstützung eines militanten Moderators.
Die RZ sind ein Gebilde der Vergangenheit. Aber die Linke wird es auch in Zukunft geben. Und die politische Gegenwart ist durch kontinuierliche Auseinandersetzungen geprägt, wie durch das, was wir aus den Erfahrungen früherer militanter Organisierungen und Vernetzungen gelernt haben. Neue Ideen zu produzieren, ist nicht einfach, aber dieses Gespräch soll dazu anregen, auch wenn es sich teilweise noch sehr stark an der Vergangenheit orientiert. Wie die Zukunft des militanten revolutionären Widerstands aussieht, das haben wir mit den folgenden Seiten zumindest versucht zu erfassen und hoffen, dass die Interim es dem geneigten Lesepublikum zur Diskussion stellt. Wir hoffen, dass sich viele Leute daran beteiligen werden und hoffen auf regen Rücklauf.
Im Moment erschüttert und verunsichert der Verrat eines Einzelnen, Tarek Mousli. Tareks Aussagen stellen einige Leute vor ein juristisches und noch viel mehr Leute vor ein politisches Problem. Letztlich geht es darum, warum und wofür militante Politik steht und wie es kommen kann, dass ein solcher Einbruch geschieht.
Aber wir sollten uns mit Tareks Aussagen keinen Vorwand liefern, nichts mehr zu tun und wie die Schlange auf das Kaninchen zu starren. Verrat ist zum Glück in linksradikalen Zusammenhängen die seltene Ausnahme. Mit der Kronzeugenregelung den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indem man andere beschuldigt, hat es in dieser Form bisher nicht gegeben. Nicht nur der Verrat und die Bedrohung, die dadurch für einzelne ausgeht, macht die Erschütterung aus. Die RZ waren und sind Bestandteil der linksradikalen Geschichte. Die RZ waren sehr viel näher an der linksradikalen Szene, als die RAF. Sie haben sich nicht als abgehobene Avantgarde gesehen, sondern versucht, mit ihrer Politik gesellschaftliche Zusammenhängen deutlich zu machen. Sie waren nicht isoliert aktiv, sondern in Bereichen, in denen Gruppen mit legalen Mitteln arbeiteten – und bis heute arbeiten. Viele Prozesse, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit der Asylrechtspolitik, haben sie erst angeschoben. Ihre Aktionen waren militant und direkt. Und deshalb trifft die nachträgliche Repression erneut auf die Frage des Selbstverständnisses der radikalen Linken – und nach dem Stand des Widerstands.
Unter dem schön klingenden Wort der Globalisierung kommt eine neue, modernisierte Form des Kapitalismus daher, die alte Fehler abschüttelt und gesellschaftliche Strukturen und den Lebensalltag der Einzelnen noch umfassender mit Ausbeutung durchzieht. Das ist ein weltweiter Prozeß, der nach dem Prinzip des allumfassenden Marktes immer weniger Nischen läßt. Dadurch werden Ausgrenzung und soziale Hierarchisierung weltweit verschärft. Das wirft für die Linke neue, wichtige Fragen auf: Die eines ganz neuen Internationalismus, aber auch die der Vernetzung des Widerstands. Denn neben den bekannten bzw. noch zu analysierenden negativen Folgen bedeutet ein neues Herrschaftsmodell immer auch neue Möglichkeiten, dagegen anzugehen. Das Kapital ist dem, was bei uns heute an widerständigen Formen existiert, weit voraus. Damit müssen wir uns auseinander setzen.
Wie sieht der Widerstand im neuen Jahrtausend aus? Ist die Praxis, die die RZ angewandt haben, veraltet? Oder gibt es heute politisch angemessenere Methoden? Das können wir nur herausfinden, wenn wir uns auch auf das Neue einlassen und nicht in Nostalgie verharren. Die Diskussion, was wir erreichen wollen, muß verknüpft werden mit der Diskussion, wie wir es erreichen wollen. Außerdem sollten wir uns die Praxis der RZ noch mal detailliert anschauen, welche Aktionen was gebracht haben und welche nicht. Wollen wir uns heute auf den Wettlauf mit den herrschenden Verhältnissen einlassen? Oder haben wir die Kraft, jenseits der systematischen Verwertung die Utopie einer gerechten Welt zu erhalten? Und schließlich: Ist es an der Zeit, über andere, auch radikalere Formen von Widerstand nachzudenken? Diese Diskussion ist kaum geführt worden.
Wir hatten uns vorgenommen, im Gespräch zwischen verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen, die alle militant Widerstand leisten, Antworten zu finden und unser Gespräch erst dann allen zugänglich zu machen, die sich künftig an dieser Diskussion beteiligen wollen. Trotz großer praktischer Nähe unterschieden wir uns aber in einigen Fragen so deutlich, dass wir die Differenzen stehen gelassen haben und nicht den Anspruch auf gemeinsame Einschätzung überstülpen wollten. Es bringt nichts, eine Einigung erzwingen zu wollen, denn es geht uns um den gesamten Prozeß, wie wir das Thema Militanz künftig angehen sollen und welche Bedeutung nichtlegale Mittel heute spielen und in Zukunft spielen können. Die Linke soll sich und ihre Widerstandsformen weiterentwickeln mit einem Blick nach hinten, um sich mit den Fehlern wie den Erfolgen der Vergangenheit auseinander setzen, vor allem aber mit dem Blick nach vorn: Widerstand war möglich, ist möglich und bleibt möglich. Und nötig.
Viel Spaß beim Lesen!
I. Please welcome ...
* Stellt Euch doch erst einmal vor.
Antonio: Ich bin seit Jahren mal mehr, mal weniger aktiv an dem militanten Widerstand beteiligt. Aktiv beteiligt haben wir uns zu allen möglichen Themen von Antifa über Anti-Castor/AKW, Mumia-Soli, Kurdistan, Antirassistische bis hin zu Anti-staatlichen und Anti-kapitalistischen Aktivitäten.
Ich selbst würde mich eher als den Protagonisten der klassischen autonomen Bewegungstheorie verstehen. Da wo es brennt, wo sich viel tut, wo soziale Bewegung und Kampagnen existieren (z.B. Anti-Castor) wird mit militanten Mitteln unterstützt und eingegriffen. Diese Konzept ist nicht als absolut zu verstehen – ist von der Tendenz her aber immer eine Orientierung für mich gewesen. Bis auf wenige Ausnahmen habe ich mich in Gruppen oder Zusammenhängen organisiert, in denen nur Männer waren oder sind.
Giovanni: Das gilt im großen und ganzen für mich auch.
Johnny: Ich bin seit den 80er Jahren aktiv, ebenfalls mal mehr, mal weniger auf unterschiedlichem Niveau militant, in wechselnden, gemischt geschlechtlichen Gruppen. Im Gegensatz zu Antonio arbeite ich aber zu wenigen Themen langfristig. Eins davon ist Antifa.
Liliane: Ich bin ebenfalls seit den 80ern aktiv, wobei das Mittel Militanz möglichst so eingesetzt wurde, dass es Bewegungsansätze unterstützen sollte, was leider nicht immer gelang. Die Art und Weise der Intervention wurde neben der so schön klingenden „praktischen Bestimmung“ doch häufig auch nach Machbarkeit ausgewählt. Mir war aber tatsächlich immer wichtig gewesen, die Hierarchie der Mittel möglichst klein zu halten, d.h. ich war mir auch nicht zu blöde, nur mal sprühen zu gehen. Militanz mit hohem Sachschaden ist einfach nicht immer angesagt, auch wenn die Medien auf so etwas mehr anspringen. Da muß mensch einfach mehr auf die eigene Vermittlung setzen. Die Themen umfaßten die ganze Bandbreite linksradikaler Politik, wobei der internationale Bezug eher unterentwickelt war, u.a. was Kurdistan betraf.
Karla: Ich arbeite seit vielen Jahren in der autonomen Szene oder vielleicht besser im Rahmen der autonomen Szene. Ich arbeite ausdrücklich mit Männer-Frauen-Gruppen und kaum zu antisexitischen oder antipatriarchalen Themen – das nur, wenn sich die Situation ganz aktuell aufdrängt. Meine Konzentration liegt bei antikapitalistischen und antifaschistischen Aktivitäten. Ich bin damit sicher keine klassische Protagonistin der autonomen Bewegungstheorie – deshalb die leichte Distanz am Anfang. In der Praxis macht das aber oft keinen Unterschied.
Antonio: Außer ein paar gesmashten Sex-Shops innerhalb von Demos – was ja auch schon ein wenig zurückliegt – gab es bei uns/mir leider keine anti-patriarchale militante Praxis. Und das sage ich deshalb, weil es eigentlich ein weites Feld von Möglichkeiten gibt, militant einzugreifen, sei es gegen Bevölkerungspolitik und Gentechnologie, ob gegen Porno- und Sex-Shops, gegen Vergewaltiger, Mißbraucher und Frauenhändler oder gegen sexistische Werbung und Vermarktung in den Medien und der Gesellschaft. Gerade zu diesen Themen haben bis auf wenige Ausnahmen sowohl öffentlich als auch militant fast ausschließlich Frauen gearbeitet und agiert.
Eine militante Praxis über Jahre hinweg hatten hier v.a. die Rote Zora entwickelt.
Bei Männern ist eine antipatriarchal politische Praxis, ob nun militant oder nicht, faktisch nicht vorhanden, trotz vieler schönen und wohlklingenden Formulierungen in Flugblättern und Erklärungen.
Eine Ausnahme bilden hier die Flammenden Herzen mit ihren Anschlägen gegen Kreiswehrersatzämter und Bundeswehreinrichtungen. (Aus einer Erklärung von Dezember 1993 anläßlich eines Anschlages auf das Kreiswehrersatzamt Marburg schreiben sie u.a.: „Die Aktion ordnen einige von uns als einen Beitrag ein, den Vormarsch einer vermehrt sichtbaren militaristischen Formierung von Männern abzubremsen. Wir haben nicht die Illusion, diese Entwicklung zu stoppen, zum Stehen zubringen. Wir sehen aber unsere Chance und Aufgabe aktuell dann, die Zeit der linksradikalen Orientierungslosigkeit zu nutzen, um dem eine antipatriarchale Widerstandsutopie entgegenzusetzen und weitere militaristische Einbrüche in die Gesellschaft zu verhindern.“)
Nein, es geht mir nicht um mea culpa und was wir (die Männer) in den letzten Jahren alles nicht auf die Reihe gekriegt haben, sondern darum, Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft zu übernehmen und endlich die Notwendigkeit zu begreifen, eine öffentliche, politische Praxis gegen Männerherrschaft-Gewalt und Macht in all seinen Ausformungen, einschließlich der Veränderung eigener Verhaltensmuster, zu entwickeln.
Johnny: Ich finde es bemerkenswert, dass in Deiner Vorstellung der Teil an Sachen, die Du NICHT machst, nämlich antipatriarchale Aktionen mehr umfaßt, als der Teil, den Du machst. Das klingt so superkorrekt, als wäre es direkt aus dem ungedruckten Autonomen-Knigge oder der Interim abgeschrieben. Ich habe für mich den Beschluss gefaßt, dass ich, bevor ich antipatriarchalen Vorsatz an antipatriarchale Floskel reihe und dann auf andere verweise, lieber etwas weniger rede und etwas mehr im antipatriarchalen Sinne tue. Das hilft, glaube ich, mehr. Ich stelle mich ja auch nicht dauernd hin und sage: Leider schaffe ich es nicht, eine dauerhafte antikapitalistische oder antirassistische Praxis zu entwickeln.
Antonio: Grundsätzlich hast du Recht, zwischen Anspruchsdenken und der Wirklichkeit klafft oft ein riesiges Loch; und sicherlich sollten wir nicht allein an unseren Worten, sondern an unseren Taten gemessen werden. D’accord!! Trotzdem ist es meiner Meinung nach nicht falsch, solche Ansprüche zu formulieren.
* Ende Dezember 1999 wurden bei einer Großrazzia drei Leute festgenommen, denen Mitgliedschaft in den RZ vorgeworfen wird. Ist das das Ende der Ära der bewaffneten Linken?
Johnny: Ja und nein. Ja, weil es eine der letzten großen Verfolgungswellen ist, was bewaffnete Reste aus der alten Bundesrepublik angeht, die verbissene Rache der Bundesanwaltschaft, die frustriert ist, weil sie nie jemand von den RZ gekriegt hat. Und weil es natürlich nur nochmal das Ende der RZ bestätigt. Nein, weil militanter Widerstand immer weitergehen wird, sich neue Formen sucht und neue Leute dazu stoßen. Auch wenn wir nicht RZ waren, stehen wir doch in der Tradition der undogmatischen militanten Linken. Das ist nicht das Ende, das sei an dieser Stelle fest versprochen.
Karla: Ein schönes Versprechen. Ich sehe aber eine lange Durststrecke, in der sich nur einzelner Widerstand militant bemerkbar macht, aber keine kontinuierliche „Gegenmacht“. Ich glaube, dass wir sehr nachdrücklich daran arbeiten müssen, neue Strukturen aufzubauen. Tut mir leid, liebe Staatsschützer – damit meine ich nicht einfach: wir gründen etwas. Ich meine, dass wir adäquate Formen finden müssen an die brennenden Themen heranzukommen. Dass wir aus den Fehlern der Berufsorganisiertenmilitanten lernen müssen. Wie schon die eine RZ festgestellt hatte, dass Umfeld und die Umsetzung fehlen. Wie wäre es, sich auch mal genauer anzuschauen, wen wir heute eigentlich ansprechen? Es gibt Widerstand auf vielen gesellschaftlichen Ebenen. Ich bin ja ein großer Fan, sich dem Internet-Widerstand anzunähern etwa. Hightech-Kommunikation ist aber nur ein Bereich, ich glaube, dass die veränderte Kommunikation auch andere internationale Zusammenarbeit im Widerstand möglich macht (siehe Seattle). Und ich meine damit nicht den klassischen fürsorglichen Internationalismus. Und mir fehlt derzeit außerdem enorm der Zusammenhang von Tat und Wort. Ich bin keine Anhängerin von Militanz an sich. Mir fehlt das drumrum. Also kurz: ich will sagen, wir befinden uns (hoffentlich) in der Phase der Aufbauarbeit.
* Ist organisierter, militanter Widerstand heute, gut zehn Jahre nach Mauerfall, acht Jahre nach dem Ende der RZ und drei Jahre nach der Auflösung der RAF überhaupt noch zeitgemäß?
