Kraushaars Buch „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“ und die Diskreditierung des bewaffneten Kampfes
- Die „Tupamaros Westberlin“ (TW) – die„erste Stadtguerilla“ in der BRD?
- Die Tupamaros in Uruguay – die „erste Stadtguerilla weltweit“?
- Die Stadtguerilla in der BRD – Ausdruck einer „antisemitischen Kontinuität“?
- Die faktische Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus durch Kraushaar
- Kraushaars Leitmotiv: Die Diskreditierung von Stadtguerilla und bewaffnetem Kampf
0. Einleitung
Wir wollen uns in diesem Text mit dem 2005 erschienenen Buch „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“ des Politologen Wolfgang Kraushaar beschäftigen. Insbesondere interessiert uns, wie Kraushaar über das Trittbrett der sog. Tupamaros Westberlin den bewaffneten Kampf in der BRD diskreditiert und ihm das Stigma des Antisemitismus verleiht. Nebenbei gelingt Kraushaar mit dieser undifferenzierten Veröffentlichung im Handumdrehen den eliminatorischen Antisemitismus des Naziminus zu relativieren.
Kraushaar profiliert sich seit benahe 30 Jahren als Chronist und Historiograph der StudentInnenrevolte Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts und befasst sich mit ihrem theoretischen Background der Kritischen Theorie der „Frankfurter Schule“. Es ist nicht zu hoch gegriffen, dass Kraushaar in Fragen der Beurteilung der Studentinnenrevolte über ein Definitionsmonopol verfügt. Seine Interpretationen werden breit rezensiert und bilden die Kenntnisgrundlage für RezipientInnen. Er ist im schlechten Sinne ein organischer Intellektueller (Gramsci), der sich aufgrund seiner jahrzehntelangen Forschungstätigkeit „einen Namen“ gemacht hat.
Seine hegemoniale Stellung in der AutorInnenlandschaft zu ’68 hat er in diesem Jahr bereits im Februar mit seinem Buch „Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF“ unter Beweis gestellt. Hier wird Dutschke als „Theoretiker der Stadtguerilla“ präsentiert. Offensichtlich darf sich jeder seinen „eigenen Dutschke“ zurecht schnitzen; mal wird er als „Deutschnationaler“ apostrophiert, mal als christlicher Pazifist und mal gilt er als Mentor der Ende der 70er Jahre aufkommenden Ökologiebewegung. Kraushaar hat eine weitere Seite an Dutschke entdeckt und sieht in ihm die „Adaption der Focus-Theorie“ auf die hiesigen sozioökonomischen Verhältnisse verkörpert.
Den „ersten“ Theoretiker der „Stadtguerilla“ hat Kraushaar also namentlich mit Rudi Dutschke ausfindig gemacht. Was fehlt, ist der „Praktiker“. Den hat Kraushaar nun in seinem Buch „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“ kreiert; Simsalabim: Dieter Kunzelmann. Der frühere Kumpel von Dutschke aus gemeinsamen Tagen der Subversiven Aktion. Ja, der Kunzelmann, den man bislang als situationistischen Spaßvogel und Liebhaber von Drogenexzessen meinte zu kennen. Dieser Kunzelmann wird von Kraushaar als der Macher der „ersten deutschen Stadtguerilla“ stilisiert, der ganz praktisch das Vorbild der Tupamaros aus Uruguay nachzuahmen versuchte.
Kunzelmann bzw. seine von ihm inspirierte und geführte Truppe mit dem schillernden Namen „Tupamaros Westberlin (TW)“ erhalten von Kraushaar nicht nur die Auszeichnung die „erste Stadtguerilla“ in der BRD gewesen zu sein, sondern mit ihrem Anschlagsversuch auf die Berliner Jüdische Gemeinde den Auftakt des praktisch gewordenen Antisemitismus in der bewaffneten Linken in diesem Land unternommen zu haben. Diese Kraushaar’sche „Grundthese“ wird in seiner letzten Kapitel-Überschrift „Die Konstituierung der Stadtguerilla als antisemitischer Akt“ augenscheinlich.
Von hier zieht er dann eine bruchlose Kontinuitätslinie des Antisemitismus in Stadtguerillagruppen der BRD; er zieht den Kreis vom Anschlagsversuch auf die Jüdische Gemeinde vom 9. November 1969 über die (vermeintlich) von Ulrike Meinhof verfasste RAF-Schrift „Die Aktion des Schwarzen September. in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes“ von 1972 sowie über die Entebbe-Flugzeugentführung von 1976 unter Beteiligung von zwei RZlern („Selektion“ von jüdischen und nichtsjüdischen PassagierInnen) bis zum Bombenanschlag auf jüdische AuswanderInnen 1991 in Budapest unter der Tatbeteiligung des „RAF-Mitgliedes Klump“ bzw. ihrer Festnahme 1999.
Mit dieser a-historischen und kontextlosen Aneinanderreihung von Ereignissen kommt er zum Fazit, „dass der Antisemitismus für die in Deutschland operierende Stadtguerilla (ganz unzweifelhaft) nichts weniger als ein Konstituens gewesen ist, ein Konstituens, das sich – wie die Geschichte der RAF beweist – als kontinuitätsstiftend erwiesen hat.“ Mit Begriffen wie „unzweifelhaft“ und „beweist“ versucht er, seiner „Grundthese“ die absolute Objektivität zu verpassen; sie soll als unangreifbar gelten. Damit ist nicht nur der bewaffnete Kampf in der organisatorischen Form der Stadtguerilla als „antisemitisch“ diskreditiert, sondern – wie sich an Kraushaars Aussagen ablesen lässt – der bewaffnete Kampf bzw. die revolutionäre Gewalt an sich. Die eigentliche Quintessenz liegt darin, Stadtguerilla und bewaffneten Kampf für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jeden legitimatorischen Grund zu entziehen.
Indem Kraushaar meint eine antisemitisch Kontinuitätslinie in der Politik der Stadtguerillagruppen in der BRD lokalisiert zu haben, betreibt er eine Relativierung des eliminatorischen Antisemitismus des Nazismus. Was sonst soll erzeugt worden als eine Assoziationskette zu Deportation und Vernichtung einer als Sondergruppe deklarierter Menschen. Kraushaar ist hier kein Einzelfall, er schwimmt aber auf dieser hegemonialen Welle des Suchens nach einem „linken Antisemitismus“ nicht nur einfach mit, sondern er denunziert explizit als einer der ersten (Links-)Intellektuellen einen bestimmten Sektor der revolutionären Linken unisono als „antisemitisch“.
Selbst in Rezensionen in der linken Presse, wie bspw. der Monatsschrift analyse + kritik (ak) (19.8.2005), bleibt die konstruierte „Grundthese“ in Kraushaars Buch unhinterfragt. Nicht nur das, sie wird als faktisch gegeben hingenommen, wenn Kraushaar attestier wird, „insgesamt gut recherchiert“ zu haben.
Es sind dagegen bislang nur wenige Gegenstimmen aus linken Veröffentlichungen laut geworden, die Kraushaars Ausführungen an ausgewählten Punkten inhaltlich bzw. methodisch einem Kreuzverhör unterziehen. So behauptet Kraushaar, dass „die Wurzeln des bewaffneten Kampfes“ weit zurückreichen würden und dass man „einer Spur nachzugehen“ habe, „die aus dem Traditionsstrom der europäischen Post-Avantgarde, genauer dem Situationismus hervorgegangen“ sei. Stefan Ripplinger reibt sich in der jungle world vom 24.8.2005 verwundert die Augen, denn Kraushaar unterfüttert diese These nicht mit entsprechendem Material aus dem Situationismus selbst. „Auffälligerweise“, so Ripplinger, „geht er (Kraushaar, Anm. mg) weder der Spur noch dem Strom nach. Er liest nicht die situationistischen Schriften, nicht einmal die „Unverbindlichen Richtlinien“ (ein von Kunzelmann 1962/63 verfasstes zentrales situationistisches Manifest (Anm. mg). In eine anders Richtung zielt die Grundsatzkritik von Kart-Holm Schubert, einem der Redakteure der trend-onlinezeitung. Schubert bemerkt in der September-Ausgabe des trend, dass sich Kraushaar an einer „neuen Rezeptionsperspektive“ der Außerparlamentarischen Opposition (APO) abmüht und die Palästina-Solidarität ins Zentrum der damaligen Jugend- und StudentInnenbewegung rückt. Der Anschlagsversuch auf das Jüdische Gemeindehaus von Berlin am 9.11.69 wird mit dieser Retouchierung der APO-Geschichte zur Spitzte des Eisberges eines latenten Antisemitismus verklärt. Schubert weist in seinem Beitrag die „Isoliertheit dar Palästina-Solidarität“ in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in der hiesigen Linken anhand der entsprechend wenigen Dokumente nach. „Gegen diese Tatsachen“, so Schubert, „schreibt Wolfgang Kraushaar (...) bewusst an (...) Das Buch ist methodisch eine schlichte Kampfansage an das wissenschaftliche Denken. Hier wird nicht nach den Gesetzen der Logik untersucht, abgeleitet und bewiesen und die Befunde zur Diskussion gestellt. Nein. Die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen, wird durch narratives Fabulieren ersetzt“. In der Folgeausgabe des trend führt Schubert weiter aus, „dass bei Kraushaar nicht die Faktentreue im Vordergrund steht, sondern der Versuch eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit hinzukriegen, die der politischen Absicht des Buches nicht zuwiderlauft“. Zum einen bemängelt Schubert bspw. die undurchsichtige Quellenbenutzung bei Kraushaar hinsichtlich des „Bombenfundes“ in der Jüdischen Gemeinde und zum anderen ist dessen Art der Geschichtsschreibung, die wesentlich auf die „mündlich erfragte Geschichte – die oral history“ wie im Fall des „Bombenlegers“ Albert Fichter zurückgeht, „der erkenntnistheoretische Ausweg aus der Sackgasse, den Gang der Geschichte und ihre Struktur analytisch nicht durchdringen zu können“. Diese Methodik widerspricht einer „dialektisch-materialistischen Geschichtswissenschaft“, so Schubert. Ähnlich spricht Lutz Schulenburg, der Herausgeber der Zeitschrift „Die Aktion“ im jüngst erschienenen und sehr anregenden Heft 211 unter dem Titel „Guerilla-Monolog (I)“, wenn er betont, dass die „Wachhunde der Konterrevolution“ Kraushaar, Reemtsma & Co. die Totalität der Geschichte ausblenden“ und sich in Ihren Texten „(keine Spur) von den real herrschenden Gewalten findet“.
Neben diesen kritischen Einwänden anderer Autoren wollen wir nun die Standfestigkeit der „argumentativen“ Eckpfosten von Kraushaar überprüfen, die seine Grundthese von der Kontinuität des Antisemitismus in den Stadtguerillagruppen der BRD von den Anfängen bis zum Zerfall stützen sollen. Dazu fragen wir erstens nach, ob das was als „Tupamaros Westberlin“ (TW) figuriert als die „erste Stadtguerilla“ in der BRD auch nur ansatzweise durchgehen kann Daran anschließend untersuchen wir die analoge Aussage von Kraushaar, wonach die Tupamaros aus Uruguay die „erste Stadtguerilla-Gruppierung weltweit“ gewesen sein sollen. Drittens folgen wir Schritt und Tritt der „Argumentationslinie“ von Kraushaar, wonach sich die „in Wahrheit antisemitisch grundierte Ausrichtung“ der Stadtguerillagruppen als „Konstituens“ und „Kontinuität“ zeigt. Als vierten Punkt –greifen wir eine Diskussion des von Kraushaar wie selbstverständlich gesetzten Gleichheitszeichens, wonach Antisemitismus und Antizionismus untrennbar ineinander verschränkt sind, auf. Unser letzter und fünfter Punkt bezieht sich auf die Quintessenz die mit Kraushaars Buch intendiert ist: die nachträgliche, gegenwärtige und künftige Diskreditierung von Stadtguerillapolitik und bewaffnetem Kampf. Diese Diskreditierung versucht er über den „inhaltlichen“ Hebel- einer Kontinuität des Antisemitismus in Stadtguerillagruppierungen in der BRD zu vollziehen.
1) Die „Tupamaros ,Westberlin“ (TW) – die „erste Stadtguerilla“ in der BRD?
Ganz allgemein erwarten wir von einer in die Welt gesetzten These, dass sie begründet ist. Das braucht Kraushaar aber nicht zu kümmern, da er mit (s)einer Feststellung operiert, dass es sich bei den sog. Tupamaros Westberlin (TW) um „die erste Gruppierung einer Stadtguerilla“ handelt. In dieser These wird nicht einmal exakt deutlich, ab welcher Zeitrechnung vor oder nach „68“ wir den Beginn der ersten deutschen Stadtguerilla festmachen dürfen. Wir kommen später darauf zurück und werden Kraushaars Aussage sowohl für die Zelt vor als auch nach „68“ beleuchten.
Es springt sofort ins Auge – und wir kommen weiter unten noch einmal darauf zurück -, dass Kraushaar an keiner Stelle in seinem Buch Kriterien entwickelt hat, was denn überhaupt eine Stadtguerilla von anderen klandestinen Organisierungsformen unterscheidet, z. B. von militanten Gruppen. Da er über ein solches Kriterium nicht verfügt, nimmt er offensichtlich die pompösen Aussagen, die er dem Personenkreis der „Tupamaros Westberlin“ (TW) zurechnet für bare Münze: „Wir müssen zu jeder Zeit überall zuschlagen, zurückweichen und erneut zuschlagen können“. Wir sind jetzt einmal großzügig und werten diesen „programmatischen Satz“ als Ausdruck eines „Guerillaverständnisses“, in dem der zentrale Topos der Taktik des/der Guerilleros/-a herausscheinen soll.
Aber selbst, wenn sich Kraushaar nur auf die Selbstdeklarierung der „Tupamaros Westberlin“ (TW) als „Stadtguerilla“ berufen wollte, gerät er schnell in dünne Luftschichten. Hören wir selbst: „Denn der erste Kern der Stadtguerillas in den westlichen Metropolen kann sich nur im Kampf entwickeln“. Dieser Auszug aus einem Flugblatt, das laut Kraushaar mit dem Namen „Schwarze Front“ unterzeichnett wurde, wird von Ihm erstens ohne nachvollziehbaren Beleg den „Tupamaros Westberlin“ (TW) als „einem von mehreren Synonymen“ zugeschrieben, und zweitens legt dieser Auszug nahe, dass sich die Verfasserinnen dieses Flugblatts selbst im Klaren darüber waren, dass das, was sie als Gruppierung repräsentieren erst eine im Werden begriffene Struktur ist, die sich „Im Kampf zu einer Stadtguerilla entwickeln“ soll. Von einer realen Existenz einer voll ausgebildeten Stadtguerilla sprechen also selbst ihre ProtagonistInnen nicht. Das räumt Kraushaar selbst unterschwellig ein, in dem er diese knappe Passage in seine Argumentation einbaut und erklärt, dass es nach (!) dem Anschlagsversuch vom 9. November 1969 „nun also darum (geht), dass sich „der erste Kern der Stadtguerillas in den westlichen Metropolen“ heruasbildet.
Wir halten als kleines Zwischenfazit fest, dass sich a) die „Tupamaros Westberlin“ (TW) lediglich als ein irgendwie gearteter Vorläufer einer Stadtguerilla betrachten, und b) dass Kraushaar keine Zitate aus dem Kreis, dem er das Sammeletikett „TW“ anheftet, liefern kann, die seine definitive Aussage der „ersten deutschen Gruppierung einer Stadtguerilla“ bestätigen würden.
Es bleibt Kraushaar nur, um (s)eine „erste Stadtguerilla“ als Baukasten zusammensetzen zu können, anzuführen, dass Kunzelmann & Co. eine „Palästina-Reise“ unternommen haben und dass es nach dem Anschlagsversuch vom 9.11.69 weitere Aktionen gegeben habe, die Kraushaar dem Kreis der „ TW“ zuordnet. Ein einige Tage umfassender Aufenthalt in einem palästinensischen Camp, wo „gelernt“ wurde, wie man eine Kalaschnikow auseinander und wieder zusammenbaut bzw. getestet werden durfte, welchen Rückschlag diese auf die maroden Schlüsselbeine der verdrogten „Stadtguerilleros“ in spe ausübte, wird uns als „Ausbildung“ unterbreitet. Wir sprechen hier eher von einem polit-touristischen Unternehmen, bei dem man dem romantischen Kult eines Fedajin ein paar Tage frönen konnte, aber mit einer (militärischen und ideologischen) Ausbildung für den Stadtguerillakampf hat das nichts zu tun.
„Die Tupamaros haben ein ganzes Netz an Kommunen und Wohngemeinschaften aufgebaut, die sie als; konspirative Wohnungen nutzen können“, so Kraushaar. Wir halten flüchtig inne ob der möglichen Bedeutung dieser Aussage, die offenbar belegen soll, dass eine Stadtguerilla über konspirative Räume verfügen muss. Dass ist an sich richtig, aber Kraushaar bietet uns die Tummelplätze von „Kommunen und Wohngemeinschaften“ als „konspirative Wohnungen“ an. Wir müssen darauf nicht weiter eingehen, um zu betonen, dass sich beides nicht miteinander vereinbaren lässt, wenn man tatsächlich ein konspiratives (!) Unterkunftsnetz einrichten möchte.
Bei einer Stadtguerillagruppe würde man eine feste organisatorische Struktur in personeller Hinsicht erwarten. Bei den „TW“ handelt es sich aber um einen Personenkreis, der aus dem Milieu des „Zentralrates der umherschweifenden Haschrebellen“ kam und nach den erfolglosen „politischen“ Auftritten einige Monate danach wieder ins subkulturelle Allerlei aufging. Die ganzen personellen Ausstiege lassen sich z.T. auch namentlich festmachen: Die einzige Frau in „Kunzels Combo“, Ina Siepmann, ist gleich nach der „Ausbildung“ bei den PalästinenserInnen geblieben, Albert Fichter nach seinem Ablegen der „Bombe“ im Gemeindehaus für immer abgetaucht, Georg v. Rauch wurde 1971 erschossen und Lena Conradt soll Anfang 1975 Selbstmord begangen haben. Selbst für die Anfangszeit kann kaum von einer gefestigten personellen Grundlage gesprochen werden. Ein interessanter offener Punkt ist, ob einzelne Leute, die die „TW“ bildeten oder zum Umkreis zählten, Teil der aus drei Gruppen zusammengesetzten Bewegung 2. Juni, die sich Anfang 1972 gründete, wurden. Darüber können aber nicht wir Auskunft geben, sondern jene, die die damaligen Ereignisse kennen. Kraushaar versucht über einen weiteren Hebel, uns die Existenz der „ersten Stadtguerilla“ zu veranschaulichen. Dazu zieht er eine Bullenstatistik von 1970 heran, die nach dem 9.11.69 zwölf Anschläge bzw. Anschlagsversuche protokolliert hat. Von diesen insgesamt 13 statistisch erfassten Anschlägen sind 7 als „versuchte“ bzw. „Funde“ deklariert und drei als „Kleinfeuer“ in einer Oberschule. Des Weiteren bleibt die exakte Urheberschaft nebulös. Kraushaar löst diesen Sachverhalt wiederum damit, dass die verschiedenen Kennungen („Palästina-Fraktion“, „Schwarze Ratten TW“, „Onkel Tuca“ u.a.) der einzelnen Aktionen als „Synonyme“ der „Tupamaros Westberlin“ (TW) gesehen werden müssen. Er unterlässt es dabei zum einen, die einzelnen Aktionen/Aktionsversuche einer konkreten Gruppenkennung zuzuordnen, zum anderen kommt er nicht darum herum einzuräumen, dass „(es sich) bei den meisten dieser Bezeichnungen nicht um Organisationsbezeichnungen in einem festen Sinne handelt, sondern ganz offensichtlich um vorübergehende Namensnennungen für bestimmte Kommandoaktionen,“
Kraushaar erbringt keine Belege für eine immergleiche Urheberschaft der „TW“ für alle Aktionen, die in der erwähnten Statistik von 1970 aufgelistet sind. Die von Ihm nachgeschobene Interpretation, dass die wechselnden Namensgebungen „Teil eines Verwirrspiels“ sein sollten, kann nicht ausgeschlossen werden, muss aber, wenn man die „erste Stadtguerilla“ (er-)findet mehr sein als nur Spekulation.
Die von Kraushaar den „TW“ zugeschriebenen militanten Aktionen sind keine Schöpfung dieses personellen Zusammenhanges. Sie stellen auch keine Zäsur klandestiner Politik der rebellierenden Linken dar – der 9.11.69 sei an dieser Stelle ausdrücklich ausgenommen. Militante Aktionen bzw. deren Legitimität sind seit Ostern 1967 in den Fraktionen der Westberliner und bundesdeutschen Linken ein Dauerthema, Die Bedeutung einzelner Aktionen für den Radikalisierungsprozess des Protestes wie den Eierbewurf des Amerikahauses während des Ostermarsches 1967 in Westberlin, der Kaufhausbrandstiftung durch Baader, Ensslin, Proll und Söhnlein in Frankfurt/M im April 1968, die „Schlacht am Tegeler Weg“ während eines Prozesses gegen Mahler im November 1968 sind wesentlich höher anzusiedeln, als alles, was mit den „TW“ in Verbindung gebracht wird. „Die Gewaltdebatte. Diese Diskussion, die in der gesamten Geschichte der antiautoritären Bewegung durchgehalten wurde, war von zentraler Bedeutung für die Konsolidierung der mobilisierten Studentenmassen. Es fing an mit den Eiern gegen das Amerikahaus, Ostern 67 (...)“, so einer der „68er“, Klaus Hartung, in einer Ausgabe des „Kursbuches“ von 1977 zum zehnjährigen Jahresrückblick auf die Hochphase der StudentInnenrevolte.
Kraushaar muss die Bedeutung der „TW“ bis ins Unermessliche steigern, um bei der These „erste Stadtguerilla in der BRD“ bleiben zu können. Weder in der damaligen Wahrnehmung der Linken, noch in den nachträglichen Aufarbeitungen spielen die „TW“ irgendeine hervorgehobene Rolle. Das liegt nicht daran, dass diese aufgrund des 9.11.69 „unterdrückt“ werden sondern schlichtweg daran, dass sie in der Linken auf grundsätzliche Ablehnung stießen, nichts Programmatisches hinterließen an dem sich die „Nachwelt“ hätte orientieren können, und eine nur wenige Monate dauernde Episode waren. Selbst bei Kraushaar tauchen die „TW“ in einer von Ihm erstellten Chronik in dem Buch „Was wir wollten, was wir wurden. Studentenrevolte -zehn Jahre danach“ nicht auf, und da waren die Erinnerungen doch noch „frisch“. Jetzt erklärt er sie zu dem zentralen Ereignis, das angeblich den Auftakt der Stadtguerilla in der BRD markieren soll. D.h. also, dass die „TW“ nachträglich in ihrer Bedeutung völlig überhöht werden und zu einem entscheidenden, ja zu dem Faktor der Herausbildung einer Stadtguerilla, aufgeblasen werden.
Wie dem auch sei; wir kommen zu einem gänzlich anderen Ergebnis. Es handelt sich bei den „TW“ um ein völlig amorphes Gebilde, das bis auf einige wenige Versatzstücke nichts Konzeptionell-Inhaltliches über eine Stadtguerillataktik oder gar Strategie aussagen konnte, über keine logistische und strukturelle Basis einer Stadtguerilla verfügte und darüber hinaus personell offensichtlich stark fluktuierte sowie alles an Praxis vermissen ließ, was man allgemein hin mit einer Stadtguerilla assoziieren würde. „Diese Gemengelage aus Fixen, Kiffen, Dealen und Militanz drapierte sich nach außen zwar besonders wortradikal: High sein, frei sein Terror muss dabei sein“, doch im krassen Gegensatz zu ihrem MaulheldInnentum, verbrachten die Leute aber die meiste Zeit abgedreht auf der Matte“, so das vernichtende Urteil von Karl-Heinz Schubert in der November-Ausgabe der trend-onlinezeitung.
Kraushaar liefert überhaupt keine Beschreibung dessen, was eine „Stadtguerilla“ formal-inhaltlich, praktisch, logistisch und organisatorisch auszeichnet. Wir haben in unserem Beitrag „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution bei den KlassikerInnen des Frühsozialismus, Kommunismus und Anarchismus“ (Interim 600, 2.9.2004) eine Kategorisierung vorgenommen, mit der man verschiedene klandestine Organisierungsformen voneinander unterscheiden kann. Kraushaar unterlässt jede Begriffsbestimmung einer Stadtguerillapolitik als eine Form „Irregulärer Kriegsführung“ mit ihren taktischen, operativen und strategischen Elementen vor dem Hintergrund spezifischer geographischer und sozio-kultureller Begebenheiten. Die „TW“ fabulieren, wie eingangs des Kapitels erwähnt, zwei mal als Schlagwort etwas von „Stadtguerilla“. Dies reicht kurioserweise aus, um den „TW“ alle Strukturelemente einer realexistierenden Stadtguerilla anzudichten. Irritierend ist zudem, dass sich Kraushaar ausführlich auf den willfährigen Stasi-Informanten Bommi Baumann und dessen Elaborat „Wie alles anfing“ beruft und jede Überprüfung des Wahrheitsgehaltes des dort Niedergeschriebenen vernachlässigt, um an der Legende der „ersten Stadtguerilla in der BRD“ zu stricken. Es bleibt Kraushaars Geheimnis, wie dieser Groschenroman dazu beitragen kann, die Entstehungsbedingungen des bewaffneten Kampfes und die Anfänge von Stadtguerillapolitik in der BRD zu rekapitulieren. Die „TW“ sind nach unserer Definition in die Kategorie„militante Gruppe“ einzuordnen – „mehr“ aber auch nicht. Allein mit diesem Punkt hätte man einen wesentlichen Baustein von Kraushaars Grundthese abgetragen: die „TW“ sind formal keine „Stadtguerilla“ gewesen. Das wird deshalb offenkundig, weil keine Aktion, die Kraushaar als die der „TW“ bezeichnet, mit Schusswaffen in Verbindung gebracht werden kann. Wir haben mehrfach in vorangegangenen Texten beschrieben, dass wir den bewaffneten Kampf und die Guerillapolitik nicht auf das Verballern von Patronen reduzieren können, um nicht dem viel zitierten Fetisch des mit dem Colt jonglierenden Desperado zu verfallen. Das, was wir aber auch nicht annehmen können, ist, dass eine real existierende „Stadtguerilla“ ohne den Einsatz bewaffneter Mittel auskommen kann.
Wenn man von einem Auftakt von „Stadtguerillapolitik“ in Deutschland reden will, dann muss man vom Spartakusaufstand 1918/1919, den bewaffneten Kämpfen im Industriebezirk Halle-Merseburg im März 1921 oder dem „Deutschen Oktober 1923“ in Hamburg sprechen. Auch wenn hier nicht wörtlich von „Stadtguerilla“ u. ä. gesprochen wurde, handelt es sich hinsichtlich der formalen Kriterien, die man an diese Ereignisse anlegen kann, viel eher um bewaffnete städtische und Ballungsraurn-Kämpfe denen man das Etikett „Stadtguerillapolitik“ beifügen könnte. Wir könnten historisch noch weiter zurückgreifen. In unserem erwähnten Text „Bewaffneter Kampf – Aufstand und Revolution“ sind wir ausgehend von Ausführungen aus Sun Tzus „Traktat über die Kriegkunst“ den Ursprüngen des Guerillacredos hit and run nachgegangen. Wir haben festgestellt, dass es sich um eine Jahrtausendealte Methode schwacher (militärischer) Kräfte gegen eine zahlenmäßige Übermacht handelt. in unserem Beitrag „(Stadt-)Guerilla oder Miliz?“ (Interim 608, 17.12.2004f.) haben wir die Zeiträume nach der Französischen Revolution und den antinapoleonischen „Befreiungskriegen“ untersucht, In denen sich die bewaffneten Formate einer „Guerilla“ und „Miliz“ begrifflich und konzeptionell ausbildeten. Auch hier finden wir gerade aus dem Bereich der „preußischen Militärreformer“ Passagen, die mit dem wenigen zu Guerillataktiken der „TW“ faktisch deckungsgleich sind: „Man beschäftigt den Feind den Tag über durch zerstreute Gefechte, hält unsere Kolonnen zurück, und wenn der ermüdete Gegner sich der Ruhe überlassen will so fällt man über ihn her, um ihn zum entscheidenden Handgemenge zu zwingen (...) Wo der Feind mit Übermacht vordringt, da weicht man zurück, verödet das Land vor Ihm her, wirft sich in dessen Flanke und Rücken und schneidet Ihm die Zufahrten ab“. Gneisenau, von dem dieses Zitat aus einer Denkschrift von 1808 nach der Besetzung deutscher Landstriche durch napoleonische Truppen stammt, wusste, um Kraushaars Suche nach Antisemitismus aufzugreifen, wo die Spitzelgefahr liegt. In einem Schreiben an den russischen Zaren schreibt er: „Man habe ein Auge auf die Juden, die in allen Ländern den französischen Heeren die besten Spione geliefert haben“.
Mit diesen kleinen Ausflügen in die z.T. weit zurückliegende Vergangenheit wollen wir nur dokumentieren, dass das, was von Kraushaar als „TW“ veräußert wird, keineswegs die „erste Stadtguerilla“ in deutschen Landen ist und mitnichten erstmals die Taktik des/der Guerilleros/-a aufs Trapez gehoben hat. Die Vorläufer reichen viel weiter zurück als bis in den Zeitraum der StudentInnenrevolte. Zudem würde man „68“ und alles darum herum als Stunde Null ausgeben, als ob die ArbeiterInenbewegung nicht bereits seit ihren ersten organisatorischen Anfängen die Frage der Bewaffnung des Proletariats auf die Agenda gesetzt hätte. Es wäre vollkommen unhistorisch, wollte man diesen Kontext bei der „Erforschung des Gründungsaktes dar bundesdeutschen Stadtguerilla“ vor der Türe stehen lassen.
Auch wenn man die StudentInnenrevolte als zeitlichen Maßstab für den Beginn einer Politik einer Stadtguerilla in der BRD nehmen wollte, erfüllt erst die RAF mit der „Baader-Befreiung“ im Mal 1970 bzw. der programmatischen Fixierung in dem „Konzept Stadtguerilla“ (April 1971) das, was man in Anlehnung an lateinamerikanische Projekte als urbanen Guerillakampf bezeichnet. Erst hier finden wir eine eingehende Auseinandersetzung mit guerillataktischen und -strategischen Überlegungen einschließlich der Frage der Illegalität die sich zu einem Konzept verdichten, das auch praktisch zu werden beginnt. Übrigens stützt sich die RAF im „Konzept Stadtguerilla“ primär auf Mao Tse-Tung und interessanter Weise nicht auf die Tupamaros, auch wenn deren Erfahrungen im Hintergrund mitschwingen, wenn es heißt: „Das Konzept Stadtguerilla stammt aus Lateinamerika. Es ist dort, was es auch hier nur sein kann: die revolutionäre Interventionsmethode von insgesamt schwachen revolutionären Kräften“.
Wir halten fest: allenfalls sind jene die mit ständig wechselnden Signets oder Zusätzen unter dem Label „Tupamaros Westberlin“ subsumiert worden, ein in der Linken breit abgelehnt und isolierter Versuch, so etwas wie eine „Stadtguerilla“ zu simulieren. Alle inhaltlichen, praktischen, logistischen und organisatorischen Voraussetzungen waren, wie wir versucht haben zu zeigen entweder nicht oder nur in einer Keimform vorhanden – die „TW“ waren nichts weiter als eine Karikatur dessen, was sich in Lateinamerika als Stadtguerilla formierte. Wenn überhaupt, finden wir bei den „TW“ so etwas wie eine militante Praxis vor, die nicht einmal an eine ausgearbeitete militante Politik heranreicht. Somit sind die „TW“ lediglich eine (fatale) Episode in der langen Inkubationszeit des bewaffneten Kampfes in der BRD seit Beginn der 70er Jahre. Wenn man auch nur ein wenig die jahrelange, mit vielen Brüchen versehene Entstehungsphase dar Tupamaros in Uruguay nachzeichnet, wird man unschwer erkennen können, dass der Klau eines Namens überhaupt nicht bedeutet, dass es irgendeine Parallelität zwischen den „TW“ und den eigentlichen Tupamaros aus Uruguay gibt.
Eine kleine Fußnote: die Tupamaros kooperierten in den Stadtteilen mit Selbstverteidigungsgruppen der jüdischen Gemeinde in Montevideo gegen faschistische Übergriffe, wie der Mitbegründer der MLN-Tupamaros, Eleuterio Fernandez Huidobro in einem Interview mitteilte. Das passt schwerlich mit dem Anschlagsversuch von 1969 der „TW“ in Berlin zusammen.
Es gibt dagegen Beispiele, wo die Tupamaros als direkte Vorlage dienten, zwar nicht In der BRD, dafür aber in Italien: Die Roten Brigaden. Einer der Begründer der Roten Brigaden und spätere „dissociato“ (jemand, der sich vom bewaffneten Kampf distanziert, ohne, wie der „pentito“, zu „bereuen“ und ehemalige GenossInnen zu verraten), Alberto Franceschini, beschreibt in seiner Autobiografie „Das Herz des Staates treffen“ wie explizit sich die Gründergeneration an den Tupamaros orientierten. Die Relevanz der „Schriften der Tupamaros“ für den Entstehungsprozess der Brigate Rosse kommt zum Ausdruck, wenn Franceschini schreibt, dass „diese Bücher unsere kleine Bibel (waren), die wir um Rat fragten, wann immer es ein Problem zu lösen gab“. Dieses Ratsuchen ging sehr weit, sowohl bei der Aktionswahl und -durchführung (Banküberfälle, Entführungen) als auch bei der strukturellen Ausbildung der Organisation („Kolonnen“-Prinzip) standen die Tupamaros Pate.