Liliane: Militanz entwickelt dann eine Kraft, wenn es darum geht, eine Idee, eine Utopie, die in Ansätzen hier und heute umgesetzt wird, durch unmißverständliche Zeichen zu unterstützen. In bewegungslosen Zeiten wie jetzt ist für mich Militanz eher ein subjektiver Befriedigungsfaktor, um aus der alltäglich erlebten Ohnmacht auszubrechen, um daraus Stärke zu kriegen, um weiterhin widerspenstig sein zu können. Aber es gehört oft eine Menge Ignoranz oder Selbstbetrug dazu, die politische Wirkungslosigkeit einfach so zu schlucken.
Giovanni: Wir wüßten nicht, was sich für Parameter verändert hätten, an denen wir ablesen könnten, dass der organisierte militante Widerstand nicht mehr zeitgemäß sei. Von der RZ wurde einmal mit einer Gegenfrage reagiert: „Ist es wichtig, dass versucht wird, gefangene Revolutionäre rauszuholen? Ist es wichtig, dass US-Kasernen brennen? Sollen wir Fahrscheine lieber bezahlen als nachdrucken oder die Automaten abbrennen? Sollen wir Schwarzfahrer-Karteien lieber vervollständigen statt anzünden? Ist es richtig, Bauspekulanten anzugreifen?“
Auch das Komitee hat in seiner Auflösungserklärung eine völlig richtige Einschätzung geäußert: „Es ist heute ja oft das Argument zuhören, nachdem Niedergang der linksradikalen Bewegung hätte einfaches „Weitermachen“ keinen Sinn mehr, wobei geflissentlich unterschlagen wird, dass revolutionäre Politik hier in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich immer nur eine Randposition inne hatte und nie eine realistische Strategie zum Umsturz der Verhältnisse vorweisen konnte. Konsequente militante Praxis könnte einer der Hebel sein, den Kreislauf der Linken von Glaubwürdigkeitsverlust nach Außen und Mutlosigkeit und Anpassung nach Innen zu durchbrechen. Radikale Kritik an der bestehenden Praxis von Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung, die nicht alle Mittel von Widerstand nutzt, sucht und erfindet, muß früher oder später den Glauben an sich selbst verlieren“.
Johnny: Es war noch nie so, dass die Herrschenden freiwillige Zugeständnisse gemacht haben, geschweige denn, dass sich prinzipielle Dinge geändert hätten, nur weil mensch darum bittet. Wir sehen außerdem an vielen Punkten, dass die Definition dessen, was als böse und gesetzesbrecherisch gilt, völlig verschoben wird. Galt früher eine Motorradmaske oder ein Helm als Vermummung, dann ein über die Nase gezogenes Tuch, ist es heute eine dunkle Sonnenbrille mit Kapuze. Und morgen wird vielleicht der aufrechte Gang verfolgt. Da entscheiden wir schon lieber selber über unsere Mittel. Gesetze werden außerdem nicht deshalb weniger verschärft oder gar zurückgenommen, weil es keine Straßenschlachten oderAnschläge mehr gibt. Die Herrschenden finden immer Gründe, den Repressionsapparat auszubauen: Flüchtlinge, Jugendbanden, die angeblich so organisierte Kriminalität – was halt gerade Mode ist. Insofern richten wir danach nicht unsere Aktivitäten aus, sondern gehen davon aus, dass wir uns mit vielen unterschiedlichen Mitteln politisches Terrain erkämpfen müssen. Militanz ist nur eins davon. Wir sind diejenigen, die handeln können, wenn wir wollen. Da verbindet sich das Persönliche mit politischen Vorstellungen. Allerdings stimmt, dass nicht jede Aktion in jeder Situation gut ist. Da hat die radikale Linke Nachholbedarf und ist viel zu unflexibel.
Giovanni: Was nicht zeitgemäß ist, ist die Überschätzung der gesellschaftsverändernden Bedeutung militanter Politikformen. Eine Politik, die sich auf das Anzünden von Bonzenschlitten, auf das Einschmeißen von Scheiben, das Werfen von Buttersäure und das Zerstören von Fahrkartenautomaten und ähnliches beschränkt, bleibt letztendlich folgenlos. So richtig und wichtig dieses Agieren ist, so falsch ist es zu glauben damit die Machtfrage zu stellen und darüber das Wirken in den Herzen und Köpfen der Menschen zu ersetzen.
Karla: Davon spreche ich. Ein Brandsatz allein ist nur für wirklich wenige ansprechend. Auch wenn er gut tut. Entscheidend ist der inhaltliche Kontext.
Antonio: Militanter Widerstand ist kein Selbstzweck, deswegen sollte er immer wieder aufs neue diskutiert werden. Wann und ob und wie es Sinn macht ihn unter welchen Bedingungen einzusetzen. Militanz ist ein Mittel – kein Programm an sich. Obwohl es auch einen anderes Verständnis von Militanz gibt und in diesem eher eine Lebenseinstellung bedeutet als nur die Anwendung von revolutionärer Gewalt. Die Option, auf diese Mittel zurückzugreifen, dürfen wir jedoch nie aus der Hand geben, denn dann hätten wir schon verloren.
Zur Zeit glaube ich schon, dass militanter Widerstand zeitgemäß ist, vor allem im Antifa- und im Antira-Bereich, Castor sowieso. In beiden Bereichen arbeiten viele Leute dazu, eine gesellschaftliche Sensibilisierung ist vorhanden und oft stellt sich die Frage eh nicht in diesem Sinne, sondern es geht dann um die banale Sicherheit auf der Straße, um Abwehrkämpfe und Selbstverteidigung.
Die Nazis haben sich immer mehr Freiräume erobert. Dass sie vor kurzem am 29.1.2000 mit 500 Kameraden das erste mal seit 1945 wieder mit wehenden Reichskriegsflaggen durchs Brandenburger Tor in Berlin gezogen sind, haben sie als Erfolg gefeiert, während die Linke und die Antifa geschlafen haben... Oder sind wir, was ja noch viel erschreckender wäre, nicht mehr in der Lage, solche Aufmärsche zu verhindern? Vielleicht sollten mehr Busunternehmen und Transportwege der Nazis auch mit militanten Mitteln angegriffen werden.
* In der Linken wird anläßlich der Razzien und Festnahmen viel über die Politik der Revolutionären Zellen diskutiert. Habt Ihr oder was habt Ihr aus der Geschichte der RZ gelernt?
Antonio: Nun, ersteinmal möchte ich dazu sagen, dass die RZ/Rote Zora ein wichtiger Teil der Geschichte der militanten Linken waren und für viele z.Teil positiver Bezugspunkt auch ihrer eigenen Politik. Viele Aktionen und auch Erklärungen der RZ und noch viel mehr der Roten Zora fand ich sehr gut. Trotzdem habe ich Kritik, die ich aber immer als solidarische Kritik verstanden haben möchte. Nicht vergessen dürfen wir dabei aber auch oder gerade insbesondere, dass wir nicht von einer RZ sprechen können, sondern dass es sehr viel Gruppen gegeben hat, die zum Teil auch sehr verschieden zu unterschiedlichen Bereichen (als Beispiel sei hier der Internationalistische und Sozialrevolutionäre Flügel der RZ genannt) agiert haben und das über drei Jahrzehnte den 70ern, den 80ern und bis 1995.
Und wir haben auch aus ihren Fehlern gelernt. Es gibt schon einige Geschichten, die ich kritisiere oder ablehne. Dazu gehören die Erschießungen (Wirtschaftsminister Karry 81) oder Knieschußaktionen (wie gegen den Chef der Ausländerbehörde von Berlin Hollenberg 1986 und gegen den Asylrichter Korbmacher 1987) gegen politische Gegner. Wir befinden uns heute meiner Meinung nach in keiner politischen Situation, die eine Liquidierung unseres Gegners, einzelner Repräsentanten des Systems erfordert. Mir ist bewusst, dass ich mich damit klar im Widerspruch zur Politik der RAF befunden habe, obwohl viele heimliche Freude empfunden haben, als beispielsweise Herrhausen (Top-Manager der Deutschen Bank) 1989 erschossen worden ist.
Johnny: Das eine schließt das andere nicht aus. Ich habe mich mächtig über die Herrhausen-Aktion gefreut und denke trotzdem, dass Du Recht hast: Wir sind nicht in der Situation, Menschen zu erschießen.
Antonio: Für die Zukunft kann das jedoch grundsätzlich bei einer Verschärfung der gesellschaftlichen Verhältnisse (wie z.B. Diktatur oder Faschismus) nicht ausgeschlossen werden. Den Zeitpunkt, dieses Mittel anzuwenden und die Auswahl derer, die zu liquidieren sind, müssen jedoch genau, sehr genau diskutiert werden und das auf einer breiteren Ebene. Das kann und darf auf keinen Fall leichtfertig passieren – es gibt nichts wertvolleres als ein Menschenleben und wir werden den Widerspruch einerseits für das Leben, für die Veränderung des Bewußtseins der Menschen, gegen die Todesstrafe usw. einzutreten und andererseits die Notwendigkeit, einzelne bestimmte Menschen töten zu müssen um schlimmeres Leid zu verhindern nicht auflösen können.
Wer diesen Schritt dennoch wagt, sollte sich dessen immer bewusst sein und vorher genau überlegen, ob es nicht noch andere Mittel gibt, sein/ihr Ziel zu erreichen. Politischer Mord ist und sollte das letzte und unausweichliche Mittel sein, um weiteres Verbrechen zu verhindern, um weiteres Menschenleben zu retten.
Das mag jetzt alles ein wenig theoretisch klingen, ist es aber nicht anläßlich der Erfahrungen im Zusammenhang mit den Startbahnschüssen und dem Verfahren wegen des Tods von Gerhard Kaindl nicht ohne Bedeutung. Dazu kommen wir vielleicht noch.
Knieschußaktionen, die mich an Bestrafungsaktionen von IRA-Kommandos an „anti-sozialen“ Jugendlichen (joyriders) erinnert, lehne ich grundsätzlich sowohl aus politischen als auch aus menschlichen Erwägungen ab. Ich weiß nicht, was daran emanzipativ sein soll, jemanden mit vollem Bewusstsein und berechnetem Kalkül durch Knieschüsse für den Rest seines Lebens körperlich und gesundheitlich zu schädigen und zu beeinträchtigen. Und das in einer Gesellschaft, in der Behinderte tagtäglich diskriminiert werden.
Mir geht es nicht um persönliche Rache oder Genugtuung, ganz gleich wie rassistisch und menschenverachtend beispielsweise manche Asyl-Richter auch sein mögen. Mir geht es um die Veränderung in den Köpfen der Menschen und nicht darum, mich an dem Anblick rollstuhlfahrender Richter zu erfreuen. (Sowohl Hollenberg als auch Korbmacher erhielten Steckschüsse in die Waden, nur durch Zufall wurden die Kniescheiben nicht getroffen).
Die IRA hat dies in perfider Weise auf die Spitze getrieben. Um ganz sicher zu sein, dass die Opfer später nicht mehr laufen können, wurden die Kniescheiben gezielt sowohl von vorne als auch von hinten durchschossen. Erst die massive Kritik der katholischen Eltern der Kids an der IRA hat diese Praxis der Knieschüsse eingedämmt.
Außerdem sollten wir uns immer deutlich in unseren Methoden und Mitteln, die wir anwenden, deutlich von unseren Gegnern unterscheiden. Dazu gehört auch, sie nicht zu foltern oder zu verstümmeln. Und in den Medien wurde das negative Image von den kaltherzigen, skrupellosen und unmenschlichen RZ’s aufgebaut, dem auch nichts groß entgegengesetzt werden konnte. Wie auch? Was ist das Positive an einem Knieschuß? Leider hat die Linke damals diese Aktion viel zu wenig kritisiert und auseinandergenommen.
Johnny: Ich kann Deine Kritik nachvollziehen, aber die RZ haben das allerdings damals auch sehr genau begründet: Sie fanden es unangemessen, jemandem wie Korbmacher, der so viel Leid und Elend verantwortet, einfach nur das Auto abzufackeln. Wenn Du so über die Medien sprichst, gehst Du Ihnen auf den Leim: Du glaubst doch nicht ernsthaft, hätte es Karry, Hollenbach und Korbmacher nicht gegeben, dass die RZ dann wärmer, menschlicher rumgekommen wären? Ein Terrorist ist ein Terrorist ist ein Terrorist – jedenfalls in den herrschenden Medien. Was richtig ist, dass aus vielen Erklärungen der RAF und auch der Karry-Erklärung eine Kälte spricht, die für eine Linke, die eine warme, solidarische und gerechte Gesellschaft erkämpfen will, nicht okay ist.
II. RZ und Solidarität
Antonio: Aber auch heute noch existiert zum Teil in der Szene ein recht unkritisches Verhältnis zu diesen Aktionen, wie an dem Plakat „Jedes Herz ist eine Revolutionäre Zelle“, das ja auch das Interim-Titelblatt (Nr. 492) der Ausgabe vom 27.1.2000 ziert, zu erkennen ist. Da wird mal eben als positives Beispiel der RZ-Aktionen, die vielen Leuten aus dem Herzen gesprochen haben, die Bestrafung von Richtern aufgezählt – so als hätte es all die Diskussionen und Kritiken und Widersprüche zu dieser Aktion nicht gegeben. Auch der Zusatz weiter unten im Plakat stehend, „bei allen Differenzen“ kann darüber nicht hinwegtäuschen.
Und mal abgesehen von der zu hinterfragenden Benutzung des Begriffs der Bestrafung, der eher der Sprache und Logik der herrschenden Repressionsmethoden des Staates als unseren eigenen Vorstellungen entspricht und somit folgerichtig auch als repressiv und nicht emanzipativ wahrgenommen wird, ist dieses Plakat eher ein Rückfall in platte schwarz-weiß Symbolik revolutionärer Inhalte, das mich wieder an die 80er Jahre erinnert. Schade eigentlich!!! Und trotzdem hängt diese Plakat in fast jeder WG-Küche – bei uns übrigens auch.