2) Die Tupamaros in Uruguay „die erste Stadtguerilla Gruppierung weltweit“?
Wenden wir uns kurz etwas ausführlicher den Stadtguerillaprojekten in Lateinamerika zu, da Kraushaar nicht nur die Behauptung der „TW“ als „erste deutsche Stadtguerilla“ ausgibt, sondern eine Analogie zu der angeblich „ersten weltweiten Stadtguerilla”, den Tupamaros aus Uruguay, zieht. Ist denn wenigstens die Aussage der Tupamaros als der „ersten weltweiten- Stadtguerilla“ aufrechtzuerhalten? Von unserer Seite ein klares Nein dazu! In der revolutionären Linken Lateinamerikas ist bereits Anfang der 60er Jahre, also nur wenige Jahre nach dem Sieg der Kubanischen Revolution von 1959, eine ausschließliche Orientierung auf einen von außen gepflanzten ländlichen Guerillafocus kritisiert worden. In der Westberliner APO-Zeitschrift „Sozialistische Politik“ wurde in einem Artikel darauf verwiesen, dass „(man) im Großen und Ganzen die neue Methode als eine Hinwendung zur Stadt charakterisieren kann und. als eine Absage an die traditionelle Vorstellung, dass der bewaffnete Kampf vornehmlich auf dem Lande zu führen sei“. Es ging darum, die Politisierung- und Organisierungspotenziale der Massen, die zweifellos in den städtischen Agglomerationen vorlagen, auszuschöpfen.
Demnach war es für einige Guerillabewegungen unverkennbar, dass die Erfahrungen des Focismus kubanischer Art bzw. deren enge Auslegung nicht umstandslos für alle anderen lateinamerikanischen Länder verallgemeinert werden konnten. Die militärischen Niederlagen der „orthodoxen“ focistischen Guerillaprojekte 1965 in Peru bzw. der Tod Che Guevaras am 8. Oktobor1967 und das damit verbundene Ende des bolivianischen Guerillafocus waren einschneidende Ereignisse, die eine erfolgsversprechende Anwendung der Zentralität der ruralen (ländlichen) Befreiungsperspektive grundsätzlich in Frage stellten: Hector Bejar Rivera, einer der Gründer der 1962 entstandenen Nationalen Befreiungsarmee (ELN) in Peru, merkt dazu in der Nachschau kritisch an, dass „die Aktionen von 1965 fast ausnahmslos auf dem Land stattfanden. Sie berührten weder die Stadt noch den ausgedehnten Küstenstreifen unseres Landes, in dem wichtige Produktionszentren liegen (...) Demzufolge wurden die Städte nicht nur ausgespart, sondern es wurden auch genaue Anweisungen gegeben, damit dort keine verfrühten Aktionen unternommen würden“. Selbst in Che Guevaras „Bolivianischem Tagebuch“, in dem der Aufbau und die Kampfhandlungen des Focus. in der bolivianischen Peripherie aufgezeichnet sind, werden die skeptischen Töne gegenüber des eigenen militärischen und politischen Handelns zusehends lauter: „Wir haben weiterhin keinen Kontakt irgendwelcher Art und keine begründete Hoffnung, einen solchen in nächster Zelt herzustellen (...) Wir verbleiben weiterhin ohne Zugänge zu den Bauern“ notiert Che ernüchtert einige Wochen vor seiner Ermordung. in einem seiner letzten Eintragungen spricht er gar davon dass „die Bauem (...) zu Denunzianten werden“. Leider eine sich bewahrheitende Prophezeiung.
Aber bereits vor diesen schweren politisch-militärischen Niederwürfen durch die herrschende Oligarchie in Peru und Bolivien, haben die Rebellischen Streitkräfte (FAR) seit 1962 in Guatemala konkret städtische Strukturen als organisatorisches und logistisches. Standbein aufgebaut, um die gewerkschaftlichen Kämpfe vor allem in Guatemala-Stadt zu unterstützen. Dies geschah ausdrücklich aufgrund des frühen Erkennens der Grenzen eines sich nur auf ländliche Basen stützenden „klassischen Focismus“.
Hier wird vor allein deutlich, dass man nicht mit einer simplen Periodisierung hantieren kann, nach der der urbane Kleinkrieg erst nach der politisch-militärischen Niederlage, des „Guevarisimus“ in Bolivien aufgenommen wurde. Vielmehr ist es so, dass bereits vor dem allgemeinen Trend des Stadtguerillakampfes in Lateinamerika, ab Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre des 20.Jahrhunderts in bestimmten Ländern das städtische Terrain als zentral für eine revolutionäre Erhebung angesehen wurde. Demnach begann in einigen Ländern die Schwerpunktsetzung der Stadtguerillapolitik, während gleichzeitig i einem Nachbarland die Hochphase des ruralen Focismus eingeläutet wurde. Umgekehrt unterlagen einige Stadtguerillaprojekte schon Mitte der 60er Jahre, bevor woanders noch nicht einmal die Vorboten der heroischen urbanen Kämpfe zu erahnen waren. D.h., dass der Niedergang das ruralen Focismus nicht in eine eindeutige Aufeinanderfolge mit dem Aufstieg, des urbanen Kleinkrieges fällt, umgekehrt hat der ländliche Guerillakampf die Existenz von Stadtguerillastrukturen überdauert.
Die organisatorischen und ideologischen Ausrichtungen der Guerillas und Befreiungsbewegungen sowie die Prozesse des revolutionären Kampfes in den städtischen Ballungsräumen bzw. den ländlichen Weiten lassen sich nur unter dem Verlust wichtiger Differenzierungen in ein zeitliches Schema pressen. Die jeweiligen sozio-ökonomischen und politischen Konstellationen in einem bestimmten Land sind stets zu berücksichtigen, um nicht zu Kurz- und Fehlschlüssen zu kommen.
Bekannter und von der Dimension relevanter als das guatemaltekische Beispiel waren die Stadtguerillastrukturen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas, Hier nahmen 1962 die bewaffneten Kräfte für die Nationale Befreiung (FALN) und die Bewegung der revolutionären Linken (MIR) den urbanen Guerillakampf auf, die an der Universität von Caracas über ein ansehnliches Mobilisierungs- und Sympathisantenpotenzial verfügten. Der „Terrorismusspezialist“ der 70er Jahre, Walter Laqueur vermerkt in seinem Buch „Terrorismus“, dass „die früheste und in mancher Hinsicht interessanteste Manifestation urbanen Terrors in erheblichem Umfang in Venezuela in den Jahren 1962/63 (geschah) – lange bevor sich die Welle anderswo verbreitete.“
Mit diesem urbanen Guerillakampf verfolgten die FALN und der MIR das Ziel, quasi in der Stadt selbst Foci („Brandherde“) zu schaffen und bestimmte Viertel, in denen sie über eine erwähnenswerte Verankerung verfügten, zu „befreien“. Diese Guerillagruppen setzten darauf, in progressiven Kreisen der Militärs für einen möglichen Putsch Unterstützung zu finden. Anzumerken ist, dass sowohl die FAR als auch die FALN bzw. der MIR seit Beginn der 60er Jahre städtische und (!) ländliche Guerillastrukturen aufbauten. In diesen Revolutionsprozessen war keine klinische Abfolge festgeschrieben, bei der der bewaffnete Kampf auf dem Land beginnt und sich dann über Etappen von außen in die Städte hinein trägt. Laqueur beschreibt die Genese der Stadtguerillastrukturen in Venezuela/Caracas wie folgt: „Die Kader setzten sich hauptsächlich aus Studenten zusammen, mit einigen wenigen Mitgliedern dar städtischen Arbeiterklasse oder, weniger freundlich ausgedrückt, dem Lumpenproletariat der Barrios (Elendsviertel) von Caracas. Urbaner Terror war allerdings nur eine von drei Strategien, die gleichzeitig angewandt wurden: die Rebellen versuchten, Teile der Armee für einen Militärcoup zu gewinnen, und sperrten sich auch nicht gegen den Guerillakrieg auf dem Lande. Die venezolanischen Stadtterroristen folgten keiner spezifischen Doktrin, sie handelten instinktiv, dennoch hatten sie ein ausgedehntes Repertoire, das von Bankraub, Flugzeug- und Schiffsentführung bis zur Entführung prominenter Persönlichkeiten (...) reichte (...) Es ist behauptet worden, dass das gesamte Arsenal der Stadtguerilla-Methoden, das später in anderen Ländern zur Anwendung kam, tatsächlich mit viel Phantasie in Caracas entwickelt worden ist.“
Wir wollen an dieser Stolle überhaupt nicht unterschlagen, dass die Stadtguerilleros in Caracas nach nur zwei Jahren vor einem politisch-militärischen Scherbenhaufen standen und unterlagen. Debray in seiner Zeit als „Cheftheoretiker“ des Focismus nutzt diesen Erfahrungswert seinerseits, um die Ausweglosigkeit eines (isolierten) urbanen Guerillaprojektes zu unterstreichen und die strategisch. Bedeutsamkeit der ländlichen Verankerung der Guerilla hervorzuheben. Er schreibt, „die städtische Guerilla (nutzte sich) in einem Krieg auf, in dem beim Kräftegleichgewicht in den Städten die Zeit gegen sie arbeitete; die ländliche Guerillabewegung verwendete dagegen dieselbe Zelt still und heimlich, um die politische Infrastruktur für ihre zukünftigen militärischen Aktionen aufzubauen“. Als Resümee hält er fest, dass „sie (die Stadtguerilleros der FALN, Anm. mg) teuer für ihre Pionierrolle (bezahlten)“.
Wir können an dieser Stelle nicht die gewiss spannende und interessante Diskussion in der revolutionären Linken der 60er und 70er Jahre um das PRO & Contra das Focismus aufmachen und uns in Details verlieren. Wir wollen nur darauf hinweisen, dass die Kontroverse um städtischen Aufstand und/oder ländlichen Focus, Vorrangig- oder Nachrangigkeil der Stadtguerilla eine zentrale war. Besonders der in der Debray-Schrift „Revolution in der Revolution?“ formulierte Dualismus zwischen Stadt- und Landgebiet war ein heftiger Streitpunkt unter den DiskutantInnen und PraktikerInnen der revolutionären Organisationen und Befreiungsbewegungen in aller Welt.
Des Weiteren ist es die Aufgabe dieser Zeilen deutlich zu machen, dass bereits vor den Tupamaros in Uruguay in anderen lateinamerikanischen Ländern das Projekt Stadtguerilla in Angriff genommen und umgesetzt wurde.
Wir halten nochmals zum Mitschreiben fest: die Tupamaros waren nachweislich nicht die „erste Stadtguerilla weltweit“, sondern hatten in den FALN und dem MIR in Caracas/Venezuela Anfang der 60er Jahre bzw. den FAR in Guatemala-Stadt Vorläufer. Debray schreibt, wie wir gesehen haben, bezüglich der FALN von einer „Pionierrolle“. Nur ein kleiner Einschub: Es verstört auch uns manchmal, dass wir eigentlich in jedem lateinamerikanischen Land bewaffnete Organisationen finden, die abgekürzt ELN, MIR usw. heißen. Auch die bolivianische Guerilla unter Che Guevara nannte sich, wie die hier besprochene in Venezuela, „Nationale Befreiungsarmee“ (ELN). Heute ist vor allem die ELN neben den FARC in Kolumbien bekannt. Also, lasst Euch nicht von den immer wiederkehrenden identischen Abkürzungen irritieren.
Zurück nach Uruguay, der „Schweiz Lateinamerikas“. Wir wollen nicht pedantisch sein, aber Kraushaars Recherchen sind uns an etlichen Passagen in seinem Buch schlichtweg ein Graus. Da plaudert er ohne Angabe seiner Quelle von „den bereits seit 1964 in Uruguay im Untergrund operierenden Tupamaros“. Kraushaars Leistung: Ein Halbsatz, zwei sachliche Fehler. Im Gegensatz zu Kraushaar betreiben wir keinen Quellenschutz und stützen uns auf die Interviewaussage von Huidobro, einem der schon erwähnten Mitbegründer der Tupamaros, der auf die Frage „Wann entstehen die Tupamaros als Organisation?“ wie folgt antwortet: „im ersten Kongress und in dessen Vorbereitungstreffen in Parque del Plata 1965“. Eine Organisation, die noch nicht existiert, kann zudem kaum aus dem „Untergrund operieren“. Wie jede Organisation dieser Welt, hatten die Tupamaros verschiedene (direkte) Vorläuferr und mehrere interne personelle, ideologische und strukturelle Veränderungen durchzustehen, die sich bis ins Jahr 1963 zurückverfolgen lassen. In dieses Jahr fallen auch die ersten Illegalisierungen von Genossen und der „Coordinador“, aus dem später die MLN-Tupamaros hervorgegangen sind.
Warum die Tupamaros sich (fast) ausschließlich auf das städtische Terrain konzentrierten lag primär an der Topografie Uruguays. Es gab nicht wie in Brasilien oder anderen lateinamerikanischen Ländern ausgedehnte Gebirgsketten oder Dschungelwelten. Der urbane Guerillakampf war die einzige Option mangels territorialer Alternativen. Man kann sagen, dass aus dieser topografischen Notlage heraus die Stadtguerilla als Strategie auserkoren werden musste. Wir haben in unserem Text „(Stadt-)Guerilla oder Miliz?“ angemerkt, dass selbst die räumlich begrenzte Einöde Uruguays, den Tupamaros als Schlupfwinkel oder Rückzugsfeld für Vorbereitungen von bewaffneten Operationen diente.
Unabhängig davon, welche Stadtguerillagruppierung für sich in Anspruch nehmen darf, die „erste“ gewesen zu sein, kann man die Frage stellen, ob nicht für die 60er Jahre die „Aktion der Nationalen Befreiung“ (ALN) von Carlos Marighela als Stadtguerilla „typischer“ war als die Tupamaros. Zum einen hat sich die 1968 gegründete ALN nicht aus einer „topografischen Notlage“ wie die Tupamaros für den Primat des urbanen Guerillakampfes ausgesprochen. Die sozio-ökonomische Analyse der Gegebenheiten Brasiliens war dafür ausschlaggebend. Zum anderen hat die ALN unseres Wissens nach mit dem „Handbuch des Stadtguerilleros“ (Juli 1969) als erste Gruppierung die Taktiken und Strategie einer Stadtguerilla als ausformuliertes Konzept vorgelegt.
Für die Tupamaros war bis Anfang der 70er Jahre charakteristisch, in kurzen schriftlichen Statements und Anekdoten bspw. zu bestimmten Aktionen in die Öffentlichkeit zu treten. Erst Anfang 1971 im Zusammenhang der Wahlkampagne und Gründung des linken Bündnis „Frente Amplio“ (Breite Front) erschien das erste detaillierte Programm der Tupamaros. Allerdings heißt das nicht, dass die Tupamaros Mitte/Ende der 80er Jahre über keine formulierten programmatischen Überlegungen verfügten Carlos Nunez hat in dem oft herangezogenen Buch „Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay – RAF in der Bundesrepublik“ einige dieser Ausführungen zusammengetragen die sich u.a, auf die Beziehung von Massenpartei und bewaffnetem Kampf beziehen.
Dennoch ist richtig, dass die Tupamaros jahrelang in erster Linie für sich selbst sprechenden Aktionen und den dadurch erzielten Nimbus des Verwegenen und Nicht-Fassbaren setzten. „Die Tupamaros drücken ihre Theorie durch die Aktion aus, und, besser noch, durch die bewaffnete Aktion“, so die Lobpreisung des Situationisten Emile Marenssin. Daraus resultierte die vielzitierte „Faszination“ der Tupamaros im In- uns Ausland. Debray hat 1971 in einem Text, in dem er sich positiv auf die Tupamaros bezieht, diesen Sachverhalt folgendermaßen formuliert: „Hier haben wir also: eine Armee, die keine Armee ist, populär, aber im Untergrund kämpfend; ohne Trossen, ohne Uniformen, ohne Oberbefehlshaber. Eine Partei, die keine ist, lange Zeit ohne offizielles politsches Programm, ohne ideologische Arbeit, ohne Zeitung, ohne polemische Diskussionen mit anderen politischen Kräften“ Für Debray heben sich die Fehler und Defizite in der Politik der Tupamaros im Gegensatz zu den früheren Stadtguerillaprojekten auf. „Was 1964“, so Debray, „bezüglich der Grenzen der Stadtguerilla aufgrund der venezolanischen Erfahrungen richtig war, gilt nicht mehr für das heutige Uruguay“. Interessant ist in diesem Debray-Beitrag, dass er seinen vormals allein aufs Ländliche bezogenen Focismus anhand des Beispiels der Tupamaros in die Urbanität verlagert. Erwähnt sei hier nur, dass Debray wahrlich ein ideologischer Wandlungskünstler ist; in den 80er Jahren hat er es als Berater bis an die Seite des damaligen französischen Präsidenten Mitterand geschafft. Was macht Debray eigentlich heute?
Wenn wir von dem „typischeren“ Stadtguerillamodell der ALN aufgrund der früheren inhaltlichen Fixierung des Konzepts als bei den Tupamaros sprechen, so stützen wir uns auch auf die Ausführungen in dem ersten umfassenden und zentralen RAF-Papier „Konzept Stadtguerilla“. Wir haben ja bereits weiter oben geschrieben, dass sich die RAF auf das „Handbuch des Stadtguerilleros“ von Marighela explizit bezog und darin konkret Handlungsmuster für die eigene bewaffnete Politik .ableitete, aber die Tupamaros, wenn wir nichts überlesen haben mit keinem Wort erwähnt werden. Das erscheint uns auch folgerichtig, denn, wenn sich eine Gruppe auf den Weg macht, eine Stadtguerilla inhaltlich, praktisch, logistisch und organisatorisch zu etablieren, reicht es nicht, sich an einem geografisch fernen „Fazinosum“ zu orientieren.
Man könnte auch hier, wie bei den Beispielen städtischer bewaffneter Politik in Deutschland, einen großen historischen Sprung zurück machen und den Kampf der Pariser Kommune von 1871, den Osteraufstand 1916 in Dublin., den bewaffneten Aufstand der Sozialistischen Partei Österreichs (nicht der KPÖ!) gegen das klerikal-faschistoide Dollfuß-Regime 1934 in Wien, den Warschauer Ghetto-Aufstand von 1943 gegen die Deportationen in die Nazi-Vernichtunglager formal als eine Form von „Stadtguerillapolitik“ betrachten. Wir sollten uns, wiederum wie im ersten Kapitel, nicht an, der. Begriffswahl festklammern, ob die jeweiligen bewaffneten Verbände unter dem Titel „Stadtguerilla“ oder anders firmieren. Wir haben in unserem Text „(Stadt-)Guerilla oder Miliz?“ aufgezeigt, welche „variablen“ Bezeichnungen für die „Formate“ bewaffnete Politik in der Stadt zu finden sind: proletarische Garde, Arbeitermiliz, sozialistische Volkswehr, Metropolenguerilla, Fabrikguerilla, Frauenguerilla, etc.
Die z.B. im Vorlauf des Jahres 1918 in Österreich durch die sozialdemokratische Sozialistische Partei gebildeten Arbeiterwehren wurden 1923 in dem Republikanischen Schutzbund organisiert. Der österreichische Sozialist Karl Deutsch schreibt in seinen Nachbetrachtungen zum proletarischen Aufstand von 1934: „Es galt, eine Organisation aufzubauen, die imstande war, im Ernstfalle mit der Waffe in der Hand für die Rechte der Arbeiterklasse zu kämpfen. Die Kampfesorganisation musste, um erfolgreich wirken zu können, militärisch gegliedert und geführt werden. Das setzte nicht nur eine Änderung das Geistes voraus, der bisher das proletarische Vereinsleben beherrscht hatte, sondern «forderte auch militärfachliche Kenntnisse, die bisher dort weder üblich waren, noch besonders hoch eingeschätzt wurde“. Dieser von Deutsch kurz gekennzeichnete Republikanische Schutzbund war 1934 die treibende (irreguläre) militärische Kraft in den Wiener ArbeiterInnenvierteln gegen den Einfall der reaktionären Heimwehren des Dollfuß-Regimes.
Allen genannten und vielen nicht genannten Darstellungen bewaffneter städtischer Kämpfe ist das Charakteristikum eigen, dass sie Ausdruck einer „Irregulären Kampfesführung“ in einem urbanen „Kleinkrieg“ (Guerilla) sind. Dabei ist an dieser Stelle keine Sortierung vorgenommen worden, ob die einzelnen aufgeführten Beispiele in die Rubriken „Putsch“, „Aufstand“, bewaffneter Generalstreik“ oder sonst wie eingeordnet werden können. Das setzt genaue Studien des jeweiligen untersuchten städtischen Kampfes voraus, die wir hier nicht leisten können; wir sind ja schließlich keine SoziologInnen oder MilitärhistorikerInnen. Fakt ist aber auch, dass nicht nur die von uns exemplarisch ausgewählten bewaffneten Politiken äußerst heterogen sind und dies nicht nur hinsichtlich ihrer zeitlichen Umstände und ihres „Verpackungsnamen“, sondern das ebenso die paramilitärischen Kämpfte, die namentlich einheitlich unter „Stadtguerilla“ laufen, dieselbe ideologische, klassenspezifisch., methodische etc. Heterogenität aufweisen.
Letztlich geht es uns hier darum zu zeigen, dass bewaffnet ausgetragene Kämpfe in städtischem Terrain, die oft, aber nicht zwingend, unter dem Stichwort „Stadtguerilla“ zusammengefasst werden, wahrlich keine Erfindung der Tupamaros aus Uruguay sind, weder überhaupt noch im Kontext das „Epochenumbruchs“ im Zuge von 68. Jede diesbezügliche Behauptung wird sich nicht aufrechterhalten lassen können, auch wenn sie von dem „renommierten Politikwissenschaftler“ Kraushaar verbreitet wird.
3) Die Stadtguerilla in der BRD – Ausdruck einer „antisemitischen Kontinuität“?
Wir wollen uns nun mit der von Kraushaar behaupteten bruchlosen Kontinuitätslinie des Antisemitismus in Stadtguerillagruppen der BRD beschäftigen. Wir haben im ersten Kapitel versucht aufzuschlüsseln, dass Kraushaars „Kontinuitätslinie“ hinsichtlich des vorsuchten Anschlages auf die Jüdische Gemeinde in Berlin vom 9. November 1969 mit einem Konstrukt beginnt. Er ist davon getrieben, die von Ihm zur „ersten deutschen Gruppierung einer Stadtguerilla“ aufgebauschten „Tupamaros Westberlin“ (TW) an den Anfang des bewaffneten Kampfes in der BRD zu platzieren. Dabei „unterschlägt“ er alles, was seine These unterstützen könnte, denn wir haben es hier weder mit der ersten Stadtguerilla in der BRD zu tun, noch mit einer Organisationsstruktur, die überhaupt diese „Dienstbezeichnung“ verdienen könnte. Nur bei der größtmöglichen Ausblendung von Sachverhalten kann man zu der Unterstellung gelangen, dass Stadtguerilla und Antisemitismus von Beginn an ein Paar sind.
Gut, wir wollen in diesem Kapitel nicht unsere Widerlegungen zu den „TW“ wiederholen, sondern uns den weiteren Bausteinen aus der Kraushaar’schen Kontinuitätslinie zuwenden. Lassen wir zunächst Kraushaar kurz selbst zu Wort kommen: Eine eher unterbelichtete Rollo spielte hingegen, dass mit Ulrike Meinhof die Ikone der RAF das Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft in einer eigenen Schrift ausdrücklich als modellhafte antiimperialistische Aktion gelobt hat“. Wir verbleiben nur ganz knapp bei dem Punkt, dass es sich bei dieser Aktion um kein „Attentat“, wie Kraushaar in seiner unpräzisen Art und Welse schreibt, handelt, sondern um eine Geiselnahme. Mit dieser Aktion Anfang September 1972, die im Gegensatz zu einem Attentat keine Tötungsabsicht voraussetzt, sollten 200 palästinensische Gefangene im Austausch frei kommen. 9 der 11 zu Tode gekommenen israelischen Sportler haben durch das Vorgehen der deutschen Bullen auf einem Militärflughafen bei München ihr Leben verloren. Entgegen der Absprachen mit den Kommandomitgliedern des „Schwarzen September“, die ein Ausfliegen in eine arabische Hauptstadt zum Ergebnis hatten, ließ der damalige Innenminister Genscher den Hardliner raushängen und wählte statt Diplomatie die militärische Lösung mit den bekannten tödlichen Folgen. Dieses „Desaster“ das deutschen Sicherheitsapparates wurde genutzt, um die Geburtsstunde der GSG 9 einzuläuten Offensichtlich bietet dieses frühe Ereignis des „Internationalen Terrorismus“ für die Filmindustrie so viel Stoff, dass Steven Spielberg am 23. Dezember 2005 seinen diesbezüglichen Streifen „Munich“ in den USA anlaufen lassen wird. Wir sind auf die Filmkritiken gespannt.
Mit ein, zwei Sätzen ist dann für Kraushaar offenbar der „Beweis“ erbracht, dass die „Ikone der RAF“ in diese Kontinuitätslinie des Antisemitismus der Stadtguerillagruppen der BRD unmittelbar einsortiert werden darf. So schnell kann’s gehen. Abgesehen von dem suggerierten Antisemitismus-Vorwurf fabelt Kraushaar in bekannter Butz Peters-Manier von Ulrike Meinhof als der „Ikone der RAF“, die quasi in Eigenregie Texte der RAF abfasst, weil die anderen in der Gruppe wohl des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren. Über die Hintertür wird nicht nur auf ein Kollektiv denunziatorisch gezielt, sondern einzelne Personen herausgepickt, denen man individuell ans Leder will.
Aber befassen wie uns mit dem von Kraushaar ins Spiel gebrachten RAF(!)-Papier „Die Aktion des Schwarzen September in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes“, das vom November 1972 datiert. Übrigens ist Ulrike Meinhof wie fast alle anderen aus dem Ursprungskern der RAF nach der Mai-Offensive 1972 gefasst und inhaftiert worden. Das beweist nicht, dass sie nicht möglicherweise einen Löwenanteil an der Textproduktion im Knast hatte. Es zeigt aber, dass dieses Grundlagenpapier einen neuen Abschnitt für die GenossInnen draußen bedeuten sollte, da die „Gründergeneration“ selbst aufgrund der Gefangenschaft nicht mehr aktiv und vor Ort in die Politik der Stadtguerilla eingreifen konnte, es sei denn, man reiht sich in die Staatsschutzpropaganda von der „Zellensteuerung“ ein.
In den Nachbetrachtungen zur RAF wurde auch aus Kreisen der revolutionären Linken eine Periodisierung der Politik der RAF vorgenommen. Dabei wurden Mitte der 90er Jahre von der ehemaligen „Broschürengruppe“ die Zusammenhänge mit dem von Kraushaar inkriminierten RAF-Papier wie folgt beurteilt: „Mit dem Scheitern der Mai-Offensive, den Festnahmen (...), war die – von Mao beeinflusste - marxistisch-leninistische Phase der RAF weitgehend zu Ende. Die spätere RAF-Politik war kaum noch vom Ziel Ihrer Anfangsjahre – Revolution auch hier sondern – neben der Solidarität mit dem trikontinentalen Befreiungskampf – vom Kampf gegen die staatliche Repression (insbesondere gegen die Gefangenen) und später auch von den Kämpfen der sozialen Bewegungen (Anti-AKW, Anti-Nato), die ihre revolutionäre Identität aber häufig auch weniger aus ihren Inhalten als vielmehr aus ihrer militanten Praxis zogen, bestimmt. Wir wollen jetzt hier nicht die Interpretation der „Broschürengruppe“ anhand von Details kritisieren. Uns geht es darum zumindest die inhaltliche und daraus resultierende praktische Diskontinuität der Geschichte der Metropolenguerilla RAF anzudeuten. Dies vernachlässigt Kraushaar komplett. Mit dem Erwähnen eines RAF-Papiers und des Herausgreifens eines sich selbst bestätigenden Zitats schließt aufs Ganze. Diese „Methode“ spricht jeder wissenschaftlichen Herangehensweise an einen Diskussionspunkt Hohn.
Kraushaar unterlässt es nicht nur historische Zusammenhänge zur RAF-Politik insgesamt herzustellen, er scheint auch über die ersten Zeilen des von ihm ins Visier genommenen RAF-Textes kaum hinausgekommen zu sein. Es ist auch zu vormuten, das seine selektive Wahrnehmung, die sein gesamtes Machwerk kennzeichnet, gerade bei der RAF nicht aussetzen konnte. Wie dem auch sei, hätte er es als seine Aufgabe angesehen, den Text von A bis Z durchzusehen, dann hätte ihm auffallen müssen, dass neben der Diskussion um die Aktion (des „Schwarzen September“ eine ganz andere zentral ist, nämlich die um den „Opportunismus“ in der Linken und besonders in Gestalt des Schwadroneurs Oskar Negt. Negt hat sich auf einer Kundgebung im Rahmen des Solidaritätskongresses für Angela Davis im Juni 1977 inmitten der Verhaftungswelle von GenossInnen aus der RAF öffentlich für eine Entsolidarisierung mit der Stadtguerilla („Desperados der Baader-Meinhof-Gruppe“) stark gemacht.
Aber bleiben wir bei Ulrike Meinhof bzw. der Einschätzung der „Schwarze September-Aktion durch die RAF. Ulrike Meinhof hat in einer Konkret-Kolumne 1967 unter dem Titel „Der Freunde Israels“ folgendes geschrieben: „Es gibt für die europäische Linke keinen Grund, ihre Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben, sie reicht in die Gegenwart und schließt den Staat Israel ein, den britische Kolonialpolitik und nationalsozialistische Judenverfolgung begründet haben“. Zum Spannungsfeld in Sachen Israel gehört nach Ansicht von Ulrike Meinhof auch, die geo-strategischen Motive des US-Imperialismus und die Beifallsbekundungen aus der reaktionären Ecke der BRD im Zuge der „Blitzkriege“ der israelischen Armee gegen arabische Nachbarstaaten. In diesem widersprüchlichen „Freundschaftsgestrüpp“ habe sich nach Ulrike Meinhof die europäische Linke inhaltlich selbst zu verorten.
Unbestritten ist, dass fünf Jahre später eine Verschiebung der Positionierung in dem RAF-Papier im Gegensatz zu den vormaligen Aussagen von Ulrike Meinhof festzustellen ist. Wie jeder Vergleich, so hinkt auch dieser an einem entscheidenden Punkt. Ging es in Ulrike Meinhofs Kolumne zentral um die unterschiedlich motivierten Sympathien für den Staat Israel, geht es in dem RAF-Papier um einen Solidaritätsausdruck mit dem palästinensischen Befreiungskampf vor dem Hintergrund der Massaker von 1970 in Jordanien durch die Clique von König Hussein und den Auswirkungen der Besatzungspolitik Israels. Übrigens lässt sich der Gruppename „Schwarzer September“ auf dieses Ereignis in der palästinensischen Widerstandsgeschichte zurückführen. Diese aktivistische Gruppierung betrat im November 1971 mit der Liquidierung des jordanischen Premierministers Wasfl Tell, des „Henkers von Amman“, erstmals die öffentliche Bühne. Klar, die Aussage wonach die Aktion des „Schwarzen September“ als „gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch“ betitelt wird, steht und wird von Kraushaar zitiert. Es wird bei einer solchen Verkürzung des Zitierens ignoriert, dass sich in dieser Aktion widerspiegelt, den Kampf aus den Peripherien in die Metropolen getragen zu haben – und zwar namentlich in die BRD: „Die Genossen des Schwarzen September haben ihren eigenen Schwarzen September 1970 (...) dahin zurückgetragen, wo dieses Massaker ursprünglich ausgeheckt worden ist: Westdeutschland – früher Nazideutschland – jetzt imperialistisches Zentrum“. An einer anderen Stelle wird von der RAF kritisch hervorgehoben, auch wenn sie es nicht als Kritik verstanden wissen will, „dass es besser gewesen wäre, Genscher als Geisel zu nehmen“.
Die RAF hat mit diesem Papier, nicht, wie Kraushaar im Subtext aufscheinen lassen will, einer Fortsetzung dar Shoa mit anderen Mitteln das Wort geredet, sondern „antiimperialistisches Bewusstsein“ in der Metropole BRD zu schaffen versucht: Jeder, der im Befreiungskampf der Völker der Dritten Welt seine politische Identität findet, jeder, der sich verweigert, jeder, der nicht mehr mitmacht: ist revolutionäres Subjekt – Genosse“.