Johnny: Einspruch, Euer Ehren – aber ganz massiv. Ein Plakat hat die Funktion, prinzipiell eine Aussage, einen Punkt, einen Umstand zugespitzt darzustellen. In diesem Fall war nach den Verhaftungen eine Situation, in der öffentlich praktisch nicht inhaltlich geredet wurde. An den WG- und Kneipentischen wurde getratscht und spekuliert, wen es wohl noch treffen könnte. Die Soligruppen haben praktische Untersützungsarbeit angeleiert, sich über den Bulleneinsatz beschwert oder über die tägliche Arbeit etwa von Harald im FFM geredet. Das ist alles gut und schön, aber es ist nicht über das eigentliche Thema des BAW-Überfalls geredet worden – die militante Praxis der RZ über viele Jahre. Ich habe dieses Plakat so aufgefaßt, dass es genau das thematisieren und in die Diskussion tragen sollte. „Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle“ meint doch, dass jeder und jede spüren kann, wie gesellschaftliche Unterdrückung und Ausgrenzung, die Unterteilung in Teilhaber der Macht und in solche, die nichts oder nur wenig haben, funktioniert. Jeder und jede, der oder die das fühlt, ist potentiell ein Revolutionär, eine Revolutionärin – wenn er oder sie sich nur auflehnt und kämpft. Und genau das haben die RZ gemeint und getan.
Ich habe mich ausgesprochen gefreut, dass es so ein Plakat gibt. Und vielen meiner Bekannten ging es ebenso. Das ist der Verdienst dieses Plakates: Es hat thematisiert, dass es mehr gibt, als nur legale antirassistische Arbeit zu machen und sich über einen Bulleneinsatz zu mokieren – nämlich aktiv Widerstand zu leisten.
Ich verstehe auch nicht, wieso Du bei anderen Leute davon ausgehst, dass sie nicht intensiv über ihre Sachen nachdenken. Wieso soll so ein Plakat „mal eben“ gemacht worden sein? Die werden darüber schon nachgedacht haben. Wieso soll da eine Formulierung „täuschen“ wollen? Diese ganze Kritik ist mir zu arrogant, wie auch der Vorwurf, das sei „ein Rückfall in platte schwarz-weiß Symbolik revolutionärer Inhalte, das wieder an die 80er Jahre erinnert“. Was heißt hier schwarz-weiß? Wieso soll ein positiv-kritischer Bezug auf die RZ schwarz-weiß sein? Mir scheint da ein anderes Problem mitzuschwingen: Viele Leute haben einfach keinen Bock mehr, sich mit unbequemen, militanten antagonistischen Entwürfen rumzuplagen. In der Interim Nr. 497 wird zum Beispiel in zwei Redebeiträgen darauf verwiesen. dass sich die RZ auch antizionistisch ausgerichtet hatten und das in dem Plakat bewusst unterschlagen wird. Als Beleg wird ein RZ-Zitat von 1975 angeführt. 1975! Vor der Entebbe-Entführung! Vor der Spaltung! Wer das macht, sucht doch ganz einfach nach einer Ausrede, warum er da keine klare Position zu beziehen will oder warum er die RZ ablehnen will.
Es ist doch bezeichnend, dass dieses Plakat das am meisten diskutierte Plakat seit Jahren ist – kein Debattenbeitrag ohne Rekurs auf das schöne Stück. Im übrigen verstehe ich nicht, warum Du ein Plakat aufhängst, von dem Du findest, dass es der „Logik der herrschenden Repressionsmethoden des Staates“ entspricht. Das würde ich nicht machen. Bei uns hängt das Plakat übrigens nicht.
Antonio: O.K., O.K., Vielleicht haben die Leute sich wirklich viel Gedanken über das Plakat gemacht. In diesem Fall nehme ich das „mal eben so“ zurück.
Und natürlich finde ich das gut, dass endlich mal ein paar Leute sich sehr deutlich mit der militanten Politik der RZ solidarisiert haben. Da gibt es doch gar keinen Widerspruch.
Meine Kritik geht doch eher in die Richtung einer etwas differenzierteren Darstellung der Geschichte der RZ, auch der Solidarität. Und mit platt meine ich eben z. B. auch die Aufmachung des Plakates, in dem sich auch etwas ausdrückt: Dieser Stern in der Mitte, von Rot umrandet und schwarz umgeben – na, wenn das nicht glorifizierend und heroisch rüberkommt. Und das mit der Logik der herrschenden Repressionsmethoden des Staates hast du mißverstanden. Das bezieht sich nicht generell auf das Plakat, sondern nur auf die Benutzung des Begriffes der Bestrafung. Ich will verändern, aufklären über die rassistischen Praktiken eines Richters z.B., auch verunsichern und deutlich machen, dass wir auch einzelne Personen aus ihrer Anonymität reißen und sie für ihre Politik verantwortlich machen. Um „Bestrafen“ im klassischen Sinne geht es mir dabei jedoch nicht. Und gerade auch die Sprache, die wir benutzen, ist nicht unwichtig – und es gibt eben viele Begriffe oder Wörter, die negativ besetzt und nicht wertneutral sind.
Karla: So Jungs, jetzt kommt mal wieder runter. Will sonst noch wer seine Küche beschreiben? Wollen wir jetzt die Achtziger Jahre verdammen oder hochjubeln? Die Auseinandersetzung an diesem Punkt ist mir unbegreifbar. Die Frage, ob wir etwas aus den Fehlern der RZ gelernt haben, beantwortet sich doch nicht im Verständnis von kritischer Solidarität.
Was ich aus dem Komplex RZ gelernt habe ist, dass man solch eine Praxis nur in einer ganz bestimmten Lebensphase leisten und leben kann. Damit meine ich nicht von 20 bis 30 oder von 50 bis 60. Ich sehe vielmehr, dass diese Phase viel mit den Menschen anstellt und deshalb auch wieder eine andere Phase kommen muß. Es liegt eindeutig die Tendenz der Verselbständigung in einer klandestinen Lebensweise. Wenn mensch einmal mit bestimmten Sachen angefangen hat, darfs darunter nicht mehr sein. Um die zu bremsen, muß irgendwann Schluß sein. Daraus schließe ich aber zugleich, dass ein Obergang, ein „Abwechseln“ organisiert werden muß, dass politische Erfahrungen, Strukturen und praktisches Wissen aufgebaut, aber auch weitergegeben werden müssen. Ich habe aber den Eindruck, dass die gute alte Kadererfahrung, nämlich, dass man Nachwuchs auch die Chance geben muß, etwas zu lernen von den Alten nicht wirklich berücksichtigt wurde. Nur dann kann man auch sauber Schluß machen und den Stab weiterreichen. Nur so entsteht Kontinuität der Basis bei Weiterentwicklung der Inhalte.
* Ihr habt das Thema Schußwaffen angesprochen. Die RZ haben aber auch sonst auf einem technisch hohem Niveau agiert Wie beurteilt ihr ihre sonstige Praxis jenseits der Schüsse?
Antonio: Auch die Anwendung von Sprengstoff und komplizierteren Brandsätzen, die eher zum SpezialistInnentum neigt, als das es zu massenweiser Nachahmung anregt, ist hinterfragenswert und diskutierbar. Ich will damit sagen, dass mein Ziel ist, natürlich mehr zu werden und das gelingt auch nur dann umso besser, wenn die von mir angewandten Mittel auch von anderen ohne größere Probleme angewandt und benutzt werden können. Das ist bei der RZ oft nicht der Fall gewesen, denn wo zum Teufel soll ich mal eben so schnell Sprengstoff beispielweise herbekommen? Es geht also hier konkret um die Frage der Hierarchisierung der Mittel und inwieweit dies beiden RZ’s verinnerlicht war. (v.a. in der zweiten Hälfte der 80er und Anfang der 90er) Die Praxis vieler militanter Kleingruppen heutzutage mit sehr einfach nachzubauenden Schuhkartons (mit Benzinflaschen, Joghurt-Bechern, den Kohleanzündern usw.) motiviert und regt andere auch viel mehr an, da selbst mit einzusteigen.
Alle Materialien z.B. dieses Schuhkarton- oder Benzinflaschen-Brandsatz, der problemlos unter Autos beispielsweise gelegt werden kann, können in normalen Geschäften gekauft werden (Aber Vorsicht: achtet auf Kameras und kauft immer woanders ein – und keine Prints). Die Anleitungen können einfach verstanden werden. Hier kann die Vermassung militanter Praxis Wirklichkeit werden.
Das soll grundsätzlich kein Abgesang sein, auf jeglichem höheren Niveau zu agieren – die Frage ist doch, was ist mein Ziel? Wo fängt Avantgarde Politik an? Will ich wirklich, dass viele auch so wie ich agieren und wie kann ich das erreichen? Was ist die Strategie meiner/unserer militanten Praxis und Politik?
Giovanni: Das läßt sich so einfach nicht sagen. Die RZ waren viel zu heterogen in Zielsetzung, ideologischem Hintergrund, auch in der Sprache ihrer Erklärungen, die ja immer wieder ne Menge über die VerfasserInnen aussagen, um von „der“ RZ zu sprechen.
Aber angesichts des Desasters der Aussagen von Tarek Mousli, deren genauer Inhalt und die Tragweite seines Verrates noch nicht bekannt und abzuschätzen sind, sollte mensch sich die RZ noch einmal genauer anschauen. Für viele von uns, die wir und der undogmatischen autonomem Linken zurechnen sind, hatten die RZ schon so etwas wie eine Orientierungsfunktion. Dies gilt v.a. für den sich auf soziale Bewegungen beziehenden Teil dieser Gruppen. Orientierung insofern, dass wir eine große Bedeutung gerade auf die Verankerung unserer Politik in einer sozialen Bewegung legen. Da sind wir aber natürlich auch schon bei unserem großen Problem. Soziale Bewegungen existieren kaum und auch das permanente Hochhalten des Widerstandes gegen Castor-Transporte läßt sich keine große, soziale Bewegung herbeireden. Es existiert aber zumindest eine gesellschaftliche Konstellation, in der es eine Offenheit gibt, das Gewaltmonopol des Staates faktisch in Frage zu stellen und sich nicht notwendigerweise von jeder nicht-legalen Aktion zu distanzieren. Aber auch da dürfen wir uns nichts vormachen. Im Falle eines Falles, werden wir erstmal relativ alleine dastehen.
Johnny: Der große Verdienst der RZ ist die Etablierung einer militanten Ebene jenseits der Illegalität, wie sie die RAF propagiert hat – eines Modells, das für viele Leute attraktiv war und ist, die aus welchen Gründen auch immer nicht in den Untergrund gehen wollten. Die RZ haben über 20 Jahre eine politische und technische Praxis entwickelt, die für viele Vorbild und Orientierung war. Sie haben nicht nur wie die meisten autonomen Gruppen einen Anschlag gemacht und dann einen Absatz dazu veröffentlicht, sondern sich in längeren Erklärungen intensiv mit einem Thema auseinandergesetzt. Zu Themen wie Friedensbewegung, Startbahn oder Antiamerikanismus sind lange Papiere veröffentlicht worden, die sich mit dem Zusammenspiel von reformistischen und revolutionären Bewegungen beschäftigt haben. Das war natürlich nicht alles richtig, aber immerhin eine Form von politischer Qualität und Auseinandersetzung, wie ich sie mir vorstelle.
Es ist natürlich billig, ein bißchen auf Korbmacher, Karry und dem Sprengstoff rumzuhacken und dann zu sagen: Das war aber kacke. Die RZ stehen auch für veröffentlichte Zeitungen, Bücher und Sabotageaktionen wie dem Aufsteigenlassen von Aluminiumstreifen an Heliumballons an der Startbahn, dem massenhaften Nachdrucken von Fahrscheinen, dem Abfackeln von Schwarzfahrer- und Asylkarteien, dem Abfackeln von Autos von Anwälten, die Vergewaltiger verteidigen usw. usf. Ich möchte erstmal die autonomen Strukturen sehen, die in der Lage sind, so intensiv so lange zu Themen zu arbeiten. Oder ich erinnere nur an die abgefackelten Kaisers-Märkte, womit die RZ Kaisers gezwungen haben, auf den Bau eines Supermarkt auf dem Gelände des ehemaligen KZ Ravensbrück zu verzichten – für mich eine der besten militanten Interventionen der 90er Jahre.
Ich würde es mir wünschen, dass es Strukturen gäbe, die in der Lage wären, Fahrscheine zu fälschen und zu verteilen, die illegal mehrere Tausend Bücher mit Bauanleitungen und inhaltlicher Debatte finanzieren, drucken und vertreiben könnten, die in der Lage wären, in Behörden einzubrechen und Karteien zu klauen.
Es ist richtig und wichtig, an den RZ viel zu kritisieren. Aber wenn dies ohne eine differenzierte Position geschieht, die eben dieser Vielfältigkeit gerecht wird, dann finde ich das nicht okay. Viele Aktionen waren einfach richtig klasse.
III. Militante Avantgarde?
* Die RZ und die Rote Zora haben, rückblickend betrachtet praktisch als erste Themen wie Antirassismus und Gentechnologie angepackt. Liegt darin für Euch ein Anknüpfungspunkt? Wie avantgardistisch darf, soll oder muß militante Politik sein?
Giovanni: Die RZ waren sicherlich einer der Ersten, die erkannt haben, welche Brisanz gerade in den Flucht- und Migrationsbewegungen und den damit verbundenen staatlichen Abwehrversuchen liegt. Mit Ausnahme von vielleicht Anti-Castor/AKW-Geschichen gibt es kaum einen Bereich, in dem so viel und vielfältig gearbeitet und gekämpft wird. Aber auch hier befinden wir uns in einem permanenten Abwehrkampf gegenüber den staatlichen Macht- und Vernichtungsinteressen.
In einem solchen Abwehr- und Verhinderungskampf wird es immer schwerer, die eigenen Positionen und Forderungen, die der Flüchtlinge, und ihre Verbindungen zueinander aufzuzeigen. In den letzten Jahren ist der Staat in fast allen Bereichen mit seinen Verschärfungen durchgekommen.
An militantem Widerstand ist zwar einiges passiert, aber immer häufiger werden die staatlichen Entscheidungsträger bei diesen Aktionen ausgenommen. Immer öfter werden symbolische Aktionen gegen Nutznießer dieser Politik durchgeführt. Nicht, dass es falsch wäre, z. B. das DRK für seine schweinische Rolle beim Unterhalten der Wohnheime verantwortlich zu machen, aber es gibt v.a. auch die staatlich Verantwortlichen in den Bezirksämtern und Regierungsgebäuden. Aber gerade diese scheinen uns immer unantastbarer, immer unangreifbarer.