Es ist nicht unser Job, dieses RAF-Papier in allen Einzelheiten zu verteidigen, und den Neugierigen sei gesagt, dass wir es auch nicht tun. Unser Job ist es aber, für ein Mindestmaß an Differenziertheit bei der heutigen Auslegung von Texten zu streiten, die die Guerilla vor 30 Jahren unter spezifischen Bedingungen verzapft hat. Diesen Text bzw. die Politik der Stadtguerilla RAF insgesamt als „antisemitisch grundiert“ zu bezeichnen, zeugt von einem hohen Grad an intellektueller Verwirrtheit. Nur so als Einschub: wir haben uns sehr gewundert, dass Kraushaar nicht die Karte Horst Mahler gezückt hat, der als frühes, später entferntes, RAF-Mitglied und Autor des Papiers „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ seine Aktien am Zustandekommen des bewaffneten Kampfes in der BRD hat und als „bekennender Antisemit“ heute regelmäßig in Gerichtssälen seine Ergüsse zum besten gibt. Diesen Nachtrag auszugestalten überlassen wir aber gerne Kraushaar
Wie kontrovers und gleichfalls differenziert dieser Versuch einer Gefangenenbefreiung durch den „Schwarzen September“ in der revolutionären Linken Europas diskutiert wurde, zeigt eine 1972 im Merve-Verlag übersetzt veröffentlichte Artikelserie aus der italienischen Zeitschrift „Il manifesto“. In den Artikeln finden sich sowohl uneingeschränkte Sympathien für den „Schwarzen September“ als auch eindeutige Distanzierungen. In einer prononciert vorgetragenen Stellungnahme der „Il manifesto“ – Redaktion heißt es zum Verlauf dieser hitzigen Debatte „Hoch die Genossen vom Schwarzen September! Nieder mit den Terroristen von München! Auf diese beiden gegensätzlichen Positionen lassen sich die erregten Briefe (...) zusammenfassen: auf der einen Seite die totale Zustimmung zur Aktion des palästinensischen Kommandos, auf der anderen die Verdammung, begründet mit unkritischer Ablehnung des Terrorismus, oder sogar mit vollständiger Ablehnung jeder Gewalt als Mittel der Revolution. Stellen wir hier gleich klar, daß wir keineswegs eine Mittelstellung zwischen beiden Gegensätze einnehmen. In der Tat nehmen wir für uns in Anspruch, daß wir innerhalb einer Front stehen (…) Wir haben unsere Kritik an der Wirksamkeit der politischen Linie des Schwarzen September (...) vorgebracht, anders gesagt: wir diskutieren mit den Angehörigen dieser palästinensischen Organisation als Genossen, die in einem gemeinsamen Kampf stehen, nicht als rechthaberisch urteilende Professoren.“
Ohne die politischen Umstände und historischen Gründe von „exemplarischen Aktionen“ und „Akten des Individuellen Terrors“ zu verkennen, positioniert sich „Il manifesto“ unmissverständlich, indem sie ausführen, daß „die Verzweiflungstat fast immer Ihrem Urheber und seiner politischen Zielsetzung (schadet); sie fügt dem Gegner keinen Schaden zu, sondern gibt Ihm eher noch zusätzliche Waffen in die Hand; sie trifft unschuldige Opfer auf beiden Seiten und kann in manchen Fällen nur zum blutigen Ende führen.“ Als banales wie richtiges Fazit bleibt, daß „Individuelle Verzweiflungsakte“ von Massen verstandene und aktiv mitgetragene Aktionen auf Dauer nicht adäquat ersetzen können.
OK, wir haben uns bei der RAF, ihrem bereits damals vieldiskutierten Text und den Geschehnissen vom September 1972 im olympischen München etwas länger aufgehalten. Vor allem ging es uns darum aufzuzeigen, daß es seit Jahren, eigentlich seit Jahrzehnten gängige Praxis ist, allen Schrecken dieser Welt bei der RAF abladen zu wollen. Leider können sich die Genossinnen als Kollektiv nicht mehr wehren; wir dachten uns, da helfen wir doch ein bisschen aus.
Zwei Kettenglieder hat Kraushaar in seiner Kontinuitätslinie des Antisemitismus in den Stadtguerillagruppen der BRD noch vorrätig. Kraushaar führt die „Flugzeugentführung der Revolutionären Zellen“ an, „In deren Verlauf im Sommer 1976 in Entebbe deren Anführer Wilfried Böse eine Selektion zwischen jüdischen und nichtjüdischen Geiseln herbeiführte“.
Vorweg kann man festhalten, dass nicht die Bewegung 2. Juni oder die RAF- einen zwischenzeitlichen Schwerpunkt ihrer klandestinen Aktionen der praktischen Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf und gegen die zionistische Besatzungspolitik sahen, sondern die Revolutionären Zellen. Dabei wurden in den 70er Jahren u.a. Anschläge auf die israelische Fluggesellschaft El-Al, die israelische Obstimport Gesellschaft Agrexco oder eine deutsche, mit Israel geschäftlich verbundene, Maschinenfabrik verübt. Aber noch Ende der 80er Jahre haben die RZ bspw. im Laufe der ersten Intifada einen Brandanschlag auf eine Firma durchgeführt, die israelisches und südafrikanisches Obst in der BRD umschlägt und transportiert. In der Anschlagserklärung wurde eine Klammer zwischen der Politik Israels und Südafrikas hergestellt: „Als Reservoirs für billige Arbeitskräfte erfüllen die sog. besetzten Gebiete in Palästina dieselbe Aufgabe wie die sog. Homelands in Südafrika. Es ist kein Zufall, dass die beiden Apartheid-Regimes in Israel und Südafrika eng miteinander zusammenarbeiten (...)“.
Mit diesem kleinen vorweggenommenen Exkurs soll nur angemerkt werden, dass antizionistisch definierte klandestine Aktionen in bestimmten Abschnitten integraler Bestandteil der RZ-Politik waren. Mit dem Zitat aus der Anschlagserklärung dokumentieren wir exemplarisch den anti-bevölkerungspolitischen Begründungszusammenhang, der dieser spezifischen Aktion zugrunde lag. Das deshalb, weil Kraushaar mit dem von uns aufgenommenen Zitat zu „Entebbe“ die GenossInnen der RZ pauschal in seine Kontinuitätslinie des Antisemitismus der Stadtguerillagruppen der BRD einbaut, ohne auch nur eine Aktion der RZ, die sich auf die Politik Israels, mit zionistische Siedlungspraxis oder den palästinensischen Widerstand etc. bezieht, zu untersuchen.
Wir übergehen an dieser Stolle den durchaus diskussionswürdigen Punkt, ob die RZ nach den von uns fixierten Kriterien eher ein Vernetzungsmodell militanter Gruppen, mit ganz punktuellem Einsatz von Schusswaffen (Stichwort: Knieschüsse), darstellen oder eine Stadtguerilla (nach eigener Definition bezeichneten sich die RZ u.a. als sozialrevolutionäre Basisguerilla).
Kommen wir nun zu „Entebbe“. Ende Juni 1976 wurde durch ein gemeinsames Kommando von je zwei RZlern und zwei Angehörigen einer palästinensischen Organisation (angeblich der PFLP) eine Linienmaschine der Air France auf dem Flug von Tel Aviv nach Paris entführt. Mit dieser Geiselnahme sollte die Freilassung von mehr als 50 Gefangenen aus fünf Staaten durchgesetzt werden. Nach einer Zwischenlandung im ugandischen Entebbe verschanzte sich das Kommando mit Geiseln aus Israel und Frankreich in einem Flughafengebäude. Alle anderen Passagiere aus anderen Ländern wurden freigelassen, da aus diesen Ländern keine Gefangenen freigepresst werden sollten. Eine herbeigeeilte israelische Spezialeinheit stürmte das Gebäude mit dem. Ergebnis, dass alle Kommandomitglieder zwei Geiseln und mehrere unbeteiligte ugandische Soldaten erschossen wurden. Der eigentliche Punkt, an dem sich in der Öffentlichkeit, der Linken und Anfang der 90er Jahre in den RZ selbst die Diskussion entzündete, war, ob es eine „Selektion“ von jüdischen PassagierInnen gegeben hat oder nicht. Kraushaars Quellenpolitik ist auch an dieser Stelle, um es vornehm auszudrücken, sehr bescheiden. Hinsichtlich „Entebbe“ zieht er bspw. nicht die Originalaussagen der RZ heran, die mit dem Papier „Gerd Albartus ist tot“ im Dezember 1991 ihren Anfang nahmen. Nein, er stützt sich auf die filmische Sekundärquelle „Unternehmen Entebbe“, ein „Hetzfilm“, dessen Kinovorführungen Anfang 1977 in mehreren Städten verhindert wurden. Es bleibt nichts anderes übrig, als dass wir selbst noch mai in die Unterlagen schauen und die Primärquellen zitieren, denn dort ist die von Kraushaar als definitiv gesetzte „Selektion“ um Einiges differenzierter beschrieben. Die RZ-Gruppe des Papiers „Gerd Albartus ist tot“ hat als erste des RZ-Zusammenhangs von einer „Selektion“ der FlugzeuginsassInnen nach ethnischen Kriterien gesprochen: „Das Kommando hatte Geiseln genommen, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass. sie Juden waren, soziale Merkmale. wie Herkunft oder Funktion, die Frage der gesellschaftlichen Stellung oder der persönlichen Verantwortung, also Kriterien, die wir eigentlich unserer Praxis zugrunde legten, spielten in diesem Fall keine Rolle. Die Selektion erfolgte entlang völkischer Linien“.
Eine andere RZ-Gruppe, die mit dem Zusatz „Tendenz für die internationale soziale Revolution“ in dieser Debatte in Erscheinung trat widerspricht dieser. Version: „Mit der Entführung (...) sollten 53 gefangene Genossinnen und Genossen aus Knästen in Israel, der BRD, Kenia, der Schweiz und Frankreich durch den Austausch. von Geiseln befreit werden. Von diesen fünf Staaten waren nur Passagiere aus Israel und Frankreich an Bord. Diese Passagiere mit israelischer und französischer -Staatsbürgerschaft sowie die französische Crew wurden als Geiseln festgehalten, alle anderen aus ganz anderen Ländern entlassen. Eine Auswahl von Jüdinnen und Juden hat es nicht gegeben. Indem die Verfasser des Nachrufs in völlig unkritischer Weise die bürgerliche Medienpropaganda (Selektion von Juden...) zur Wahrheit erklären zeigt sich nicht nur ihre politische Unreife sondern auch ein unsägliches Misstrauen gegenüber den eigenen beteiligten GenossInnen. Die kritisierte RZ-Gruppe des „Albartus-Papiers“ antwortet und verweist darauf, dass „wir aber bei unserer Feststellung (bleiben), dass im Verlauf der Entebbe-Aktion selektiert worden ist, dass die KZ-Überlebende Dora Bloch Jüdin und belgische Staatsbürgerin war“. Hier sei noch hinzugefügt, dass die KZ-Überlebende Dora Bloch während der Geiselnahme bzw. des Austauschversuchs einen Herzanfall erlitt und in ein ugandisches Krankenhaus verbracht wurde, wo sie vermutlich verstarb. Ihr Schicksal konnte aber nicht vollständig geklärt werden (vgl. radikal 154, Juni 1996).
Die in diesem radikal-Beitrag grundsätzlich getroffene politische Einschätzung zu „Entebbe“ teilen wir. Sie schreiben: „An Entebbe ist vieles grundsätzlich zu kritisieren, z.B, dass Flugzeugentführungen immer beliebig und nicht zielgerichtet sind, da Geiseln in ihre Situation schlicht dadurch rutschen, dass sie zum falschen Zeitpunkt im falschen Flieger sitzen. Durch diese Beliebigkeit werden sie zur Manövriermasse im Machtpoker zwischen linken Gruppen und den Regierungen (...) Eine derartige Aktion kann keinen sozialen Befreiungsgehalt haben und eignet sich grundsätzlich nicht für linksradikale Politik (...) Eine andere Frage ist es, ob man das (also „Entebbe“, Anm. mg) antisemitisch nennen kann. Man sollte nicht vergessen, dass das Ziel der Aktion eine internationale Gefangenenbefreiung durch ein internationales Kommando war (...) Für den pauschal erhobenen Vorwurf des Antisemitismus gibt es jedoch keine Grundlage. Allein aus Aktionen gegen israelische Firmen (...) kann man keinen Antisemitismus ableiten. Es sei denn jede Aktion gegen staatliche Einrichtungen von Israel wird als an sich antisemitisch bezeichnet. Dieser Vorwurf unterscheidet aber nicht mehr zwischen den Menschen, die nach Israel aufgrund antisemitischer Verfolgung fliehen mussten, und einem militarisierten staatlichen Apparat“.
Kraushaar verleiht den Revolutionären Zellen durch den „Selektions“-Vorwurf das Verdikt des Antisemitismus, ohne sich um eine nachvollziehbare argumentative Beweisführung zu scheren. Weder zeichnet er den Fall „Entebbe“ in seinen Einzelheiten nach, noch trifft er Aussagen zur klandestinen Politik der RZ, die weit mehr umfasst als einige kontextgebundene antizionistische Aktionen. Alles das bleibt außen vor; dennoch belegt er eine beinahe zwanzigjährige Gruppengeschichte unisono mit diesem Stigma, wenn er die RZ in die antisemitische Kontinuitätslinie der Stadtguerillagruppierungen packt.
Eigentlich könnte man vermuten, dass nach soviel geschichtlicher Klitterung und zusammengestümperten Halbheiten mal gut sein müsste. Doch dem ist nicht so. Kraushaar versteigt sich zu der Aussage, dass es „jedoch ganz unzweifelhaft (ist), dass der Antisemitismus für die in Deutschland operierende Stadtguerilla nichts weniger als ein Konstituens gewesen ist, ein Konstituens, das sich – wie die Geschichte der RAF beweist – als kontinuitätsstiftend erwiesen hat“. Hier muss also wieder die RAF herhalten; offensichtlich eine Müllkippe, auf die jeder pseudointellektuelle Schrott ungestraft entsorgt worden darf.
Diese Aussage steht bei Kraushaar im Kontext, wonach „die als antizionistisch ausgegebene, in Wahrheit antisemitisch grundierte Ausrichtung der Stadtguerilla von Anfang an und, wie der Fall der 1999 verhafteten Andrea Klump beweist, bis zu ihrem Zerfall in den neunziger Jahren inhärent gewesen (ist)“ In der diesbezüglichen Fußnote wird Andrea Klump als „RAF-Mitglied“ bezeichnet.
Worum geht es bei diesem „Fall“? Am 23. Dezember 1991 wurde auf einen Reisebus jüdischer Emigrantinnen in Budapest ein Bombenanschlag verübt bei dem glücklicherweise niemand getötet wurde. Zu dieser Aktion bekannte sich eine Gruppe Namens „Boegung zur Befreiung Jerusalems“. Andrea Klump hat nach ihrer Festnahme in Wien, bei der ihr Begleiter Horst-Ludwig Meyer erschossen wurde, im Vorlauf des späteren Prozesses aufgrund der Beweislast eingestehen müssen, dass sie diesen antisemitischen Bombenanschlag logistisch unterstützt hat. Entscheidend ist aber, um bei Kraushaars Kontinuitätslinie zu bleiben, dass die RAF oder einzelne Mitglieder dafür in keiner Weise haftbar gemacht werden können, da selbst die Bundsanwaltschaft (BAW) wie auch der Richterspruch keine (ehemalige) Mitgliedschaft Klumps In der RAF feststellen konnten! Das kann man im Gerichtsurteil gegen Andrea Klump oder in knapper Form in vergangenen Verfassungsschutzberichten schwarz auf weiß nachlesen. Kraushaar braucht aber diese Verblendung, um seine Kontinuitätslinie vom 9.11.69 bis zum 23.12.1991 aufrechterhalten zu können. Wir möchten an dieser Stelle auf einen hervorragend recherchierten Text zu diesem Thema aus der Zeitschrift Kassiber vom Mai 2005 verweisen, in dem nach unserer Kenntnis die Vorgänge um den Anschlag in Budapest am exaktesten beschrieben und politisch bewertet werden (einschließlich der Lebensläufe von Klump und Meyer).
Selbst Gerd Koenen, Ex-KBWIer und jetzt ebenfalls Autor von Abrechnungsromanen, die sich schwerpunktmäßig der Stadtguerilla in der BRD befassen („Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus“), hält Kraushaars Ausspruch von der „ungebrochenen Wirksamkeit eines antisemitischen Latenzzusammenhangs“ für „fraglich, auch angesichts der Befunde“. Weniger eine virulente Kontinuität des Antisemitismus in den Stadtguerillagruppen der BRD ist augenscheinlich, als dass die „Urszenen des deutschen Terrorismus“ u.a. durch das Engagement von geschickt platzierten V-Leuten bestimmt waren. Der vielzitierte „Ex-Agent Urbach“ konnte sich als Lieferant von „bombenähnlichen Körpern“ in der „Szene“ profilieren.In der Rolle des Berliner Amtes für Verfassungsschutz beim Anschlagsversuch auf die Jüdische Gemeinde vom 9.11.1969 erblickt man „vielleicht den größten Skandal seiner Art in der Geschichte der alten Bundesrepublik“ so Koenen resümierend.
Der (aufgedeckte) Einfluss der staatlichen Konterrevolution auf die Geschichte der Politik der revolutionären Linken ist immer wieder frappierend. Von den italienischen Verhältnissen brauchen wir jetzt gar nicht zu sprechen. Das Interesse, fundamentaloppositionelle Tendenzen oder Bewegungen durch die Lancierung bestimmter Aktionsformen oder einer bestimmten Auswahl von Anschlagsobjekten zu diskreditieren, wird uns immer wieder zu beschäftigen haben. Der „Urban-Komplex“ ist hierfür ein gutes Lernbeispiel.
4. Die faktische Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus durch Kraushaar
Wie können bei Kraushaar nicht als Motiv ausmachen, dass es ihm tatsächlich um eine sachliche Diskussion um Antisemitismus in der Geschichte und Gegenwart der (revolutionären) Linken geht. Seine Herzensangelegenheit scheint es zu sein, dem bewaffneten Kampf in Form der Stadtguerilla durch seine Stigmatisierung der vergangenen Kämpfe für alle Ewigkeit das Licht ausblasen zu wollen. Wir geben freimütig zu, wenn Kraushaars schriftlichen Fingerübungen auch nur an den entscheidenden Stellen einen einer Prüfung standhaltenden Wahrheitsgehalt hätten, wir würden alle Überlegungen unsererseits zu einer potenziellen Aufnahme einer bewaffneten Propaganda einstellen. Mit einer solchen „Hypothek“, die man nicht abtragen könnte und sich stattdessen nur kontinuierlich vergrößern würde, gäbe es auch aus unserer Sicht keine Rechtfertigung von Stadtguerillapolitik.
Als KommunistInnen schließen wir jede „antisemitisch grundierte“ Politik aus – das ist ein Grundsatz. Das ist kein Lippenbekenntnis, das man mal so eben an gewünschter Stelle einbaut. Dabei beziehen wir uns sowohl auf religiös hergeleitete Diskriminierungen, den Antijudaismus, die eine Renaissance erleben, als auch auf biologistische und rassistische Stereotype gegenüber JüdInnen, die in dem nazistischen Versklavungs- und Vernichtungsprogramm von Auschwitz ihren Kulminationspunkt fanden. Ebenso ist ein im Gewand des „Antizionismus“ daherkommender Antisemitismus, der sich in einigen Phasen der „kommunistischen Weltbewegung“ offen artikulierte, mit keiner Silbe zu verteidigen. Mustergültig sei her auf Stalin („ein prinzipienloser und pragmatischer Antisemit“, Silberner) verwiesen. Dieser hatte bereits Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts die führenden opoositionellen Bolschewiki jüdischer Herkunft, Kamenew, Sinowjew und Trotzki, mit einer antisemitisch untermalten „Flüsterkampagne“ („Menschen ohne Treu und Glauben“, „Elemente ohne Wurzeln in ihrem Vaterlande“) der Illoyalität gegenüber dem Aufbau des Sozialismus bezichtigt. In den internen Machtkämpfen in der Kommunistischn Partei, dem Staatsapparat bzw. der sowjetischen Gesellschaft fanden sich periodisch antisemitische Anklänge. Den Höhepunkt der 30er Jahre bildeten die sog. Schauprozesse (1936-1938) bspw. gegen das „Trotzkistisch-Sinowjewtische Vereinigte Zentrum“. Während Trotzki selbst von einer „verschleierten, unangreifbaren antisemitischen Demagogie“ schreibt, meint Pollakow dazu, dass „zwischen 1936 bis 1938 der Antizionismus als ideologische Anschauung noch nicht den Antisemitismus als politisches Werkzeug im Gefolge (hatte)“. Dies änderte sich spätestens als nach dem Zweiten Weltkrieg die „Kosmopolitismus-Kampagne“ in der Sowjetunion (SU) losgetreten wurde, in der alle noch verbliebenen jüdischen Zeitungen, Verlage Theater und sonstige Einrichtungen ihre Tätigkeit einzustellen hatten. Schriftsteller, die sich der jüdischen Sprache bedienten, wurden 1948/49 verhaftet und 1952 ermordet. In diesen Zeitraum (1949-1952) fiel auch die „Säuberungswelle“ gegen vornehmlich führende KommunistInnen jüdischer Herkunft im gesamten Ostblock. Der Schauprozess im November 1952 gegen den abgesetzten Generalsekretär der KP der CSSR, Rudolf Slansky, ist dabei das bekannteste Beispiel. Das Fanal zur letzten großen Stanlin’schen Säuberung bildete die sog. Ärzteverschwörung. Dabei wurden (überwiegend jüdische) Kremlärzte verdächtigt als „Giftmischer“ im Auftrage einer „zionistisch-imperialistischen Verschwörung“ die Größen der sowjetischen Politik, einschließlich Stalin, ermorden zu wollen. Eine Rehabilitierung kam nur durch den glücklichen Umstand des Todes von Stalin Anfang März 1953 zustande. Die Prawda druckte einen Monat nach Stalins Tod eine Erklärung des Innenministeriums der SU ab, in dem die Unschuld der inhaftierten Kreml-Ärzte dargelegt wurde.
Wir sind uns bewusst, dass Beispiele von Antisemitismus in der Linken nicht allein auf die „Stalin-Ära“ zu begrenzen sind, auch wenn sie in dieser am ausgeprägtesten ausgemacht werden können. In diesem Abschnitt der „kommunistischen Weltbewegung“ konzentriert sich jener Kampf, der unter der Fahne des „Antizionismus“ geführt wurde. Vor diesem Hintergrund ist die folgende von Mario Kessler formulierte Prämisse nur zu unterstützen: „Der Antisemitismus stalinistischer Prägung beanspruchte im Geiste des Antifaschismus den Kampf gegen ‚Zionisten‘ (zu denen ohne weiteres alle wirklichen oder vermeintlichen Gegner jüdischer Herkunft ernannt werden konnten) zu führen und musste diese daher mit dem Faschismus gleichsetzten. Jede marxistische Kritik am Zionismus, sofern sie nicht ausdrücklich den stalinistischen Antisemitismus bekämpfte, wurde damit unglaubwürdig“.
Genau um jene, reflektiert vorgetragene marxistische Kritik am Zionismus geht es uns. Wobei hier eine weitere Differenzierung vorgenommen werden muss, weil es den Zionismus nicht gibt, sondern dieser verschiedene ideologische Ausprägungen (politisch-diplomatischer von Herzl, Kulturzionismus von Haam, revisionistischer Zionismus von Jabotinsky sozialistischer Zionismus von Borochow) annahm.
Stellen wir zunächst kurz dar, wie Kraushaar die „Funktion“ des Antizionismus definiert. Er macht sich dabei die Position eines niederländischen Psychoanalytikers zu eigen, in dem er schreibt, dass „die Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antizionismus als linguistische Finte“ zu bezeichnen ist, „eine Argumentationsfalle, die zu nichts anderem diene, als Aggressionspotenziale bei Ausklammerung des tabuisierten Wortes Jude bzw. Jüdisch politisch ausbeuten zu können“ Der „Antizionismus“ wird von ihm an anderer Stelle schlicht als „Tarnkappe“ benannt, um „den judenfeindlichen Anschluss wiederherzustellen“. Ein differenziertes Einsprengsel hinsichtlich des Antizionismus vergisst Kraushaar diesmal nicht: „Gewiss ist nicht jede Kritik an Israel antizionistisch und nicht jeder Antizionismus automatisch antisemitisch, gleichwohl sind mit der sich fundamentalistisch gerierenden Kritik an Israel und dem Zionismus weltanschauliche Grundmuster benutzt worden, die ganz nach belieben mit nur zu bekannten Ressentiments angefüllte werden können“.
Das, was bei Kraushaar fehlt, ist eine Darstellung dessen, was einen nicht-antisemitischen Antizionismus ausmacht. Er hinterlässt bei uns den Eindruck, um diesen differenzierenden Einschub einfach nicht herum gekommen zu sein, um nicht jedes Maß an Objektivität einzubüßen. Da nun mal eine solche Darstellung unterlassen wird und so, wie er seine Kontinuitätslinie des Antisemitismus in den Stadtguerillagruppen in der BRD argumentationsarm bis -los unterfüttert, bleibt nur die oberflächliche Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus.
Bereits in den Schriften der zionistischen Vorläufer waren die Motive der späteren durch Herzl gegründeten und wesentlich geprägten zionistischen Bewegung manifestiert worden. Zum Beispiel hat sich der Weggefährte von Karl Marx, Moses Hess, 1862 in seinem Hauptwerk „Rom und Jerusalem“ gegen die Assimilation und für eine geschlossene jüdische Siedlung in Palästina ausgesprochen. Zudem betonte er die Notwendigkeit der Wiedererweckung jüdischer Sprache und Kultur. Da die Französische Revolution einen „Völkerfrühling“ bewirkt habe, sei nach der Einigung Italiens (1859) neben der Deutschlands nur die jüdische Frage offen. Hess war der Überzeugung, dass die JüdInnen eine „Schicksalsgemeinschaft“ bildeten aus der man sich nicht beliebig ausgliedern könne, es bestünde also ein unlösbares Band zwischen allen JüdInnen. Schlussendlich lasse sich die jüdische Frage nicht individuell durch eine emanzipative Assimilation lösen, sondern eine gesicherte Existenz kann nur im Rahmen der gesamten jüdischen Nation erfolgen. Der Wiener jüdische Schriftsteller Nathan Birnbaum prägte 1890 den Begriff „Zionismus“. Zionismus kommt vom Worte Zion. Zion, der Name eines Hügels in Jerusalem, ist schon seit den ältesten Zeiten die poetische Beschreibung für Jerusalem, in weiterer Ausdehnung, da diese Stadt als der Brennpunkt jüdischen Lebens galt, die poetische Bezeichnung für diese selbst und für die jüdische Nation insofern sie in dem Boden Palästinas wurzelte und mir ihm zu einer Einheit verwachsen war. Als die römischen Legionen diese Einheit lösten, erhielt das Wort „Zion“ einen sehnsüchtigen Beigeschmack; in ihm verkörperte sich die Hoffnung auf nationale Wiedergeburt (…)“, so Birnbaum zum inhaltlichen Verständnis und romantischen Gehalt des Begriffes „Zionismus“.
Die antisemitischen Pogrome im südlichen Russland des Jahres 1881 und die „Dreyfus-Affäre“ in der Jahreswende 1894/95 in Frankreich führten zu programmatischen und organisatorischen Ausprägung der zionistischen Bewegung, für die der erwähnte Herzl mit seiner 1896 veröffentlichten Schrift „Der Judenstaat“ und dem von ihm geleiteten 1. Zionisten-Kongress 1897 in Basel („Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“) exemplarisch steht.
Die Diskussion, um eine Ablehnung oder Unterstützung der zionistischen Idee, wurde in der Diaspora kontrovers geführt. Worin setzt nun die Grundsatzkritik am Zionismus an? Diese Kontroverse lässt sich unter anderem in den Positionen jüdischer SozialistInnen und KommunistInnen Anfang des 20. Jh. widerspiegeln; insbesondere in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen dem nicht-zionistischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund von Russland, Polen und Litauen (kurz: Bund) und dem sozialistischen Flügel der zionistischen Bewegung, der Jüdischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Poale Zion (auch einfach Poale (Arbeiter-)zionismus genannt). Der Bund setzte auf die austro-marxistische Konzeption der national-kulturellen Autonomie für die jüdische Bevölkerung in den einzelnen Ländern. Die Forderung nach Schaffung von autonomen Institutionen sollte nach Ansicht des Bundes den unterdrückten Minoritäten die Möglichkeit der Ausübung sozio-kultureller Lebensformen geben. Damit sollte dann die politische und soziale Diskriminierung aufgehoben werden. Der Bund wollte keine nationalistischen Ambitionen befördern, denn es wurde weder eine territoriale Unabhängigkeit eines bürgerlichen Nationalismus, noch politische Einflussnahme im zu gestaltenden sozialistischen (Übergangs-)Staat anvisiert. Es ging lediglich darum, für die unterdrückte jüdische Minorität, jenseits territorialer zionistischer Optionen, einen egalitären Lösungsansatz in der jüdischen Frage zu suchen und zu finden.
Der Poalezionismus analysierte in der Diaspora eine sozio-ökonomische Anormalität jüdischen Lebens und setzte, wie die anderen zionistischen Anschauungen, auf eine systematische jüdische Emigration in ein bestimmtes Territorium, welches aus historischer und sozio-kultureller Sicht Palästina sein musste. Für diesen Kolonisierungsprozess sah zwar der Poalezionismus eine Zusammenarbeit mit der jüdischen Bourgeoisie vor, das politische Endziel wurde aber von Ber Borochow, dem Vordenker der Poale Zion, unzweideutig formuliert, wonach „der Sozialismus, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Liquidierung der kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse und ihre Umwandlung in kommunistische“ bedeutet.
Die Ablehunung des politischen Verständnisses der Poale Zion durch den Bund ging von der prinzipiellen Kritik am Zionismus aus, der als bürgerliche Reaktion auf den Antisemitismus und als nationalistischer versuch gewertet wurde, die jüdischen ArbeiterInnen vom diasporäischen Klassenkampf abzuhalten und sie vom nicht-jüdischen Proletariat abzusondern. Die Bund widersprach auch der Theorie der Poale Zion, wonach der Antisemitismus und die soziale Verelendung der JüdInnen in Osteuropa Konstanten seien, die nicht einmal durch eine sozialistische Umwälzung der gesellschaftlichen Grundfesten zu beseitigen wären. Der Bund hielt dem optimistischerweise entgegen, dass diese Phänomene Produkt der zaristischen Autokratie seien, die mit dem Sturz des Zaren keine Bedeutung mehr haben würden. Der Bund war die erste politische Gruppierung, die auf konfliktreiche Folgen der Palästina-Kolonisierung hinwies. Die Unvereinbarkeit zwischen dem Bundismus und dem Poalezionismus machte sich, neben der grundsätzlichen Ablehnung von Kolonialismus, an dem Assimilationismus der Poale Zion gegenüber den AraberInnen und an der, für MarxistInnen inakzeptablen, Kooperation mit der jüdischen Bourgeoisie, während der Kolonisierung und des Aufbaus ökonomischer Strukturen fest. Dass auch der Linkszionismus kein „klassisches“ Beispiel für einen befreiungsnationalistischen und antikolonialen Kampf darstellte, sondern – im Gegenteil – ein von der (imperialistischen) britischen Mandatsmacht protegiertes Kolonisationsprojekt war, kam als weiteres Argument aus der Sicht des Bundes schwerwiegend hinzu.
Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Beitrages das Verhältnis zwischen nicht-zionistischen und linkszionistischen Organisationen auf der einen Seite und den einzelnen Internationalen der ArbeiterInnenbewegung auf der anderen Seite nachzuzeichnen. Als Ergebnis dieser Beziehung bleibt die Tatsache, das sowohl das territorialistische bzw. palästina-zentrierte Konzept des Poalezionismus als auch die Forderung nach einer national-kulturellen Autonomie des Bundismus innerhalb der internationalen ArbeiterInnenbewegung auf z.T. fundamentale Kritik und Widerstände stießen. De zentrale Streitpunkt war und blieb, ob die jüdische (Auto-)Emanzipation durch den gesonderten Weg der Errichtung eines jüdischen Staatswesens oder im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Umwälzungsprozesses in der Diaspora erfolgen sollte. Für die beiden hauptsächlichen Strömungen des jüdischen Proletariats standen im Ergebnis die Optionen offen, entweder die Eingliederung in bestehende sozialistische Organisationen zu betreiben was die Aufgabe eines Teils bestimmter politischer Zielsetzungen hätte heißen können, oder die organisatorische Separation, was in weitgehender politischer Einflusslosigkeit münden musste.
Die jüdischen Linken Jakob Taut und Michel Warschawsky kritisieren den „nationalen Ursprungsmythos“ des Zionismus, wenn sie schreiben, „die Tatsache, dass der Zionismus Palästina als „Vaterland“ der Juden der ganzen Welt gewählt hat, weist auf den religiösen Faktor in seiner Ideologie hin. Das scheinbare Band, das die Juden mit Palästina verknüpfen soll, liegt etwa zweitausend Jahre zurück; die so genanten „historischen Rechte“ sind also nur eine unwirkliche und irrationale Vorstellung, die auf die Antike zurückgeht“. Sie halten aufgrund ihrer betont antizionistischen Position fest, dass „die Besiedelung Palästinas und die Schaffung einer unabhängigen jüdischen Gesellschaft und eines jüdischen Staates notgedrungen a) zur Vertreibung der einheimischen arabischen Bevölkerung, b) einem ständigen Bündnis mit dem Imperialismus (…) c) zur Schaffung einer europäischen Gesellschaft, die der sie umgebenden arabischen Welt fremd war (…) führten.