Antonio: Nun ja, ich denke die Flüchtlingskampagne der RZ kam mindestens 10 Jahre zu früh. Folgerichtig hat sich eine RZ (aus NRW) aufgelöst, weil sie erkannt hat, dass es keine breite gesellschaftliche und/oder linksradikale Bewegung gegeben hat. Ihre Aktionen waren wenig eingebettet. Das Ziel der Vermassung konnte nicht erreicht werden. Das gilt für Berlin meiner Meinung nach auch, auch wenn hier mehr dazu gelaufen ist.
Ich wage überhaupt zu bezweifeln, ob es möglich ist, allein durch militante Aktionen, eine Bewegung, gesellschaftliche Prozesse und Bewußtseinveränderung anzukicken und anzustoßen, sofern keine Basis vorhanden ist. Ich denke, solche Vorhaben sind zum Scheitern verurteilt. Auch der Versuch des Komitees 1995, den Abschiebeknast in die Luft zu jagen, hatte schließlich keine Basis, keine soziale Bewegung, aus der heraus sich agieren ließe, auch wenn ihr Versuch, wenn er denn gelungen wäre, keinesfalls nur eine symbolische Aktion dargestellt hätte. Vielen Flüchtlingen hätte dies vielleicht vorübergehend Abschiebeknast ersparen können, obwohl dies auch ein wenig spekulativ ist.
Erst heute oder seit wenigen Jahren ist Antirassismus ausgelöst durch die Pogrome in Hoyerswerda 1991 und Rostock 1992, der faktischen Abschaffung des Asylrechts durch die Drittstaatenregelung (Änderung des §16 des Grundgesetzes), und der ständigen Verschärfung ausländerrechtlichen Bestimmung wie Einführung von Chipkarten etc. und dem Anblick abgebrannter Flüchtlingsunterkünfte ein breiteres Thema innerhalb der linksradikalen Bewegung geworden.
Die letzten beiden Jahre gab es Grenzcamps mit mehreren hundert Personen, 1998 eine „Kein Mensch ist Illegal“-Karawane, mit großer Beteiligung von Flüchtlingen die durch etliche Städte zog, Demos in den letzen Jahren vor Abschiebeknästen in Büren, Grünau und anderswo, um nur einige Aktivitäten aufzuzählen. Desweiteren existieren eine Menge andere Gruppen, Kirchen, und Gewerkschaften die zu diesem Thema arbeiten.
Karla: Zu früh? Wieso? Gerade das frühe Erkennen von Themen, oder wie ich es viel lieber sagen möchte: der Kampf gegen die Anfänge ist eine unschätzbare Leistung. Stell Dir mal vor wir sagen heute Nazis sind nicht überall, Rassisten aber schon (was ja auch stimmt). Und daraus schließen wir, dass der Kampf gegen Nazis und ich meine Kampf! nicht vordringlich ist. Schließe ich dann weiter, dass wir Nazis erst wirklich angreifen, wenn sie die Übermacht sind? Wenn ihre Infrastruktur so steht, dass sie unsere Angriffe gar nicht erschüttern? Ich plädiere zwar die ganze Zeit dafür, dass die Militanz alleine nicht viel bewirkt, aber eine Sache aufzugreifen heißt ja gerade mehr als Militanz. Heißt Strukturen sichtbar zu machen und sie zu thematisieren zum Bleistift.
Es geht uns doch darum, dann aktiv zu werden, wenn wir das Problem sehen. Wenn andere es nicht sehen. Wir müssen vielmehr in eine solche Richtung diskutieren.
IV. Strukturen und Funktionalität
* Der Verrat des Autonomen Tarek Mousli hat eine alte Debatte über tragfähige Gruppenstrukturen wiederangeheizt. Wie sozial müssen militante Strukturen sein?
Giovanni: Es ist wichtig, unser eigenes Umfeld, unsere sozialen (wenn sie es denn eben sind) Strukturen im Kopf zu haben. Und das ist vielleicht auch eine Lehre aus der Geschichte der RZ, bzw. aktuell aus den Aussagen Tareks. Wir können uns nicht vorstellen, wie Tarek drauf ist, wenn er heute FreundInnen, frühere GenossInnen ans Messer liefert, (und das mit allen Lügen und Konstrukten, die sich sein Hirn ausmalen kann). Wir können uns aber auch nicht vorstellen, wie er drauf war und wie es eine solche Entwicklung vom treuen Genossen zum Verräter geben konnte. Aber wenn wir die Texte und öffentlichen Erklärungen und Auseinandersetzungen der RZ durchlesen, wird uns immer wieder klar, wie hart, funktional und kalt das „Klima“ teilweise gewesen sein muß. Vieles in den Texten ist sicherlich nicht Ausdruck von Vertrauen und Nähe. Gerade aber dies, dass heißt den vertrauens- und liebevollen Umgang miteinander ist eine der Basen, auf denen militante Gruppen agieren sollten. Ich denke, nur die Offenheit auch für zwischenmenschliche Prozesse kann solche Entwicklungen verhindern. Das soll nicht heißen, dass mensch sich nur noch um den eigenen Bauchnabel dreht, aber wenn wir es nicht schaffen, fern vom Funktionieren unsere Ängste und Verzweiflungen zu thematisieren, werden wir immer wieder vor solchen Situationen stehen.
Antonio: Ergänzen möchte ich an dieser Stelle, dass dieser harte funktionale, wenig vertrauensund liebevolle Umgang etwas ist, dass in allen möglichen öffentlichen und halböffentlichen Politgruppen innerhalb der Szene immer wieder zu beobachten ist. Ohne jetzt im Einzelnen konkreter darauf einzugehen – denn das geht an dieser Stelle ja schließlich nicht – kann ich dies leider auch aus eigener bitterer Erfahrung nur bestätigen. Und das in allen Facetten: Entweder bist du nur als Funktion wahrgenommen worden oder funktional für eine Aufgabe, die sich andere, die unglaublich überheblich und arrogant sind, für dich ausgedacht haben, zugeteilt worden. Als Mensch mit all seinen Schwächen und Problemen, mit seinem Kummer und Verzweiflungen, ob das nun der Streit zu Hause in der WG ist oder mit deinen Eltern oder du gerade Superstress mit deiner/deinem Liebsten hast oder sonstwas, bist du nicht gesehen und wahrgenommen worden.
Ganz oft läuft das ja eher sehr subtil ab, dass du das in dem Moment gar nicht bemerkst, dir das erst hinterher bewusst wird. Wenn ich da jetzt rückblickend drüber nachdenke, erschrecke ich manchmal selbst auch über mich. Da arbeitest du 2 oder 3 Jahre mit Leuten in einer Politgruppe zusammen, und wenn Einzelne dir heute begegnen, wirst du von denen noch nicht einmal begrüßt, und das ohne dass es einen größeren Streit gegeben hätte.
Da fragst du dich schon manchmal, was das eigentlich so alles wahr. Das betrifft auch den Umgangston und die Streitkultur untereinander. Da wird aufeinander rumgehackt, unter der Gürtellinie polemisiert und ausgeteilt – da kann einem/r schon des öfteren gruselig werden.
Aktuellstes Beispiel ist für mich der Kosovo-Krieg 1999 gewesen, wo im Zusammenschluß vieler, die etwas gegen den Krieg machen wollten, Einzelne andere Personen wegen deren Kritik am serbischen Nationalismus, an der Politik der jugoslawischen Regierung und Milosevic aufs Übelste beschimpft haben, des Verrates beschuldigten und behaupteten, nur der billigen Bild-Zeitungspropaganda aufgesessen zu sein. Natürlich verbergen sich da handfeste politische Konflikte und unterschiedliche Heransgehensweisen dahinter – doch kann dies kein Grund sein, die Ebene der solidarischen Kritik zu verlassen und die anderen niederzumachen. Das geschieht nicht nur durch Beiträge an sich, sondern auch und gerade durch die Art, wie sie vorgetragen werden; wie oft und wie laut Einzelne sich durchsetzen und wie sie reden. Da haben sich dann viele gar nicht mehr getraut, überhaupt etwas zu sagen.
Aber davon kann ja jede und jeder ein Lied singen, von den informellen Macht- und Redestrukturen in den ach so „tollen“ politischen Zusammmenhängen der autonomen und revolutionären Linken.
Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, das sich auf klandestine Strukturen bezieht, du machst ein Fehler und daraufhin wird der Kontakt mit dir abgebrochen oder du wirst ausgeschlossen, dir wird mißtraut, ohne dir zu erklären warum, ohne sich die Mühe der Vermittlung zu gehen. Und das obwohl du die Leute kennst, vielleicht seit Jahren, und sie auch noch ständig siehst, mit ihnen auf anderer Ebene auch noch was zu tun hast.
Es wird nicht diskutiert und Fehler gemeinsam analysiert und aufgearbeitet, es wird mitgeteilt, ausgeschlossen, funktional entschieden, ohne dass du Teil dieses Prozesses wärst. Auf solche Strukturen kann ich gerne verzichten.
Das traurige ist, dass ich mich selbst z.T. darin bewegt habe und es oft nicht fertig gebracht habe, das, was mich störte, zu thematisieren. Manches bis heute nicht.
Der soziale Gehalt, die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb von Gruppen sind das, was wir oft vernachlässigen, aber eigentlich die Basis gegenseitigen Vertrauens und die Grundvoraussetzung gemeinsamer militanter Praxis.
Johnny: Prinzipiell ist das Pochen auf soziale Wärme, auf ein Netz, was gegenseitig tragfähig ist, völlig richtig. Das ist unverzichtbar. Politische, vor allem illegale Strukturen sind allerdings weder ein Freizeittreff für Topfschlagen mit Händchenhalten noch eine rein funktionale Kaderschmiede. Für mich ist eine ausgewogene Mischung aus persönlichem Vertrauen und persönlicher Nähe genauso wichtig, wie eine klare politische Bestimmung. Ein politisches, sogar militantes Projekt funktioniert meiner Meinung nach nur, wenn es ein Einverständnis darüber gibt, was mensch politisch erreichen will und welche Rolle der Einzelne, die Einzelne darin spielt. Und wenn es mehr als drei Leute sein sollen, ist eine Struktur und Logistik unverzichtbar. Gerade in einem illegalen Projekt muß klar und deutlich sein, wer/welche was kann und bereit ist zu machen. Erst in einer klaren Arbeitsstruktur wird deutlich, was geht und was nicht. Nur so ist ein Weiterentwickeln möglich. Es geht also darum, den schmalen Grat zwischen organisierter, politischer Effizienz und persönlichen, sozialen Vertrauen zu finden.
Merkwürdigerweise sind es oft die größten Gegner von klaren Strukturen, die vehementesten Kritiker von eindeutiger politischer Bestimmung, die in ihrer WG oder ihrem Umfeld völlig blind an Genoss/innen vorbeirennen oder drübertrampeln, wenn es denen schlecht geht. Da fallen mir so einige Oberautonome ein, die sich wirklich nicht mit Sensibilität bekleckern... Insofern reagiere ich etwas empfindlich darauf, wenn den RZ jetzt so gerne vorgeworfen wird, sie seien so kalt. Die Autonomen propagieren seit 10 Jahren sehr wortreich, wie warm und sozial Strukturen sein müssen und wie böse Organisierung ist. Gleichzeitig ändert sich in genau den gleichen Gruppen, die das propagieren, wenig bis nichts. Und regelmäßig, wenn es zu Repression kommt, wird darüber wieder geklagt. Eine solche Debatte finde ich nur dann gewinnbringend, wenn sie nicht einseitig und schwarz-weiß geführt wird. sondern rauszuarbeiten versucht, wieviel Soziales und wieviel Strukturelles eine Gruppe braucht. Sonst ist sie, Stichwort ungeschriebener Autonomen-Knigge, nur eine Selbstversicherung, wie gut mensch selbst doch ist. Ich wüsste gerne, ob jemand von denen, die jetzt ganz genau wissen, wie hart die RZ, wie falsch der Einsatz von Sprengstoff war, das auch bei der Roten Zora kritisieren. Da höre ich immer nur positive Stimmen, obwohl die Organisationsstruktur gleich der der RZ war, es gemeinsame Aktionen gab und auch die Rote Zora mit Sprengstoff gearbeitet hat. Eine Gruppe ist doch nicht besser, wenn sie aus Lesben mit jüdischen Vorfahren besteht, sondern sollte nach ihrer Struktur, ihrer politischen Praxis und ihren Äußerungen beurteilt werden. Da sind die Maßstäbe nicht immer gleich.
Im übrigen ist für mich ein sensibler persönlicher Umgang selbstverständlich, das betrifft nicht nur illegale Projekte. Ich weiß ja nicht, mit wem ihr so abhängt, aber bislang grüße ich noch alle Leute, mit denen ich mal was gemacht habe.
Liliane: Alle militanten Gruppen haben ein Problem, das sich nicht so leicht überwinden bzw. verändern läßt, das betrifft auch die Rote Zora: du organisierst im Geheimen, führst ein Doppelleben, darfst dir den Streß nicht anmerken lassen oder erfindest Ausreden und Lügen. Anerkennung holst du Dir im günstigstenfalls über die Medien.
In zugespitzten Situationen, wie kurz vor einer Aktion oder in Repressionsphasen wirst Du hart, funktional, dein Toleranzpegel anderen gegenüber sinkt. Und wenn du so abgespalten über Jahre lebst, in dich verkapselt, meistens siehst du deine MitaktivistInnen nicht so häufig, dann können Persönlichkeitsveränderungen eintreten, die alles andere als emanzipativ sind. Ich behaupte, dass Menschen die über längere Zeit militant aktiv waren, am ehesten eine Phase notwendig haben, wo sie wieder als ganzheitliche soziale Menschen Emanzipation erlernen müssen. Zumindest solltest Du dir als Militante/r bewusst sein, dass du vom „besseren Menschen, mit all seinen Widersprüchen oft entfernter bist als andere Szenemenschen (bei aller berechtigter Kritik gegenüber Szeneverhalten). Den Gedankengang zuende geführt, heißt es für mich, im Kampf permanent gegen etwas zu sein, macht mich langsam zur anderen Seite der Medaille. Deswegen hat es für mich auch eine systemimmanente Logik wenn bewaffnete/militante Gruppen mit Geheimdiensten zusammenarbeiten oder ihre vermeintlichen Verräter wie es Gerd Albartus gewesen sein soll, hinrichten. Sprich: du solltest immer eingebettet sein – sei es eine Bewegung oder wenigstens in eine menschliche, emanzipative Utopie, die nicht nur dem platten Kommunismus-Modell oder dem romantisierenden anarchistischen Ideal entspricht.