Abraham Leon, früherer Funktionär der linkszionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair und späterer Leiter der belgischen Sektion der trotzkistischen IV. Internationale während des zweiten Weltkrieges argumentiert ähnlich wie Taut und Warschawsky gegen das (verspätete) Nationalisierungsprojekt der zionistischen Bewegung(en): „Die zionistischen Theoretiker leiben den Vergleich des Zionismus mit allen anderen nationalen Bewegungen. Aber in Wirklichkeit sind die Grundlagen nationaler Bewegungen und die des Zionismus völlig verscheiden. Die nationale Bewegung der europäischen Bourgeoisie ist eine Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung; sie spiegelt den Willen des Bürgertums wider, sich der feudalen Überreste zu entledigen (…) Im 19. Jh., der Blütezeit der Nationalismen, war das jüdische Bürgertum jedoch weit vom Zionismus entfernt und in großem Maße assimilierungswillig (…) Erst als der Prozess der Bildung der Nationen seinem Ende zuging, als den entfalteten Produktivkräften die nationalen Grenzen zu eng geworden sind, beginnt man, die Juden aus der kapitalistischen Gesellschaft auszustoßen. Der moderne Antisemitismus entsteht (…) Weit davon entfernt, Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte zu sein, ist der Zionismus gerade eine Konsequenz des totalen Stillstands der Entwicklung, das Resultat der kapitalistischen Erstarrung. Während die nationale Bewegung das Ergebnis der Entfaltung des Kapitalismus ist, ist der Zionismus ein Produkt der imperialistischen Ära.“ Leon behauptet zudem, dass „der Zionismus (versucht) den Mythos des ewigen Judentums zu schaffen, das ständig mit denselben Verfolgungen habe kämpfen müssen.“ Diese Aussage gipfelt bei Leon in der Interpretation, wonach der zionistische Gedanke „den Antisemiten mit seinen Theorien über die objektive Notwendigkeit der jüdischen Auswanderung nur die Waffen lieferte“.
Es gibt Leute, die schaffen es, solche (durchaus strittigen) antizionistischen Gegenstimmen pauschal dadurch wegzubügeln, in dem sie jenen GenossInnen vorwerfen, von einem „jüdischen Selbsthass“ zerfressen zu sein. Als Paradebeispiel für den von dem Kulturphilosophen Theodor Lessing in einem Buch bezeichneten „jüdischen Selbsthass“ gilt Otto Weininger. Der „jüdisch Selbsthass“ bzw. der „jüdische Antisemitismus“ ist nach Lessing Ausdruck der „Psychopathologie der jüdischen Volksgeschichte“. Weininger, der 1880 als Sohn jüdischer Eltern in Wien („das hitzigste Zentrum judenfeindlicher Hetzte im deutschen Sprachbereich“ , Pollakow) geboren wurde und während seiner akademischen Laufbahn zum Protestantismus konvertierte, legte seine krude Gedankenwelt in seinem Machwerk „Geschlecht und Charakter“ dar. Darin verschmolz die Geschlechts- und rassenanthropologische Pseudowissenschaft zu einer theoretisierten Wahnwelt der sittlichen und geistigen Unterlegenheit der Frau und des Juden. Das Potential an Weiblichkeit eines Volkskörpers bestimmt nach Weininger die Stellung auf der Sprossenleiter der menschlichen Hierarchie. Während er das Judentum kulturalistisch als Geistesrichtung und psychische Disposition auslegt, von der man sich quasi selbst emanzipieren könne, konstruiert er die Weiblichkeit zu einer biologistischen Kategorie, die frau nicht durch die Annahme einer anderen Denktradition auflösen kann, sondern nur durch die Tilgung des weiblichen Prinzips an sich.
Wir halten mit diesem kleinen Ausflug fest, dass jeder Versuch der Vermengung der antizionistischen Standpunkte von Taut, Leon u.a. mit einem sexistischen und rassistischen Biologismus sowie einem kulturalistischen Antisemitismus – wie von Weininger exemplarisch propagiert – inhaltlich unzulässig sind.
Den ganz Schlauen sei auch gesagt, dass wir uns keine „jüdischen Kronzeugen“ herangekarrt haben, um einen nicht-antisemitischen Antizionismus zu verteidigen. Unsere Aufgabe sehen wir darin aufzuzeigen, welche Diskussionen und Standpunkte bei KommunistInnen (auch jenen jüdischer Herkunft) in verschiedenen Zeitabschnitten zu Fragen von Zionismus, Antisemitismus und Palästina bestanden und heute weiterhin bestehen. Dnn wir behaupten, dass das, was der Sozialhistoriker Eric Hobsbawn als Prämisse (für jüdische Linke) setzt, generell für die revolutionäre Linke zu gelten hat. Er schreibt: „Das Entscheidende an einem jüdischen Marxisten, auch wenn er das erhalten will, was heute ein eingesessenes jüdisches Volk in Israel ist, besteht darin, dass er kein Zionist ist“.
Und hier wären wir über Umwege wieder bei Ulrike Meinhof und ihrer Konkret-Kolumne von 1967, in der die Widersprüchlichkeit des Verhältnisses der (revolutionären) Linken zum Staat Israel zum Ausdruck kommt. Für ein manichäisches Weltbild ist hier weder in einer philosemitischen Form der bedingungslosen Unterstützung der regierungsamtlichen israelischen Politik, noch in einer Form nach dem Motto „Kampf dem künstlichen Zionistengebilde“ Platz. Der Zionismus bzw. die Zionismen und die Staatsgründung Israel sind Produkte des grassierenden Antisemitismus in Europa seit Ende des 19. Jahrhunderts. Die zionistische Bewegung kann einerseits mit den übrigen „nationalen Erweckungstendenzen“ Europas (bedingt) verglichen werden, aber andererseits ist der Zionismus aufgrund des strukturellen Antisemitismus ein quasi oktroyierter Nationalisierungsprozess, da eine soziale und rechtliche Emanzipation der jüdischen Bevölkerung nirgends garantiert ist.
Bemerkung am Rande: Die Kategorie des strukturellen Antisemitismus ist in der Linken durchaus umstritten. Die AnhängerInnen der wertkritischen Theorie-Ansätze (z.B. die „Exit“-Gruppe um Robert Kurz) verwenden diesen Terminus. Wir räumen an dieser Stelle gerne ein, dass wir uns nicht in der Lage sehen, diese wertkritischen Positionen innerhalb der Linken kurz, knackig und vor allem verständlich zu erklären. Nur so viel: Gegenüber der wertkritischen Verwendung des Begriffes struktureller Antisemitismus wenden andere theoriebewanderte Genossinnen ein, dass bspw. Personalisierungen der Kapitalismusanalyse oder das Einwerfen einer Bankenscheibe nicht an sich „antisemitisch strukturiert“ sind. Würde man allein gebrauchte Begrifflichkeiten („Finanzkapital“, „zersetzend“ usw.) und Scherbenhaufen nach einer Demo skandalisieren, verbliebe man auf der Ebene von Assoziationen und Phänomenen ohne bis zur Analyse vorzudringen (vgl. analyse + kritik 387, 21.10.2005).
Zurück zum eigentlichen Thema: „Die Logik des Antisemitismus als zentraler kapitalistischer Krisenideologie“ (Kurz), die regelmäßig und jederzeit mobilisiert werden kann, macht Israel zu einer potenziellen Zufluchtsstätte für verfolgte JüdInnen aus aller Welt. Zufluchstätte zu sein, ist aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer sichereren physischen Existenz als anderswo; wenn wir uns den jahrzehntelangen blutigen Palästina-Konflikt vor Augen führen.
Robert Kurz analysiert in seinem Buch „Weltordnungskrieg“ die Spezifik Israels, indem „Israel nicht bloß ein Staat unter Staaten und ein Konkurrent des virtuellen palästinensischen Staates ist, sondern gleichzeitig ein auf die ganze Welt bezogenes Paradigma gegen den mit kapitalistischen Reproduktionsformen untrennbar verbundenen Antisemitismus und damit trotz seiner Involviertheit in das westliche-imperiale Gefüge gleichzeitig ein Widerstandspotential gegen die letzte krisenideologische Reserve des Weltkapitals“. Ausgehend von dieser Betrachtung, so Kurz, „(ist) Israel dasjenige unter allen Ländern, das im Rahmen einer neuen emanzipatorischen Weltbewegung am letzten die staatliche und nationale. Existenz hinter sich lassen kann“.
Von daher ist das Existenzrecht Israels für (revolutionäre) Linke nicht in Frage zu stellen, schon gar nicht von Leuten aus dem NS-Nachfolgestaat, wo es der Linken in keinem relevanten Maße vor 1945 gelungen ist, gegen den Nazismus und Auschwitz die Waffen zu erheben. Ein Infragestellen Israels ist allein deshalb Unfug, weil es eine seit Jahrzehnten existierende nationalstaatliche Realität ist. Für einen neuerlichen (gewaltsamen) Exodus von Jüdinnen und Juden einzutreten verbietet sich für die (revolutionäre) Linke von selbst.
Israel nimmt – und das gehört zu seiner Widersprüchlichkeit- aufgrund seiner geostrategischen Lage objektiv eine imperialistische Brückenkopffunktion (ähnlich wie die Türkei) ein. Dabei ist Israel aber neben den reaktionären Dynastien der arabischen Halbinsel nur ein Verbündeter „des westlichen Öl-Imperialismus“ (Kurz). Der wahhabitische Gottesstaat in Saudi-Arabien übernimmt bspw. seit Jahrzehnten als „sub-souveränes Regime“ die Funktion eines „Flugzeugträgers“ und „militärischen Hilfssheriff“ für die „gesamt-imperiale Weltpolizei“ (Kurz). Israels geostrategische Bedeutung ist für die imperialistische Triade keineswegs in Stein gemeiselt. Gerade die Ressourcensicherung in Sachen Ölvorkommen verlagert sich mehr und mehr in den kaspischen Raum (z.B. Aserbaidschan). Inwieweit Israel irgendwann einmal mehr Klotz am Bein als Brückenkopf ist, ist kaum verlässlich zu prognostizieren.
Die israelische Regierungspolitik steht und stand reaktionären Regimes in der Regel näher, als (antiimperialistischen) Befreiungsbewegungen (z.B. Apartheid-Südafrika). Manche behaupten aus heutiger Wahrnehmung, dass diese Positionierung Israels aufgrund des „verkürzten Antiimperialismus einer nachholenden Modernisierung“ vieler später verstaatlichter Befreiungsorganisationen gerechtfertigt war und ist. Mit einem solchen eurozentristischen Zynismus lässt sich jeder antiimperialistische Befreiungskampf in den drei Kontinenten gegen einen neo-kolonialistischen Status quo per Fingerschnippen verleumden. Wie dem auch sei: Die Unterstützungsverlautbarungen aus erzkonservativen Kreisen der BRD für die israelischen „Blitzkrieg-Erfolge“ von 1961 gegen die arabischen Nachbarn können jedenfalls nachgeschlagen worden. Entscheidender für heute ist aber die innerisraelische Situation, in der Ultra-Orthodoxe gegen die (zumeist säkularen) zionistischen Ideale der Begründer das Staates Israel agitieren, Vertreter eines ethnischen Rassismus gegen die „arabischen Fellachen“ polemisieren und die ehemals starke, tief mit den säkularen und sozialpolitischen Aspekten des Zionismus verbundene Linke immer mehr gesellschaftliches Terrain verliert. Diese innerisraelische Polarisierung greift um sich und die Aussicht, dass die ultra-orthodoxe Perspektive eines biblischen Großisraels vom Nil bis zum Euphrat, die zudem rassistisch aufgeladen ist, auf mittlere Sicht in Israel mehrheitsfähig wird, scheint realistischer zu sein, als dass die säkularen und moderaten Positionen der israelischen Linken wieder an Boden gewinnen.
Diese Entfaltung der ultra-orthodoxen und nationalreligiösen Offensive im heutigen Israel kann man aber nicht völlig von der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Zionismus abzukoppeln. Wir haben weiter oben auf die verschiedenen Strömungen des Zionismus und auf dessen „Ursprungsmythologie“ hingewiesen. Innerhalb des Zionismus, besonders in seiner revisionistischen Ausprägung, lassen sich sowohl klar artikulierte Anleihen an einen Faschismus italienischer Prägung finden, als auch religiöse Sektierergruppierungen die die zionistische Pionierarbeit als Sprungbrett für ein theokratisches Groß-Israel benutzen und sich somit als anti-zionistisch gebärden, da sie den verweltlichten Staat Israel nicht anerkennen.
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass man mit jeder Simplifizierung der Politik Israels Schiffbruch erleiden wird. Es bleibt als revolutionäre Linke In der BRD nur, was allerdings keine sehr zeitnahe Perspektive ist, das Knüpfen von Bezugspunkten zu der sich solidarisch aufeinander beziehenden palästinensischen und israelischen Linken. Zudem ist speziell darauf zu setzen, dass die säkulare Linke in Israel an die Wand gespielt wird und gleichfalls die palästinensischen GenossInnen nicht in den Sog der sich vollziehenden Islamisierung bis zur politischen Unkenntlichkeit versinken. Zu mehr, als diese vagen Hoffnungen auszusprechen, können wir von hier aus nicht beitragen.
In der Debatte um das Verhältnis zum palästinensischen Befreiungskampf in der (revolutionären) Linken ist der vermeintlich besondere Stellenwert des Antizionismus für deutsche Linke hervorgehoben worden. Ingrid Strobl schreibt in einer literarischen Aufarbeitung zu diesem Thema, dass die „blinde Leidenschaft für den Kampf des palästinensischen Volkes, einer Leidenschaft, dito alles, was ich für andere Völker oder Minoritäten empfand, die auch um Gerechtigkeit kämpften und Freiheit, übertraf“.
Es handelt sich dabei vielleicht um einen subjektiven Eindruck, der aber in seiner Verallgemeinerung für die Internationalistische Solidaritätsarbeit der (revolutionären) Linken unzutreffend ist. Nicht erst der Prozess der Marginalisierung der palästinensischen Linken im Widerstand gegen die israelische Besatzungspolitik und die Hegemonie des politischen Islam haben die Solidaritätsbekundungen drastisch reduziert und das Reflexionsvermögen erhöht. Einerseits spiegelt sich hier wider, dass in der Linken Befreiungsbewegungen immer nur temporär auf der Beliebtheitsskala ganz vorne rangieren, je nach dem wie hip der jeweilige trikontinentale Kampf für die Metropolenrevoluzzer war und wie viel Projektionsfläche man damit verbinden konnte. Andererseits ist es eine Lehre aus der Islamisierung der Iranischen Revolution von 1979, dass ein Siegeszug des klerikalen Faschismus gerade für die (revolutionäre) Linke blutig bezahlt werden wird und für die (revolutionäre) Linke in den Metropolen keinen taktischen Bezugspunkt darstellen kann. Das heißt nicht, eine eurozentristische Brille aufzusetzen, denn die Bündniskonstellationen der palästinensischen Linken mit islamitischen Organisationen kann von unserem Ausguck aus nicht hinreichend beurteilt werden. Erstens kennen wir die spezifische Situation vor Ort nur unzureichend, und zweitens haben wir uns nicht anzumaßen Zensuren zu verteilen. Wir verweisen nur darauf, dass der Sturz des Schahs im Iran wenigstens im historischen Rückblick deutlich gemacht hat, dass politischer Islam und (revolutionäre) Linke im Kampf um die und mit den Massen keine Bündnispartner, sondern Todfeinde sind.
In der Summe teilen wir die Aussage der schon ins Spiel gebrachten radikal-Ausgabe Nr. 154 (Juni 1996): „Der verbreitete Eindruck, dass die Solidaritätsbewegung mit den PalästinenserInnen stärker gewesen sei als andere internationalistische Kampagnen und zudem aus einem Antisemitismus der deutschen Linken heraus erfolgte, ist falsch und denunzierend. Die Solidarität mit Vietnam war weitaus breiter. Die traditionelle linke Solidarität mit Lateinamerika begann 1972 mit der sozialistischen Allende-Regierung und dem Militärputsch in Chile 1973, wurde im Laufe der 70er Jahre breiter und umfasste später Nicaragua und EI Salvador. Die Soliarbeit zu Palästina ist zwar ziemlich kontinuierlich gelaufen – bis spät in die 80er hinein – aber man kann nicht behaupten, dass die radikale Linke überdurchschnittlich viel Solidarität mit Palästina entwickelt hätte. (In dem Standardwerk „Hoch die internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte Welt Bewegungen in der Bundesrepublik“, wird sie nicht einmal erwähnt)“. Gerade der sehnsüchtige Blick nach Lateinamerika war für die Linke in der BRD über lange Zeiträume hinweg charakteristisch. Mit dem aufkommenden Zapatismus in Mexiko/Chiapas erfuhr dieser eine Renaissance bis weit ins zivilgesellschaftliche Lager hinein. Oft konnte man sich des Eindrucks nicht erwähren, dass, um so geographisch entfernter der jeweilige Befreiungskampf stattfand, um so leidenschaftlicher dieser von der BRD aus unterstützt wurde.