* Alle Utopien, die ihr formuliert, sind durch den Verrat von Tarek Mousli auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden.
Liliane: Finde ich nicht, auf welche Tatsachen denn? Tarek versucht, sich mit Hirngespinsten freizukämpfen. Wir werden sehen, wie weit die BAW damit kommt. Was mit Tareks Aussagen völlig in den Hintergrund tritt, ist die Tatsache, dass es auf der militanten (nicht bewaffneten) Ebene bisher kaum Verrat oder ähnliches gab – das Kaindl-Verfahren mal außen vor gelassen.
Antonio: Tareks Aussagen sind bitter, sehr bitter. Die, die ihn damals anvertraut haben, werden sich jetzt wohl Vorwürfe machen – wie konnte das passieren. Ich weiß es auch nicht.
Interessieren würde mich jedoch, wie es passieren kann, dass Leute, die jahrelang in der Szene aktiv waren, plötzlich oder weniger plötzlich aufhören, Politik zu machen und warum löst sich das ganze soziale Umfeld auf und verändert sich? Was ist unser Anteil daran? Wo sind Brüche entstanden und warum? Am Alter kann es meiner Meinung nach jedenfalls nicht gelegen haben.
Viele der möglichen Gründe haben wir ja schon aufgezählt – Funktionalität, menschliche Kälte, Oberflächlichkeit usw. wahrscheinlich hat eine Vielzahl von Faktoren und noch viel mehr im Zusammenspiel dazu geführt, dass Tarek soviel redet und Leute in den Knast befördert. Ich habe im Moment mehr Fragen als Antworten. Ich kann nur wiederholen, was bereits schon hundert mal gesagt worden ist. Leute, laßt euch Zeit, überstürzt nichts, diskutiert über alles, laßt Ängste und Zweifel zu. Die, die scheinbar immer alles klar haben, überspielen damit vielleicht nur ihre Ängste und lassen nichts unter ihre Oberfläche. Und die, die vielleicht oft am zweifeln und grübeln sind, sind innerlich vielleicht viel mehr überzeugt und gefestigt, weil sie sich eben nicht nur oberflächlich mit vielen Sachen auseinander setzen. Laßt euch auf jeden Fall Zeit, diskutiert lieber einmal zu viel, als zu wenig. Ein Patentrezept gibt es nicht – aber achtet aufeinander, auch auf Spannungen und Probleme innerhalb der Gruppe..
Und geht allen Sachen auf den Grund, warum machen Leute was, was ist ihre Motivation? Was ist eure persönliche Motivation, oder verschafft ihr euch dadurch Anerkennung und Bestätigung? Könnt ihr wirklich die Folgen der Repression abschätzen? Seid ihr wirklich bereit, 10, 15 oder mehr Jahre in den Knast zu gehen?
Johnny: Tarek ist ein Sonderfall, ich kenne nur ganz wenige vergleichbare Werdegänge. Er hat in den 80er Jahren eine Entwicklung durchgemacht, die viel zu schnell viel zu tief ging. Er hat einfach mit Anfang, Mitte 20 nach wenigen Jahren Praxis total viel mitgekriegt. Zumindest Ansätze, aus denen er jetzt Sachen bastelt. Zu einem Zeitpunkt, zu dem andere eigentlich entweder entschieden haben, nicht mehr die Seiten zu wechseln oder aber schon abgesprungen sind, hat sich Tarek dann innerhalb weniger Jahre von der Szene verabschiedet und hat sein Leben drastisch geändert – Anfang, Mitte der 90er. Da war er schon in den 30ern. Das ist ungewöhnlich. Für Tarek haben offenbar schon Statussymbole wie Geld und repräsentative Frauen einen wichtigen Stellenwert gehabt. Das hat sich in den letzten Jahren verschärft. Ich weiß natürlich auch kein Patentrezept, aber die Dinge langsamer angehen, genauer nach den Motiven zu gucken, Ziele und Inhalte zu diskutieren und darauf zu achten, dass Leute nur das machen, was sie auch vertreten könne, scheint mir schon richtig.
Antonio: Ich verstehe nicht, was „Statussymbole wie Geld und repräsentative Frauen“ mit seinen Aussagen und Belastungen zu tun haben. Wo ist da der Zusammenhang? Das darauf zu reduzieren oder das gar als Grund zu sehen ist doch politisch fatal. Ich finde, wir sollten solche vereinfachten Erklärungsmuster für seine Aussageberreitschaft zurückweisen. Die Problematik ist viel komplexer und vielschichtiger. Ich kann mich da nur der Meinung der Autonomem L.U.P.U.S.-Gruppe aus Frankfurt/Main (siehe auch Jungle World vom 1.März 2000, Nr. 10) anschließen. Wer sich mit Tareks Aussagen beschäftigt und nach den Gründen fragt, sollte sich auch mit den Strukturen, sowie mit dem politischen Hintergrund, in dem er sich bewegte, beschäftigen.
V. Die Spaltung im Jahr 1976
* Kommen wir noch mal zu den Revolutionären Zellen, um die es der Bundesanwaltschaft momentan geht. Für die RZ war 1976 die Flugzeug-Entführung in Entebbe ein Einschnitt. Mit Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse sind zwei RZ-Mitglieder erschossen worden. Danach hat sich die Organisation gespalten und Entebbe hat auch bei der Auflösungsdebatte 1992 eine wichtige Rolle gespielt. Spielt das in Euren Diskussionen eine Rolle?
Johnny: Für mich ist das ganz, ganz weit weg und sehr schwer nachvollziehbar. Bei dem ganzen Komplex laufen mir bis heute Schauer über den Rücken.
Giovanni: Wir können aus der Spaltung der RZ nach Entebbe ’76 einiges in Bezug auf unseren Umgang mit nationalen Befreiungsbewegungen lernen. Flugzeugentführungen an sich sind für uns keine Aktionen, die von Linken durchgeführt werden sollten. Indem eine zufällig in einem Flugzeug sitzende Gruppe von Menschen als Geiseln genommen wird, negierst du grundlegende Kriterien revolutionärer Politik. Es spielt dann keine Rolle, welche konkrete Verantwortlichkeit für zu bekämpfende gesellschaftliche Prozesse diese Menschen haben. Nur das Vorhaben, von einem Ort zu einem anderen zu fliegen, macht sie zu Zielen einer Aktion. Grundsätzlich ist das Leben und die Gesundheit von Unbeteiligten zu schonen, ein nicht auflösbarer Widerspruch zu diesen Aktionen. Eine RZ erklärte dazu: „Statt in einer grundlegenden Debatte Logik, Ablauf und Resultat der Aktion (gemeint ist Entebbe) einer schonungslosen Analyse zu unterziehen und daraus Schlußfolgerungen für unsere weitere Praxis zu ziehen, gaben wir uns mit halbherziger Kritik zufrieden. Die naheliegende Konsequenz, wieder an dem anzuknüpfen, wofür unsere Politik in der BRD stand, nämlich die Orientierung auf den sozialen und politischen Bewegungen im Lande, zogen nur einige.“
Im gleichen Text wird sicherlich viel zu spät, Kritik an der unbedingten Solidarität mit den Befreiungsbewegungen geäußert, unter anderem deshalb, weil es wie so oft die Männer waren, die alle neuen Schaltstellen der Macht besetzt und damit letztlich das Patriarchat zementiert haben.
Antonio: Zu Entebbe und dem Verhältnis zu nationalen Befreiungsbewegungen, insbesondere zu dem palästinensischen Befreiungskampf ist das Papier einer RZ „Gerd Albartus ist tot“ von Dezember 1991 sehr aufschlussreich. Giovanni hat dazu schon einiges gesagt. Hinzufügen ließe sich, dass es u.a. sehr deutlich die mangelnde Auseinandersetzung mit Antisemitismus innerhalb der Linken, insbesondere der bewaffneten Gruppen aufzeigt.
Der Widerspruch, dass Israel einerseits verantwortlich ist für Vertreibung, Ermordung, Massaker (Shatila und Schabra 1982) an den PalästinenserInnen, für ihre aggressive Siedlungspolitik, ihre Funktion im Gefüge des Imperialismus im Nahen Osten, ihre Zusammenarbeit mit diktatorischen Regimes, insbesondere Südafrika während der Apartheid-Zeit und andererseits die Tatsache, dass Israel zugleich Zufluchtsort der Überlebenden der Shoa ist und somit uns wieder mit der eigenen deutschen Geschichte konfrontiert, ist jahrelang ausgeblendet und kaum thematisiert worden.
Zwar stimme ich zu, wie eine RZ in ihrem Papier von Mai 1992 („Wir müssen so radikal sein, wie die Wirklichkeit“) schreibt: „Eine Lösung kann nur eine Revolution herbeiführen, die allen Menschen eine gleichwertige Existenz erkämpft“, zumal ich als Anarchist jegliche Form von Staaten, Nationalstaaten negiere und bekämpfe, weil sie nur wieder neuer Formen der Macht und Herrschaft produziert, doch ist, um bei dem Beispiel des palästinensischen Befreiungskampf zu bleiben, eben jenes Ziel, die Revolution, was das immer auch sein mag, von dem Bestreben eben jener palästinensischen Befreiungsorganisationen, einen eigenen Staat zu schaffen, ebenso von der Realität eingeholt worden, wie die Tatsache, dass ein gewisser Teil der palästinensischen Bevölkerung das Existenzrecht Israel anerkennt, wenn auch nicht in dieser Form und dieser geographischen Ausdehnung und des weiteren Lösungen oft nicht so einfach und schwarzweiß zu erreichen sind, wie wir uns das hier in den Metropolen oft vorstellen.
Vergessen sollten wir außerdem nicht, dass es auch innerhalb der Linken in der BRD ein unreflektiertes, vereinfachtes Klischee-Bild des Gesamtkonfliktes existierte. Noch gegen Ende der 80er Jahre hing in der Hafenstraße in Hamburg ein Wandbild, mit der Aufforderung, israelische Waren und Produkte nicht zu kaufen und Strände und Kibbuze zu boykottieren.
Grundsätzlich sehe ich jedoch kein Widerspruch zwischen internationalistischer und sozial bewegter Orientierung militanter Politik und Praxis. Das kann sich beides doch ergänzen und muß nicht im Widerspruch zueinander stehen. Ich halte es für wichtig und notwendig, sich mit Befreiungsbewegungen, sozialen Aufständen und Revolten, politischen Kämpfen, Streiks und allem, was progressiv und emanzipativ in der Welt ist, zu beschäftigen und sich gegebenenfalls zu solidarisieren, zu vernetzen und zusammenzuarbeiten. Auch wenn wir unterschiedlichen Bedingungen unterliegen, gibt es viele Gemeinsamkeiten und manchmal auch gemeinsame Ziele und Vorstellungen und Utopien einer neu zu schaffenden, befreiten Gesellschaft.
Ein ausgezeichnetes Beispiel für internationale Solidarität waren die Aktionen der Roten Zora im Juni und August 1987. Sie griffen mehrere Filialen und die Hauptverwaltung der deutschen Adler Bekleidungsindustrie GmbH an, die über die Textilfabrik Flair Fashion in Südkorea produzieren ließ. Dort streikten die Arbeiterinnen gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Diese Aktion der Roten Zora fand zu einem Zeitpunkt statt, an dem bereits eine breite Öffentlichkeit zu diesen Kämpfen hergestellt war. In vielen Ländern des Trikont wurden die Aktionen der Roten Zora begeistert aufgenommen und als Ausdruck für eine internationale Frauensolidarität begriffen.
Und die Aktionen der Roten Zora waren nicht ohne Ergebnis. Einige der Roten Zoras schreiben dazu (aus ihrem Papier „mili’'s Tanz auf dem Eis“ von Dezember 1993): „Der materielle Erfolg lag in der Durchsetzung der Forderungen der Flair-Fashion-Arbeiterinnen. Der politische Erfolg bestand/ besteht in der Erfahrung der eigenen Kraft, Forderungen durchzusetzen. Der materielle Erfolg kann die Ausgangsbasis für weitere Kämpfe verbessern, er kann aber auch von der Gegenseite zurückgenommen werden. Was bleibt, ist die Erfahrung, dass wir in gemeinsamen Kämpfen Stärke entwickeln können, an der die herrschende Macht Grenzen findet.“
Johnny: Diese Aktionen der Roten Zora fand ich auch prima. Aber es war ja auch so, dass sie bundesweit organisiert auf hohem technischen Niveau mit Zeitzünder und einer chemischen Mischung stattfanden und damit auch den so kritisierten Avantgarde-Charakter hatten...
Ich bin an der Frage des Internationalismus etwas zurückhaltender geworden. In den 70er und 80er Jahren gab es eine weltweite Aufbruch-Stimmung, die sich wesentlich an zwei Linien orientiert hat: Der Solidarität mit den PalästinenserInnen und der Solidarität mit den sozialistischen Befreiungsbewegungen in Lateinamerika. Ein intensiverer Bezug auf Vietnam, China etc. hatte sich schnell durch den orthodoxen Staatssozialismus erledigt. Heute gibt es diese Fixpunkte so nicht mehr. In Palästina ist eine historisch ganz neue Situation eingetreten, die für die Palästinenser sicherlich erstmal ein Fortschritt ist. Und in Lateinamerika sind fast alle Hoffnungsprojekte nur begrenzt weitergekommen. De facto sind die Militärdiktaturen von bürgerlichen Demokratien abgelöst worden.
VI. Perspektiven des Internationalismus
* Was heißt das in puncto Internationalismus für heute?
Johnny: Für mich ist eine Reaktion auf die historischen Umbrüche, mich zwar solidarisch auf verschiedene Kämpfe weltweit zu beziehen, das aber mit viel mehr Distanz zu betrachten. Mit dem palästinensischen Autonomiegebiet verbindet mich heute beispielsweise kaum noch was. Ich versuche, Verantwortung für meine eigene Praxis da zu übernehmen, wo ich lebe. Ansonsten beobachte ich aufmerksam, etwa die Entwicklung im Baskenland, wo ich sehe, dass die ETA viele Fehler macht. Aber es ist nicht so, dass ich da aktiv würde. Das, was die Rote Zora in einem Emma-Interview zu der besagten Adler-Aktion gesagt hat: „Wir kämpfen nicht für die Frauen in den Ländern der Peripherie, sondern mit ihnen“, kann ich heute leider nicht mehr von mir sagen. Ich unterstütze vielleicht den kurdischen Befreiungskampf, aber ich kämpfe nicht mit. Ich unterstütze vielleicht den Kampf im Baskenland, aber ich kämpfe nicht mit. Was ich allerdings mache, ist, mich hinter eine Analyse zu stellen, die weltweite Entwicklungen vor allem im ökonomischen Bereich – Stichwort Globalisierung – aufnimmt und zu verstehen versucht, wie ddie Börse in New York mit den Warenströmen in Europa und den Ausbeutungsverhältnissen der indischen Arbeiter zusammenhängt.
Antonio: Auch hier wieder sind die Rote Zora ein gutes Beispiel: Als sie eine deutsche Rüstungsfirma (Lürssen-Werft in Lemwerder bei Bremen) mit einem Brandsatz attackierten (am 24.7.1995) (siehe auch Interim Nr. 341 vom 3. August 1995), haben sie in ihrer Erklärung nicht nur aufgezeigt und deutlich gemacht, dass die deutsche Regierung und deutsche Rüstungsunternehmen ihr dreckiges Geschäft mit dem Krieg in Kurdistan verdienen, sondern auch in einzelnen Punkten patriarchale, hierarchische und nationalistische Strukturen und Erscheinungsformen des kurdischen Befreiungskampfes (insbesondere der PKK) kritisiert. Ein Beispiel aus ihrer Erklärung: „Mit der PKK kann frau sich nicht identifizieren – wir auch nicht -, und leider wird Solidarität meistens von dieser Frage abhängig gemacht. Wir wollen hier über politische Solidarität diskutieren, die sich nicht länger an der Identifikation mit Befreiungsbewegungen oder der Distanzierung von ihr mißt. Über Identifikationen werden eigene Wünsche projiziert, dsie versperren den Blick auf die realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. (...) Die PKK selbst legt keinen Wert auf eine klare Formulierung sozialer Befreiungsvorstellungen oder Programme. Sie und ihre deutschen UnterstützerInnen fordern dazu auf, die „nationale Befreiung des Landes“ als Priorität anzuerkennen und daher ihre militärischen Erfolge im bewaffneten Kampf gegen das türkische Militär, in dem der „neue Mensch“ schon mit Hilfe der Partei geformt würde, zu unterstützen.“ Dies ist für mich ein gutes Beispiel differenzierter, zugleich aber auch solidarischer Internationalismus-Arbeit.
Entscheidend, was internationale Solidarität anbelangt, finde ich jedoch, Kritiken und Widersprüche zu erkennen, und wenn sie auftauchen und vorhanden sind, zu benennen und zu thematisieren. Platte, unkritische Solidarität ist nicht nur unglaubwürdig, sondern kann auch ins Desaster führen, wie am Beispiel Palästina und der Geschichte um Gerd Albartus sich verdeutlicht hat. Ein anderes Beispiel ist Kurdistan, wo sich auf platteste Art und Weise mit der PKK z.B. solidarisiert wurde, ohne den Hauch von Kritik an patriarchalen, hierarchischen, nationalistischen oder sonstigen Strukturen.
Jetzt, wo Öcalan im Knast sitzt und auch noch von dort Weisungen gibt wie beispielsweise den bewaffneten Kampf gegen die Türkei einzustellen und dies alles brav befolgt wird, allerdings nicht ohne Widersprüche, wird deutlich, wie weitreichend Personen und Führerkult in dem kurdischen Befreiungskampf, hier am Beispiel der PKK, integriert und akzeptiert ist.
Chiapas ist ein weiteres Beispiel. Diese ganze Linke der Welt schaut auf Chiapas und feiert den Aufstand der indigenen Gemeinden, die Basisdemokratie und den Oberphilosophen Marcos. Revolutionsträume hiesiger Metropolenlinke werden auf Chiapas projeziert, die süßen Worte von Marcos verkleben die Widersprüche am Nationalbewußtsein, am Helden-und Personenkult (z.B. überall Marcospuppen), an patriarchalen und hierarchischen Realitäten und Gegebenheiten. Ein neues Video über die Situation in Mexiko und v.a. in Chiapas kommt leider auch nicht über übliche Klischees hinweg. Der Film ist ein gutes Werbe- und Propaganda-Produkt, entstanden mit allerbesten Absichten – den Widerstand in Chiapas als gut und gerecht darzustellen. Das ist er sicherlich – aber darum geht es nicht nur. Denn das ist nur ein Teil der Wahrheit, wir wollen mehr wissen, nämlich, was hinter den Kulissen geschieht, die Details, die Probleme, die Konflikte, die Auseinandersetzungen und nervenden Streits usw. Wir sind mündig genug, selbst zu entscheiden. Wer die unschönen Dinge verschweigt, belügt auch sich selbst, weil er/sie sich eine Scheinwelt aufbaut in Träumen oder Vorstellungen, die so nicht existieren und dann auf einmal ganz hart und brutal von der Realität eingeholt wird. Nicaragua hat dies auch sehr deutlich gezeigt. Abschließend ist dies als ein Plädoyer für kritische Solidarität zu verstehen. Das dem Grenzen gesetzt sind, ist klar und muß im Einzelfall diskutiert und entschieden werden.
Ein gutes Beispiel für internationale Zusammenarbeit in heutiger Zeit sind die Peoples Global Action Days, wie zuletzt am 30. November 1999. Weltweit haben Nicht-Regierungs-Organisationen, Basisgruppen, rev. Linke, indigene BauerInnen, GewerkschaftlerInnen und Anarchistische Gruppen gegen die WTO, Neoliberalismus, Transnationale Konzerne und Globalisierung protestiert und Äktschens gestartet. Von Seattle (USA), wo 50.000 Menschen gegen die Tagung der WTO-Konferenz demonstrierten über tausende BauerInnen in Indien, die gegen ein riesiges Staudammprojekt, finanziert von Multis und gegen den US-Multi Monsanto, der Schweiz, wo 5000 Leute direkt vor dem WTO-Hauptsitz, Frankreich, wo in 80 Städten insgesamt 80.000 Menschen bis hin zu den Philippinen, wo 8000 Personen vor der US-Botschaft in Manila demonstrierten. Sogar in Berlin gingen ca. 1750 Menschen bei der Spackparade auf die Straße, um in einer ungewöhnlichen, aber sehr wohl ermunternden und witzigen Art ihren Unmut und Protest auszudrücken. Hinzufügen sollte mensch, dass einige diese Spackparade allerdings angesicht der Ernst der Lage gar nicht so angemessen fanden, vor allem, nachdem bekannt wurde, wie ernsthaft unsere GenossInnen in Seattle doch gekämpft hatten.
Karla: Für mich waren die Revolutionären Zellen schon immer mehr innerhalb Deutschlands relevant. Internationalismus ist eine ideologisch richtige Haltung. Darüberhinaus war sie für mich stets eine Frage der Solidarität und nicht der revolutionären Hoffnung. Genau dieses aber unterstelle ich großen Teilen der internationalistisch orientierten Autonomen. Entweder StellvertreterInnenpolitik oder was es auch gab und was ich auch zu Teilen der RZ sagen würde, vorgeschoben für eine Praxis, die sonst keine Legitimation gefunden hätte.
* Die RZ haben aus der Entebbe-Diskussion den Schluß gezogen, sich konsequent auf Aktionen in Deutschland zu beziehen. Einige wie Johannes Weinrich, teilweise auch Gerd Albartus, haben dagegen in der „Gruppe Internationaler Revolutionäre“ weitergemacht.
Johnny: Wenn ich oben gesagt habe, dass es mich bei Entebbe schaudern lässt, dann gilt das hier ganz besonders. Viele Aktionen der Gruppe sind mir suspekt bzw. lehne ich Anschläge wie den auf das Maison de France in Berlin grundweg ab. Auch alles, wie hierarchisch die Strukturen innerhalb der Gruppe auf Carlos und in der Ebene drunter auf Weinrich zugeschnitten waren, gefällt mir gar nicht. Schließlich würde ich es rückblickend als großen Fehler betrachten, mit den östlichen Geheimdiensten so eng kooperiert zu haben. Diese Kritik gipfelt in der Liquidierung von Gerd Albartus, die, nach allem was ich weiß, aus einem letztlich völlig unerheblichem Grund geschah. Der ganze Komplex ist für mich ein Beispiel dafür, wie sich revolutionäre Politik verselbständigt und letztlich selbst unmenschlich wird.
Giovanni: Auch für uns ist die Carlos-Weinrich-Gruppe ziemlich suspekt. Eine RZ hat einmal gesagt: „Die Erfahrung der Grausamkeit des Gegners enthebt niemanden der Verpflichtung, zu jedem Augenblick Auskunft über die Mittel und Methoden geben zu können, die er selbst anwendet.“ Gemeint sind da v.a. wohl auch die Kriterien, nach denen sich die Entscheidung für eine Aktion vollzieht, benennen zu können. Für uns sind benennbare Kriterien in den Aktionen dieser Gruppe häufig nicht sichtbar geworden. Vielmehr wurde Leben und Tod auch von völlig Unbeteiligten nur noch unter funktionalen Gesichtspunkten gesehen. Das Leben eines Einzelnen wurde einen höheren Ziel geopfert.
Es stimmt uns nachdenklich, dass wir die Aussage von Magdalena Kopp, Carlos selbst hätte Gerd Albartus in Damaskus hingerichtet, nicht für ausgeschlossen halten.
Aber losgelöst von Carlos ist in diesem Zusammenhang einmal mehr die Frage wichtig, wie sich Gruppen, nach außen abgeschottet im Inneren weiter entwickeln.
Also die Frage, wie hinterfragbar waren die RZ, in welchem Diskussionsprozeß standen sie mit ihrem sozialen Umfeld? Waren Entwicklungen transparent und gab es Möglichkeiten, Fehlentwicklungen zu thematisieren? Allein die Aussage, dass der Prozeß der schleichend weniger werdenden sozialen Verankerung und das Verschwinden von Spontanität und Kreativität Merkmal klandestiner Strukturen sei, ist so banal wie richtig. Diesen Prozeß genauer zu durchleuchten ist eine Aufgabe, die noch heute ansteht. In der Interim 187 werden dazu treffende Fragen aufgeworfen: „Wie stark ward ihr eigentlich noch in der Organisierung von sogenannter Massenmilitanz vertreten? Oder habt ihr euch diese wichtige Erfahrungsebene aus konspirativen Überlegungen heraus grundsätzlich abgeschnitten? Wie ist es dazu gekommen, dass in dem Kampf „Um die Herzen und Köpfe der Menschen“ nur noch in Anschlagsdimensionen gedacht wurde und die Ebene der Gegenpropaganda, der phantasievollen Vermittlung vollkommen weggefallen ist?“
Uns fehlt dazu der gesamte Bereich der gruppeninternen Prozesse. Denn sichtbar ist heute, dass es eine Minus-Auseinandersetzung innerhalb dieser Strukturen gegeben haben muß, gekennzeichnet von Mißtrauen, Fraktionierung und immer wieder nur der Absicht, „die Anderen zu widerlegen“. Darüber scheint uns auch einiges von Tareks Aussagen und dem Umgang mit ihm erklärbar.
VII. Organisierter Widerstand heute
* Wie seht Ihr das Scheitern jüngerer militanter Projekte wie dem K.O.M.I.T.E.E.?
Antonio: Dass das Komitee gescheitert ist, liegt weniger an der Form der Organisierung als an den Fehlern, die sie selber gemacht haben und knüpft eher an das an, wovon wie vorher schon mal geredet haben: Umgang untereinander, Funktionalität usw. Das Komitee selbst schreibt dazu in seiner Auflösungserklärung vom 6.9.1995: „Zu unseren Fehlern. Für die Ausführung der Aktion hatten wir uns einen festen Termin gesetzt, dem ein, wie sich herausstellte, äußerst knapp berechneter Zeit- und Arbeitsplan vorausging. Je näher der Tag der Aktion kam, desto deutlicher wurde, dass wir keinen Raum mit eingeplant hatten, um neu auftretende Probleme und die latent vorhandenen Ängste der Einzelnen zu thematisieren und kollektiv lösen zu können. Wir verfielen einem Mechanismus, der in unserer Männercombo nicht unbedingt neu war: es wurde von jedem Einzelnen verantwortlich am eigenen Aufgabenbereich gearbeitet und dabei der Blick für das Ganze verloren“. Abschließend schreiben sie am Ende ihrer Erklärung: „Der von uns anvisierte Effekt, mobilisierend auf die radikale Linke zu wirken, hat sich durch unser Scheitern und durch die Art des Scheiterns ins Gegenteil verkehrt. Wir werden unsere politische Arbeit als K.O.M.I.T.E.E. beenden. Diese Entscheidung haben wir aufgrund der Gesamtheit der von uns verursachten Fehler gefällt.“
* Warum agiert Ihr im Gegensatz zu den RZ oder dem K.O.M.I.T.E.E. als „autonome Gruppen“ und nicht unter kontinuierlichem Namen?
Antonio: Aus Gründen der Repression habe ich mich und viele andere auch entschieden, nicht unter dem gleichen Namen, sondern jedes mal unter einem anderen Namen aufzulaufen. Du wirst im Falle einer Verhaftung und Verurteilung nur für eine Aktion haftbar gemacht und nicht für alle Aktionen, die im Namen einer Gruppe stattgefunden haben. Die Kontinuität erklärt sich aus dem inhaltlichen Bezug. Soweit dazu.
Johnny: Ich sehe Für und Widers. Was dagegen spricht, hat Antonio schon gesagt. Was dafür spricht, finde ich auch gewichtig. Das K.O.M.I.T.E.E. schreibt in seiner Auflösungserklärung: „Wir sind davon ausgegangen, dass Beiträge und Interventionen von Gruppen, deren Name für eine bestimmte Praxis und politische Ausrichtung steht, von der Öffentlichkeit und der Linken mit einer größeren Aufmerksamkeit gelesen, verfolgt und diskutiert werden als Veröffentlichungen von Gruppen ohne erkennbare Kontinuität. So hofften wir im Laufe der Zeit auf die Entwicklung der linken Scene einen positiven Einfluß zu haben und Orientierungspunkte zu setzen.“
Das sind sehr starke Argumente für einen festen Namen. Was autonome Gruppen wollen, weiß doch heute über die „Interim“-Leserinnen hinaus niemand mehr. Und wer, welche da für was steht, auch nicht mehr. Ich fände es konsequent, für die eigene politische – nicht nur militante – Praxis auch politisch einzustehen und sie weiter zu entwickeln. Denn die allermeisten Texte „autonomer Gruppen“ sind inhaltlich auf einem peinlichen Niveau.
Liliane: Es gibt auch inhaltliche Brüche, dies – unter festem Namen zu agieren – nicht zu tun. Nämlich die Zementierung der Hierarchie. Du erhältst einen Markennamen und gibst politisch richtungsweisende Erklärungen ab, die dadurch in der Szene, aber auch in den Medien mehr Gehör finden. Das ist selbsternannte, unkontrollierbare Avantgarde. Du unterstreichst das dann auch noch mit deinem persönlichen Einsatz, dafür Jahre in den Knast kommen zu können. Die Kritik kann nur schriftlich erfolgen und eine persönlich geführte Auseinandersetzung ist qualitativ einfach etwas anders. Das heißt, als militante Gruppe kannst Du auch gewissermaßen im eigenen Saft versauern. Wenn du wechselnde Namen nimmst, machst du Dich selbst auch nicht so wichtig. Es lastet auch nicht der Fluch auf Dir, technisch immer besser und versierter zu sein, möglichst hohen Schaden anzurichten. Manchmal kann ein gut gezielter symbolischer Nadelstich viel wirkungsvoller sein.
Ich denke die RZ und die Rote Zora waren (sind?) in einer Eigendynamik gefangen, die da hieß: sie bürgen mit ihrem Namen für Qualität, wenn schon illegal dann aber richtig, wofür haben „wir“ (die RZ) ansonsten unseren ganzen Sprengstoff, unseren mühevoll aufgebauten Logistikapparat - der uns viel Zeit, Kraft, Geld und u.a. viele sonstige Entbehrungen gekostet hat – ihr müßt euch diese Eigendynamik so richtig vorstellen und das dann noch isoliert, in keine größeren Debatten über linksradikale/militante Strategien eingebunden. Stellt euch mal vor, die RZ hätte irgendwann mal – wie jetzt in Erfurt geschehen, allerdings natürlich nicht von ihnen – einen Farbbeutelanschlag auf’s Landratsamt gemacht. Ich hätte mich darüber riesig gefreut und innerlich gesagt: welcome! Aber in der Szene wären doch viele konsterniert gewesen. Ich will damit sagen, dass wechselnde Namen ein Schutz vor Eigendynamiken und Abgehobenheit ist. Allerdings liegt es auch an der Gruppe selbst, dies zu reflektieren und die eigene Praxis dementsprechend zu verändern, dann kann ein permanenter Name auch sinnvoll sein, weil Entwicklungen von außen besser wahrnehmbar sind.
Johnny: Vieles ist ja richtig. Aber eine Gruppe kann unter einem festen Namen genauso kontinuierlich mit Leuten diskutieren, wie unter wechselnden, genauso abgeschottet oder kontaktfreudig sein, muß ja nicht jede/r mitkriegen, wer genau was macht. Ich finde, Du fängst Dich genau in der Logik. Es gibt für mich keinen ersichtlichen Grund, warum nicht auch die RZ Nadelstiche machen können sollten. Stichwort: Heliumballons an der Startbahn. Mensch muß nur den Mut haben, sich von Erwartungshaltung frei zu machen.
* Eine der Lieblingsaktionen „autonomer Gruppen“ ist das Anstecken von Autos – teilweise zielgerichtet; wie gegen das DRK oder den Reinickendorfer CDU-Stadtrat Balzer, teils relativ wahllos gegen „Bonzen-Autos“ . Das ist nicht unumstritten.
Antonio: Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um an dieser Stelle auf den Anschlag auf das DRK in Berlin vom 13.10.99 (Erklärung in der Interim Nr. 487) einzugehen, den ich für nicht so gelungen halte. Der Anschlag auf ein Auto des DRK-Parkplatzes, (der mißlang, weil ein Zeitzünder laut Bullen nicht funktionierte), erfolgte in Solidarität mit den 180 Flüchtlingen, die sich zu diesem Zeitpunkt im Hungerstreik in drei von den DRK betreuten Wohnheimen befanden, um u.a. die Abschaffung der Zwangsverpflegung, die Auszahlung von Bargeld und eine menschliche Behandlung in den Unterkünften zu erreichen. In der Erklärung wird desweiteren das Image des DRKs als Wohltäterorganisation demaskiert und aufgezeigt, dass das DRK bei der Verpflegung und Unterbringung von Flüchtlingen aus Profitinteressen handelt.
Leider geht aus der Erklärung jedoch nicht hervor, wessen Auto denn nun gezündelt werden sollte. In der Berliner Zeitung vom 15.10.99 war zu lesen, dass sich auf dem betriebseigenen DRK-Parkplatz, ständig sechs Fahrzeuge befinden. Auf dem Gelände befindet sich eine Sozialstation, eine Seniorenfreizeitstätte sowie das Büro des DRK-Kreisverbandes City, zuständig für die Bezirke Charlottenburg, Tiergarten und Mitte.
Wessen Auto, bleibt völlig unklar, und somit dem Zufall überlassen? Ist diese Aktion nicht ein Zeichen für Ungenauigkeit, wenn eventuell das Auto eines Mitarbeiters der Sozialstation hätte bei draufgehen können? Und die Erklärung gibt zwar Auskünfte über Motive und Hintergrunde des Anschlages, doch in den Medien werden solche Erklärungen oft nicht abgedruckt. Es bleibt also auch hier völlig unklar, warum dort ein Sprengsatz plaziert wurde (Berliner Zeitung v. 15.10.99) Eine gut gelungene Aktion sollte jedoch durch sich selbst schon vermitteln, um was es geht – sonst geht sie unter und wird nicht wahrgenommen. Die RZ schreiben dazu (aus Revolutionärer Zorn Praxis 78): „Wenn man anfängt, sollte man sich keine komplizierten oder politischen schwer vermittelbaren Aktionen vornehmen. Je eindeutiger desto besser. Eine Aktion muß aus sich heraus verstanden werden. Muß man sie erst groß erklären, steht sie auf viel zu schwachen Beinen, um sich gegen die Staats- und Medienhetze durchzusetzen. Denn die kommt immer schlimmer, als man sich denkt. (...) Die Bullen und Medienhetze hat das Ziel, die Aktionen und politischen Konzeptionen des bewaffneten Kampfes so zu verzerren und zu entstellen, dass sich keiner darin wiedererkennen soll, sich damit identifizieren kann. (z. B. da werden dann aus Fahrscheinkontrolleuren harmlose Trambahnfahrer)“
* Und das Anzünden von „Bonzen-Autos“? Erst zu Sylvester sind ein Dutzend Autos abgefackelt worden.
Antonio: Erstens: Das Abfackeln von Luxuskarrossen ist keine uneingebettete Einzelaktion. Auch wenn das etwas diffus erscheint, sie reiht sich vielmehr ein in eine Fülle von antikapitalistischen Aktionen und Aktivitäten von Reclaim the street über Anti-EG und Anti-WWG Aktionen bis hin zur Karawane der Inderinnen und Proteste in Seattle gegen die WTO-Tagung.
Die Message ist sonnenklar: Es geht gegen die ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, gegen die immergrößer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Und die Medien haben das ganz gut begriffen. Denn sie titelten einen Tag nach der Aktion „Luxuskarrossen abgebrannt“ und zählten auf, wie teuer jedes einzelne dieser Autos von Mercedes bis Porsche denn sei. Das beinhaltete eben die Message, dass hier nur die teuren Autos, eben die Reichen Zielscheibe der Aktion waren und somit nicht irgendein Auto zufällig hätte in Flammen aufgehen können.
Die Aktion war auch deshalb gut, weil sie sich durch sich selbst auch ohne Bekennerinnenbrief gut vermittelt hat. Und natürlich, das ersetzt kein bekennendes Schreiben. Das ist richtig.
Johnny: Das sehe ich anders. Das Abfackeln von Bonzenkarren ist für mich nur dann eine politische Tat, wenn sie sich klar und unmißverständlich vermittelt. Ich sehe es eben nicht, dass schon automatisch alle klar haben, was damit gemeint ist. Wenn ich mir vorstelle, wie irgendein Linksliberaler, der selbst eine Familienwagen für 30.000 Mark fährt, in den Nachrichten hört, da ist ein Auto angezündet worden, sagt ihm das doch erstmal gar nix. In Berlin brennt fast jeden Tag irgendein Auto, meistens einfach aus fun oder Vandalismus. Nur, weil das teure Autos sind, hat das noch keine Botschaft. Wieviele ZeitungsleserInnen kommen wohl auf den Gedanken, dass das was mit Seattle zu tun haben könnte?
Ich finde es einfach bitter, wie sprachlos wir oft sind. Warum kann mensch einen Brandanschlag, vor allem wenn er so schön koordiniert wie zu Sylvester ist, nicht ordentlich begründen? Da kommt dann eine Woche später eine lauwarme Erklärung nach, die so gut wie nichts aussagt außer: Ihr seid scheiße. Gerade, weil wir alle wissen, was die Medien machen, sollten wir ihnen so wenig Spielraum wie möglich lassen. Gerade weil wir wissen, dass heutzutage so viel brennt, dass auch Nazis mit Feuer operieren, sollten wir ganz genau sagen, was wir warum gemacht haben. Und es muß doch möglich sein, da noch ein paar Worte mehr zu zu sagen, als nur: Ihr kotzt uns an. Die gleichen militanten AktivistInnen, die mit viel Energie stundenlang Brandsätze konstruieren, sind genervt; wenn sie nur ein, zwei Stunden lang ein ordentliches, perspektivisches Volkssport-Schreiben machen sollen. Das verstehe ich nicht, das gehört doch zusammen. Wenn Leute das nicht tun, stellt sich die Frage, warum sie dann überhaupt eine Aktion machen.
Ich fand diese Brandanschläge okay, als sie in die Kampagne „Wagensportliga° eingebettet waren, das hatte sich wie ein Lauffeuer rumgesprochen, alle, von den Restaurantbesitzern in Kreuzberg über den Staatsschutz bis zu den Pressefutzis wußten Bescheid. Das war außerdem eingebettet in eine Anti-Umstrukturierungskampagne, wo eh relativ viel gelaufen ist. Ich fände es auch in Ordnung, eine bestimmte Kampagne zu einem Kiez zu machen und dann da Autos abzufackeln. Oder sich den Regierungsumzug vorzuknüpfen und dann teure Autos von BonnerInnen abzufackeln. Oder die Rolle von Daimler als multinationaler Konzern zu thematisieren. Oder, oder, oder. Aber so finde ich das einfach sprachlos. Was ist das denn für eine Strategie? Sollen militante Aktivisten jahrein, jahraus Autos anzünden gehen? In der Hoffnung, dass sich das über den Preis schon vermittelt und welche eine Million Sachschaden hat, kriegt einen goldenen Brandsatz? Ich darf das so offen kritisieren, weil ich selbst an diesen Aktionen beteiligt bin. Die Kritik geht also auch an die eigene Adresse.
VIII. Zur Wahl der Mittel
* Die RAF und die RZ sind sehr offensiv mit Schußwaffen umgegangen. Habt Ihr jemals darüber nachgedacht, Schußwaffen gegen Nazis anzuwenden?
Antonio: Schüsse auf Nazis sind auch schon mal diskutiert worden, aber dann abgelehnt worden, weil die Meinung sich durchsetzte, dass wir derzeit nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse vorfinden, in denen politischer Mord gerechtfertigt und notwendig wäre. Wir leben nicht im Faschismus bzw. faschistischen oder diktatorischen Gesellschaft oder etwas vergleichbarem ähnlichem.
Nazis zu töten ist (derzeit) nicht unser politisches Ziel, auch wenn wir nicht 100% ausschließen können, dass es bei Auseinandersetzungen mit Nazis evtl. auch dazu kommen kann, auch wenn das ausdrücklich nicht gewollt ist. Es gilt, dieses Risiko so weit wie möglich zu minimieren, was z.B. heißt, keine Messer mitzunehmen und einzusetzen.
Es gibt hier noch eine ganze Menge und breite Palette von Möglichkeiten und Widerstandsformen, die wir auch noch nicht ausgeschöpft haben. Der Spielraum, den wir haben, ist noch groß genug, als dass wir zu solchen Mitteln, die stets das letzte Mittel sein sollten, greifen müßten. In Schweden z.B. wurden nach dem Mord an einem Journalisten durch Nazis in den darauffolgenden Tagen durch viele schwedische Tageszeitungen die Fotos, Namen, Adressen, Arbeitsplätze auf großanzeigenmäßigem Format, auf der ersten Seite veröffenlicht. Durch dieses Outing wurden viele Faschos bekanntgemacht und gesellschaftlich isoliert. Die Kampagne hat sie aus ihrer Anonymität gerissen und bloßgestellt. Ich würde dies als eine beispielhafte Aktion bezeichnen. Warum passiert das in Deutschland nicht?
Der Kaindl-Fall hat ja gezeigt, wohin das führen kann, wenn unüberlegte Aktionen stattfinden. Zwar haben die Nazis, die sich im China-Restaurant getroffen haben, eins auf die Fresse bekommen und aufgezeigt bekommen, dass sie sich nicht so einfach ausgerechnet in Kreuzberg treffen und versammeln können. Doch dass Gerhard Kaindl durch Messerstiche getötet wurde, war nicht geplant, wurde durch jene Person, die mit dem Messer zustach, billigend in Kauf genommen. Und das war ein schwerwiegender Fehler, wahrscheinlich war den anderen Beteiligten nicht einmal klar, dass eine Person von ihnen ein Messer dabei hat und dieses auch bewusst und gezielt einsetzen wird.
Der sich dann anschließenden Repression konnte nicht standgehalten werden. Zwei Jugendliche haben durch ihre belasteten Aussagen die anderen in den Knast gebracht.
Später haben alle bis auf eine Person Aussagen bzw. Teilaussagen gemacht. Denn auch wer aussagt, dass er nicht dabei war und ein Alibi vorweist, macht damit nach dem Subtraktionsprinzip eine Aussage. Ich will hiermit nicht automatisch und von vornerein alle Aussagen, Teilaussagen und Einlassungen als total verdammenswert hinstellen, Keineswegs.
Eine differenzierte Darstellung des Kaindl-Prozeßes ist nachzulesen in der radikal, Nr. 151 vom Dezember 1994 in dem Artikel „Les jeux sont faits!“, Seite 40-43!
An der Startbahn wurden am 2.11.87 zwei Bullen erschossen. Bei den anschließenden Razzien, Festnahmen und Repressionswelle haben über 100 Leute geplaudert, zum Teil über Aktionen, an denen sie selber beteiligt gewesen waren, aber gar nicht nach gefragt worden waren.
Sowohl im Kaindl-Fall als auch in der Startbahn-Geschichte zeigt sich, dass in beiden Fällen die Leute auf evtl. über sie hereinbrechende Repression nicht vorbereitet und gewappnet waren. In beiden Fällen ist aber auch nicht klar, wie viele Leute von der Absicht des Vorhabens überhaupt Kenntnis besessen hatten. Das bleibt spekulativ.
Nicht spekulativ bleiben darf allerdings der Ausgang von militanten Aktionen - darüber sollte sich im Vorfeld eingehendst und ausführlich unterhalten und auseinandergesetzt werden. Dem Zufall darf nichts überlassen werden. Und wenn es darum geht, z.B. Tote zu vermeiden, dann muß alles einem/r zur Verfügung Stehende dafür auch getan werden.
Johnny: Wir sind mit Sicherheit nicht an diesem Punkt. Wenn ich mich aber an die 80er Jahre erinnere, wo die Antiimps und viele Autonome keine Probleme damit hatten, wenn der Chauffeur des Siemens-Managers Beckurts neben seinem Chef für die gute Sache zerrissen wurde, finde ich es schon merkwürdig, dass inzwischen, wo Nazis für den Mord von über Hundert Menschen seit 1989 verantwortlich sind, niemand darüber nachdenkt. Es war als revolutionärer Metropolenkämpfer offenbar wesentlich einfacher, für den abstrakten antiimperialistischen Kampf jemand zu töten, als in einer Situation, wo mordende Nazibanden durchs Land ziehen, zurückzuschlagen. Da denke ich manchmal, wie sich wohl die MigrantInnen hier wohl so fühlen. Und manchmal denke ich auch, dass es ganz gut tun würde, mal einem Nazischwein in die Beine zu schießen. Ganz abgesehen davon, dass es eine interessante Frage wäre, was wohl passieren würde, wenn Haider erschossen würde. Aber das sind mehr theoretische Gedankenspiele. Kann mensch ja mal drüber nachdenken, oder?
* Antifa ist einerseits der Bereich, wo militante Gegenwehr am Nötigsten ist, andererseits wird dort am meisten gestritten. Während Nazis morden, klagen auch Teile der radikalen Linken unter kritischer Ablehnung von „Mackermilitanz“ über Antifa-Gegenwehr. Polemisch: Wenn von denen mal einer blutet, heult die Linke. Ein Widerspruch?
Antonio: Warum ist da ein Widerspruch? Geht nicht Widerstand mit Moral einher oder sollten wir nicht ausdrücklich darauf achten, die Moral nie zu verlieren, immer uns unserer menschlich und moralischen Werte bewusst sein. Wer die Moral angesichts der Härte des Widerstandes verliert, der hat schon verloren. Deine Formulierung, „wenn von denen mal einer blutet, heult die Linke...“, gefällt mir nicht. Das ist mir zu leichtfertig dahingesagt. Gegen Nazis vorzugehen, ist eine Notwendigkeit und macht nicht Spaß – auf blutende Nazis kann ich gern verzichten. Das kann immer mal in einer Auseinandersetzung passieren; ist aber nichts, was ich mal eben so lapidar hinnehme.
Und das die Linke dann heult – das müßtest Du konkretisieren – in welchen Fällen das so war und warum und was Deine Kritik an deren Kritik ist. Sonst ist das viel zu pauschalisierend und platt. Und das vieles als Mackermilitanz innerhalb der Antifas gesehen und kritisiert wird, finde ich absolut richtig. In kaum einem anderen Bereich gibt es so viel Mackergehabe und Posing wie im Antifa-Bereich. Angefangen von Leistungs- und Effektivitätsgedanken, von Maßstäben wie Schlagkraft und sich Prügeln können (Agropro Kampfsport), bis hin zu vereinfachten Weltbildern. Und in keinem Bereich, außer auf dem Fußballplatz vielleicht, gibt es nicht von ungefähr einen großen Überhang von Männern gegenüber Frauen.
Also Mackermilitanz und Antifa gehören fast so zusammen wie 20.00 Uhr und Tagesschau. Aber das muß ja nicht immer so sein. Und entschuldigt meine etwas polemisierende Art – das ist nicht so niedermachend gemeint. Ich bin da eben auch von eigenen Erfahrungen geprägt. Und eine Geschichte läßt mich nicht mehr los, sie hat sich wie eine dicke Schraube in mein Hirn gebohrt. Das ist schon ein paar Jahre her, das war, glaube ich 1990, als wir mit ca. 100-150 Leuten zum Alex gefahren sind, weil wir gehört hatten, dass sich dort Nazis tummeln würden. Schließlich waren noch ein paar Nazis da, denen wir hinterhersetzten. Einen Nazi, es war der Nazi-Kader Olaf Franke, holten wir im Nikolaiviertel ein. Was dann passierte, war der völlige BlackOut einer emanzipativen Antifa-Bewegung. Der Nazi wurde zu Boden geworfen und getreten. Als die ersten damit fertig waren, kamen die Nächsten und traten auf ihn am Boden liegend weiter ein, kurz danach kamen wiederum die nächsten usw., die wieder auf den sich nicht wehrenden Nazis mit heftigen Tritten eindroschen. Daraufhin kamen die nächsten unserer ca. 50-köpfigen Gruppe und traten wiederum auf den inzwischen Bewußtlosen ein. Es war widerlich, wie eine Meute auf Hetzjagd haben (fast) alle nochmal fett und so richtig mit vollen Hass zugetreten – Ja – „gib’s ihm, diese Nazi-Sau“. Erst relativ spät gelang es uns, den inzwischen bewußtlosen Nazi vor weiteren Tritten ins Gesicht zu bewahren. Später wurde dann auf einem Straßenfest in Kreuzberg über Mikrofon bekanntgegeben, dass ein Nazi wahrscheinlich liegengeblieben sei, und evtl. auch tot sein könnte. Der Nazi hat überlebt. Soweit dazu.
Ein anderes Beispiel, das auch ein wenig zurückliegt, betrifft die Frage der Anwendung bestimmter Mittel. Es gab die Überlegung, ein Nazi-Wehrsportlager, von dem wir wußten, wann und wo es stattfindet, zu überraschen, alle anwesenden Nazis zu fesseln und dann gezielt die Kader, (wobei das dann noch genauer hätte bestimmt werden müssen, wer die Kader sind), heraussortieren und ihnen mit diversen Werkzeugen gezielt so die Beine und Knie zu brechen, dass sie bleibende Schäden davon getragen hätten. Dies war ein ernst gemeinter Vorschlag einer Gruppe, die Rede von den „Bonebreakern“ machte die Runde. Schließlich ist dieser Vorschlag auf einem Treffen nicht sofort aber dann doch von einigen, jedoch nicht von allen abgelehnt und schließlich verworfen worden. Gottseidank. Auch in unserer Gruppe gab es ein Befürworter ...
Notwendig finde ich Genauigkeit in der Zielsetzung und Klarheit in der politischen Absicht. Auch finde ich wichtig zu erkennen, dass es nicht nur um den einzelnen Nazi auf der Straße geht, sondern auch um, was ihr ja richtig gesagt habt, um die Infrastruktur der organisierten Nazis, die mensch vermehrt angreifen sollte. Druckereien, Autos, Treffpunkte, Kneipen, Plattenläden, Busunternehmen, die sie transportieren, usw. Die Möglichkeiten sind vielfältig.
IX. Politische Perspektiven
* Viele Linke lehnen neue Technologien ab. Muß sich nicht linker Widerstand nicht genau dort modernisieren?
Giovanni: Ja, das wäre gut. Die Gruppe Kabelschnitt hat das ja auch schon praktiziert, als sie am Frankfurter Flughafen wichtige Datenleitungen durch einen Anschlag blockiert und gestört haben. Und viele HackerInnen gibt es ja auch, die ganz gute Sachen machen. Leider werden viele dann von der Industrie gekauft, um ihre eigenen Daten gegen teures Geld von ihnen schützen zu lassen. Generell gesehen sollten wir natürlich flexibel sein und auch in diesem Bereich widerständig die Herrschenden bekämpfen, auch mit ihren eigenen Waffen und ihrer eigenen Technologie. Warum nicht?
Johnny: Das, was Kabelschnitt gemacht hat, war gut – aber leider viel zu isoliert. Die Linke hat leider einige Züge verpaßt. Machen wir mal ein kleines Spielchen: Schließt die Augen und assoziiert, ohne zu rationalisieren. Welche Form, welche Mittel passen zu welchem Jahrzehnt? Die 70er: Massendemos gegen Atomkraft, deutscher Herbst. Die 80er: Hausbesetzer, vermummte Autonome, 1. Mai, Steine und Brandsätze auf Banken. Die 90er: Antifa, brennende Autos und Hakenkrallen. Das sind im wesentlichen die gleichen Mittel und Ausdrucksformen - aber in der Gesellschaft hat sich viel gewandelt. Erinnert ihr euch noch an Ende der 80er Jahre: Da kursierten Flugblätter und Aktionsaufrufe gegen Telefonkarten und Autonome zerkloppten an der FU einen Haufen Computer – wegen der Technik. Und heute? Telefonkarten sind schon wieder antiquiert und in jedem Büro stehen haufenweise Computer. Und die Linke, die für sich in Anspruch nimmt, kreativ-subversiv zu sein? Wir haben da viel verpaßt.
Ursprünglich war das Internet von einem antikommerziellem Geist geprägt. Noch Anfang der 90er wurde eine Anwaltskanzlei, die Werbung im Internet machte, tagelang elektronisch bombardiert, bis sie sie wieder zurückgezogen hat. Es ist Usus in der Linken, die passiven Mittel der neuen Techniken zu nutzen, Verschlüsselung etwa. Aber die aktiven Mittel, wie Kabelschnitt oder Keine Verbindung e.V. oder Hacker, praktisch kaum. Ein jüngstes Beispiel: Der Angriff von Hacker auf die hippen Internet-Unternehmen, als deren Internet-Seiten lahmgelegt wurden, hat die Firmen Millionen Mark gekostet, enorme Imageschäden produziert und ein weltweites (!) Medienecho hervorgerufen. Da möchte ich doch mal den Brandanschlag sehen, der all dies erreicht. Wäre diese Aktion gut inhaltlich begründet gewesen, würde mich das begeistern.
* Was sind für Euch Themen der Zukunft?
Antonio: Wie schon bereits vorher erwähnt sind AntiFa, AntiRa und Castor Bereiche, in denen auch in Zukunft militante Politik ihren Niederschlag finden wird.
Eine anti-patriarchal militante Praxis macht allerdings nur Sinn, wenn sie auch in eine antipatriarchale Politik eingebettet ist. Ansonsten könnten sich folgende Themen aufdrängen:
- Die Verhinderung der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland, das ist ein Thema! Des deutschen Lieblingskind Fußball wegnehmen, dann werden alle erst richtig zornig. Eine schöne Prestige und Image-Schädigung!!!! Dies könnte vielleicht ein Erfolg wie bei der Anti-Olympia-Kampagne werden.
- Die deutschen Firmen, die sich weigern, den ZwangsarbeiterInnen freiwillig minimale Entschädigung zuzahlen, angreifen – von Bosch zu Porsche. Thematisierung der Zwangsarbeit, der Profitinteressen und die Verwicklung deutscher Firmen in den Faschismus usw. mit Bezugnahme auf heutige Profite und Rolle im neoliberalen Wirtschaftsgefüge. (Deutschlands Reichtum auf den Rücken der Ausgebeuteten weltweit.)
- Abschaffung und vollständige Auflösung des deutschen Adels – da Beschlagnahme ihrer Reichtümer schwer durchsetzbar ist, verstärkte Angriffe und Verwüstungen gegen diese Reichtümer (Autos, Villen etc.) EAT THE RICH-Kampagne starten
Liliane: ... Du hast eines vergessen: die Expo. Aber es dürfte nicht Themen der Zukunft heißen, sondern wo sehen wir strategische Ansätze und wie sehen die aus? Diese Antis haben immer ihre Berechtigung sind aber langweilig und letztendlich unbefriedigend. Ich würde eine Interim-Sondernummer im Sommer oder Herbst sinnig finden, wo über diese strategischen Ansätze – ob militant oder nicht – heftigst gestritten wird. Warum erst so spät? Ganz einfach, weil strategische Überlegungen im Moment nur rudimentär vorhanden sind und es erst eines Kicks bedarf, um mal wieder sowas in Gang zu setzen.
Johnny: Nichts gegen eine prinzipielle Diskussion, aber von meiner Seite aus mit anderem Ansatz: Sowas wie Castor oder Sex-Shops-Angreifen kann doch kein Thema für die zukünftige Ausrichtung sein, sondern nur ein praktisches Ergebnis dessen. Um jetzt hier keine Aufsätze zu formulieren, nur kurz: Ich will an die gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge dessen ran, was in den vergangenen Jahren gerne als Postfordismus beschrieben wurde. Eine RZ hat das übrigens Ende der 80er in Berlin schon mal mit einem längeren Papier thematisiert – wie immer waren sie auch da zu früh... Das Thema ist zwar viel diskutiert worden, aber erst jetzt sehen wir, in welch rasanter Geschwindigkeit die Welt umgekrempelt wird. All das, was damit zusammenhängt – Sozialabbau, Demokratieabbau, die immer umfassendere Durchdringung der Gesellschaft durch kapitalistische Verwertung, der patriarchale Roll-Back – das ist für mich der entscheidende Themenkomplex der Zukunft. Castor weghauen ist okay, aber für mich letztlich nur nebensächlich.
* Fühlt Ihr Euch eigentlich manchmal ohnmächtig?
Johnny: Ja, wenn die Bullen den nächsten Genossen per Killfahndung erschießen.
Giovanni: Mir fällt dazu ein Gedicht ein: „Wie lange kann ich noch leben, wenn mir die Hoffnung verloren geht?“, frage ich die drei Steine. Der erste Stein sagt: „Soviel Minuten du deinen Atem anhalten kannst unter Wasser, noch so viele Jahre.“ Der zweite Stein sagt: „Ohne Hoffnung kannst du noch leben, solange du ohne Hoffnung noch leben willst.“ Der dritte Stein lacht: „Das hängt davon ab, was du noch Leben nennst, wenn deine Hoffnung tot ist ...“
Interview mit militanten AktivistInnen, März 2000