Uns geht es nicht darum, mit dem Bandmaß die Papierberge der Solidaritätsbekundungen für einzelne trikontinentale Befreiungsbewegungen nachzumessen, um dann bestimmen zu können, wie relevant einzelne Organisationen und Länder für die (revolutionäre) Linke in der BRD waren. Wir wollen damit nur deutlich machen, dass die Kraushaar’sche Zentrierung der internationalistischen Solidarität auf Palästina durch die Stadtguerillagruppen in der BRD schlicht und einfach Quatsch ist Des Weiteren ist darauf zu achten, dass die Trennschärfe zwischen der Ablehnung von Ethnisierung und Kolonialismus (Antizionismus) und einer religiösfundamentalistischen, kulturalistischen und/oder biologistisch-rassistischen Diskriminierung (Antisemitismus), die bis zur industriellen Vernichtung wie im Nazismus reichen kann, nicht verwischt wird. Mit einer Einebnung dieser sachlichen Differenz durch den inflationären Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfes würde man zudem im Vorbeigehen die Singularität von Auschwitz nivellieren.
Dass dabei der „Antizionismus“ als Deckmantel für eine antisemitisch konnotierte Politik funktionalisiert wurde und wird, kann kaum gegen eine weitere kontextgebundene Verwendung dieses Begriffes und der Kritik an einer entsprechenden Politik sprechen. Würden wir einer derartigen Logik folgen wollen, müsste faktisch jeder Begriff und jeder politische Ansatz, auf die die (revolutionäre) Linke meint ein Exklusivrecht zu haben, auf den Index. Das geht bekanntermaßen bis hin zur Übernahme eines chicen autonomen Dress-Codes durch Nazis.
Wegzudrücken ist auch nicht, dass in der seit Jahren aufgeheizten Debatte um den Palästina-Konflikt in der revolutionären Linken, die Flanke zu einem linken Anti-Arabismus weit aufgemacht worden ist. Latente Rassismen haben hiermit in „unseren“ Zusammenhängen ein politisch rationalisiertes Ventil gefunden, um sich wie im Falle des viel geschmähten „deutschen Normalbürgers“ auch einmal so richtig Luft verschaffen zu können. Nur schlecht kaschierte xenophobe Abwehrreaktionen sind auch in der heterogenen Linken nichts Unbekanntes.
Phänotypisch als AraberInnen definierte Personen geraten nicht nur von deutschen Staatswegen in den Generalverdacht Unterstützer „antisemitischer Selbstmordattentäter“ oder gar selbst potentiell Märtyrer zu sein, sondern in Teilen „unserer“ Szenen wird sich an der Kriminalisierung kräftig beteiligt – bis hin zum Denunzieren und Anzeigen von Leuten aus der revolutionären Linken durch „anti-deutsche“ Hilfstruppen bei Bullen und Staatsschutz. Der aktuelle Konflikt in der Roten Hilfe (RH) ist hierfür leider ein beredtes und mahnendes Beispiel zugleich.
5) Kraushaars Leitmotiv: Die Diskreditierung von Stadtguerilla und bewaffnetem Kampf
Wir haben anfangs nicht verstanden, was Kraushaar meint wenn er schreibt, dass „es einer nicht ganz unerheblichen Bereitschaft (bedarf), vielleicht sogar eines gewissen Durchhaltevermögens den hier angedeuteten, zum Teil ganz unterschiedlichen Linienführungen zu folgen. Sie wirken zunächst nicht selten wie voneinander separierte Figuren, denen es eines inneren Zusammenhanges ermangelt“. Nach der Lektüre dieses Blendwerkes können wir nur sagen, wie Recht der Mann doch hatte, es fehlt der „innere Zusammenhang“ und zwar komplett.
Selbst der reißerische Buchtitel „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“ von Kraushaar soll bestimmte Assoziationsketten in den Hirnwinden der LeserInnen auslösen. Der Horror bewaffneter Politik der Stadtguerillagruppen in der BRD soll sich mit dem Antisemitismus amalgamieren. Nach allem, was wir hinsichtlich der Ausführungen von Kraushaar zu widerlegen versuchten, gehen wir davon aus, dass er die Schlagworte „missglückter Bombenanschlag“, „die Bombe vom 9. November 1969“ etc. gezielt als Stilmittel einsetzt, um seinem von uns unterstellten Hauptmotiv der Diskreditierung des bewaffneten Kampfes zu folgen.
Albert Fichter, der sich selbst als „Bombenleger“ bezichtigt hat, hat das Selbst-Laborat, das zum Einsalz kommen sollte, seinen Erinnerrungen nach rekonstruiert. Wie von dem im Buch abgedruckten Foto der „Bombe“ eingeschätzt werden kann, handelt es sich um eine (defekte) Brandsatzvorrichtung. Der vom Staatsschutz zur „Explosion“ gebrachte „Nachbau“ dieser Vorrichtung aus der Jüdischen Gemeinde wirkt doch eher wie ein bestelltes Arrangement für ein eindrucksvolles Pressefoto. Selbst der von Kraushaar zustimmend zitierte zeitweilige Weggefährte von Kunzelmann, Ulrich Enzensberger, spricht von einem „Brandsatz“.
Das kann und soll nicht den. Sachverhalt relativieren, dass dieser Anschlagsversuch auf eine jüdische Einrichtung in der BRD ein in jeder Beziehung illegitimes Aktionsvorhaben war und hinsichtlich der Wahl des Ortes als auch des Begründungszusammenhanges nur als antisemitisch (de-)qualifiziert werden kann. Der Seriosität wegen ist es aber unzulässig, einen Brand- nicht von einem Sprengsatz unterscheiden zu können. An diesem Aspekt wie an vielen anderen von uns diskutierten Aussagen von Kraushaar lässt sich die tendenziöse Auslegung und das Zurechtbiegen von „Tatbeständen“ nachzeichnen, die das gesamte Buch von Kraushaar wie ein roter Faden durchziehen.
Ende der 60er Jahre „vermischen sich“, nach Kraushaar, „mit der zunehmenden Gewaltentgrenzung und dem wachsenden Antizionismus (...) zwei Tendenzen“, d.h. „zwei Tabus (wurden) zugleich durchbrochen“: die Unterscheidungen in der Gewaltfrage zwischen Protest und Widerstand und die zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen wurden angeblich zur „Makulatur“. Außerdem wurde Israel als Zufluchtsstätte für Holocaust-Überlebende „zum legitimen Angriffsziel erklärt“, Die „Steigerung der Gewaltmittel“ suchte sich „neue Angriffsobjekte“. Und diese Entwicklung mündete dann in dem Kraushaar’schen Konstrukt von den „Tupamaros Westberlin (TW) als der „ersten deutschen Stadtguerilla-Gruppierung“, denen es als „erste bewaffnete Gruppe“ vorbehalten blieb, den „ersten terroristischen Angriff überhaupt gegen Juden zu richten“. Zu diesem Konstrukt gehört auch, um die Analogien zurechtzuzimmern, dass sich dieses amorphe Gebilde „TW“ an den „Tupamaros in Uruguay als der ersten Stadtguerilla-Gruppierung weltweit“ anlehnte. Die Kontinuitätsstrecke des Antisemitismus bewegt sich dann von den „TW“, über Ulrike Meinhof, die RZ bis hin zum „RAF-Mitglied“ Andrea Klump. Eine krude Mixtur, die als gradlinige Abfolge vorkauft wird. Bewaffneter Kampf und revolutionäre Gewalt sind einzig mit dem Antisemitismus verquickt, als Konstituens und Kontinuum. So einfach können komplexe Zusammenhänge der verschiedenen Stadtguerillaprojekte der BRD sein, wenn man sich als Geschichtenerzähler betätigt. Nur ist diese „Kontinuitätslinie dos Antisemitismus der deutschen Stadtguerilla“, wie wir in den vorangegangenen Kapiteln erklärt haben, in keiner Weise eine „tatsachengestützte Analyse (ein Lieblingswort von Otto Schily), sondern einzig dünnflüssige Auslese aus dem Kraushaar’schen Dickdarm.
Kraushaars publizistisches Ziel bzw. das des Hamburger Instituts für Sozialforschung um Jan Philipp Reemtsma scheint es mit den diesen beiden Veröffentlichungen („Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“, „Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF) zu sein, den letzten Nagel in den Sarg des bewaffneten Kampfes in der BRD einzuschlagen: insbesondere den des Antisemitismus in der Stadtguerilla von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende
Diese Masche hat, wie erwartet werden konnte, ihren Widerhall in der bürgerlichen Presse gefunden und an dieser wird in einigen Teilen der „Linken“ gerne weiter gestrickt. Ganz im Sinne von Kraushaar wusste schon Ivo Bozic in der Jungle World, dass „eine politische Aufarbeitung“ des bewaffneten Kampfes „jedenfalls mit dem .Antisemitismus beginnen (müsste)“. Auch Leute wie Götz Aly (Die Welt, 14.7.05) stoßen ins selbe Horn. Uns ist es an dieser Stelle zu blöde, ausführlich darauf hinzuweisen, dass mitnichten ein „Antisemitismus“ die Essenz der Stadtguerillapolitik in der BRD war. Die Dokumentationsbände bspw. zur RAF oder den RZ liegen seit mehreren Jahren vor. Das Aufschlagen des Inhaltsverzeichnisses genügt, um das thematische Spektrum ihrer militanten und bewaffneten Praxis sowie ihre politischen Konzeptionen von sozialer Revolution und Antiimperialismus auf einen Blick erfassen zu können.
Das, was uns doch sehr überrascht hat, ist, dass Kraushaar offensichtlich von seiner monopolartigen Stellung in Sachen Auslegung von 68 und allem, was sich darum herum befindet, so überzeugt ist, dass eine sachliche Überprüfung seiner „Studio“ außerhalb seiner Vorstellungskraft zu liegen scheint. Ansonsten können wir uns nicht erklären, wie ein solch schludriges Manuskript vom Lektorat in den Druck gelangen konnte.
Gut, diese Vorgehensweise macht es uns aber im selben Atemzug einfach, zu vorurteilsfreien, Ergänzungen, Richtigstellungen und Widerlegungen zu kommen. Ärgerlich nur, dass solche Reaktionspapiere unsererseits immun viel Zeit, Kraft und Nerven kosten und uns in zeitlichen Verzug zu dem bringen, was wir eigentlich an Politik praktisch werden lassen wollen. Wir können nur sagen, dass jene, die unserem Baron von Kraushaar folgen wollen, keine „politische Aufarbeitung“ des bewaffneten Kampfes in der BRD wünschen, sondern dessen definitive Beerdigung. Selbst der „Leichnam RAF“ muss, wie Kraushaar zelebriert, periodisch von Neuen erlegt worden, um jede Reanimierung des bewaffneten Kampfes bereits im Keim zu ersticken.
Kommen wir zum Abschluss unseres Papiers nochmals auf die „Gewalt(-Frage)“ in der Stadtguerilla zurück, die nach der Kraushaar’schen Denkakrobatik unmittelbar mit einem inhärenten Antisemitismus zusammenfällt. Auf dieser Verknüpfungsschiene will Kraushaar, wie wir jetzt mehrfach betont haben, seine eigentliche Intention der Diskreditierung revolutionärer Gewalt und des bewaffneten Kampfes ins Rollen bringen. Damit dieser Zug nicht weiter Fahrt aufnehmen kann, muss er zum Entgleisen gebracht worden. Wir meinen, wir haben auch allen Grund dazu.
Unsere erste Denksportaufgabe lassen wir Eric Hobsbawm für uns lösen: „Gewalt gehört zu jenen Modewörtern, die Ende der sechziger Jahre aufkamen und sich dadurch auszeichnen, dass sie ganz besonders nichtssagend sind. Jeder redet über Gewalt, aber keiner denkt wirklich darüber nach“. Mit dem vergebenen Etikett Gewalt lassen sich gut und schnell andere Positionen und Praxen stigmatisieren. Das Gewaltmonopol des Staatsapparates ist dabei die heilige Kuh, die uneingeschränkt zu akzeptieren und zu verteidigen sei. Dieses Gewaltmonopol ist nach Max Weber das Identitätsprinzip des in modernen bürgerlichen Staates, sein Lebenselixier. Den in Gesetzestexte gegossenen Strafkatalogen bzw, deren inhaltliche Auslegung von der Gerichtskanzel aus obliegt es, was als inkriminierbare Gewalt definiert wird und was nicht. Wir kennen die ganzen gedanklichen Kurzschlüsse, die sich um die Annerkennung des staatlichen Gewaltmonopols ranken. Kraushaar ist da überhaupt keine Ausnahme.
Für unsere zweite Denksportaufgabe halten wir uns im Sinne des französischen Philosophen Merleau-Ponty daran, dass wir als KommunistInnen die Gewalt nicht erfunden, sondern vorgefunden haben. Das ist aus dem ersten Denksportakt deutlich geworden. Daraus folgt, dass wir als KommunistInnen in der Anwendung revolutionärer Gewalt unser Widerstandsrecht wahrnehmen, denn unsere Gewaltlosigkeit würde nur die institutionalisierte Gewalt reproduzieren. „Es ist unter Marxisten üblich, und historisch angemessen, die befreiende Gewalt sehr anders einzuschätzen als die unterdrückende Gewalt“ (Brückner). Wir können festhalten, dass dem staatlichen Gewaltmonopol „die Anerkennung und Ausübung eines höheren Rechts und die Pflicht des Widerstandes als Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung der Freiheit (...) als potentiell befreiende Gewalt (gegenüber steht)“ (Marcuse).
Wir wollen nicht als gedanklich träge gelten, aber für unsere dritte Denksportübung möchten wir auf den Genossen Lenin zurückgreifen. In der Unterscheidung des (Klassen-)Charakters der jeweiligen gewalttätigen Handlung, zugespitzt in der Kriegsführung, betont Lenin, dass „der Charakter eines Krieges (ob er ein reaktionärer oder ein revolutionärer Krieg ist) nicht davon abhängt, wer angegriffen hat und in wessen Land der Feind. steht, sondern davon, welche Klasse den Krieg führt, welche Politik durch den gegebenen Krieg fortgesetzt wird“. Damit wird zum einen ausgedrückt, dass wir faktisch unter dm Existenz eines innerstaatlichen Gewaltmonopols und u. a.. militärisch durchgesetzter weltweiter Herrschaftskonstellationen keine Wahl zwischen gewaltfrei und gewaltvoll haben, sondern nur die Wahl zwischen verschiedenen Gewalten Und da ziehen wir die „potentiell befreiende Gewalt“ (Marcuse) doch ausdrücklich vor.
Damit verknüpft, kommen wir zu unserer vierten und letzten Denksportaufgabe: dem Krieg nach innen und nach außen. Lenin spricht davon, dass „der Krieg (nach außen, Anm, mg) das Spiegelbild der Innenpolitik (ist)“. Denn in Anlehnung an Clausewitz liegt in dem Charakter des Krieges (nach außen) die Fortsetzung der (Innen-)Politik mit anderen Mitteln zugrunde. D.h. im Umkehrschluss aber auch, dass eine temporäre Abmilderung klassenspezifischer Auseinandersetzungen im Inneren mit der Rhetorik einer „Friedenssicherung“ im Globalmaßstab zusammenfällt. Im zu Ende gegangenen Wahlkampf der Partei, die den Bundeskanzler stellte, konnte diese Argumentationsweise exemplarisch beobachtet werden.
Als Bilanzierung halten wir folgendes fest: Revolutionäre Gewalt, die ein, aber erfahrungsgemäß ein unverzichtbares Mittel der Erkämpfung einer egalitären Gesellschaft ist, kann sich der Definition nach nicht auf den herrschenden Legalitätsrahmen beziehen. Sie müsste dann ihren revolutionären Charakter an der Garderobe abgeben. Denn man hätte einen sozialhistorischen Stillstand postuliert, wenn man das in vergangenen Zeiten erkämpfte Privileg des staatlichen Gewaltmonopols und die bürgerliche Klassenjustiz als unveränderlich ansehen würde. Soweit kommt es noch. Marx hat bereits in den Anfängen seines politisch-philosophischen Wirkens und Schaffens die Dialektik der Kritik der Waffen und die Waffe der Kritik herausgestellt: „Ich denke an die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, freilich rücksichtslos in dem Sinne, dass sich die Kritik nicht vor ihren Resultaten fürchtet, ebenso wenig wie vor Konflikten mit den bestehenden Gewalten“. Diesem fühlen wir uns verpflichtet, denn hier kommt zum einen zum Ausdruck, dass der Gegensatz zur Praxis nicht die Theorie, denn diese in der Praxis enthalten ist. Zum anderen ist der Gegensatz zur Praxis nur eine „Theorie“, die nichts zu tun hat mit der Praxis und nichts weiter ist als eine belanglose Erfindung eines bornierten Bewusstseins.
Die revolutionäre Gewalt beruft sich erstens auf die Legitimität, die realexistierenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen, also institutionalisierte Gewaltverhältnisse, an der Wurzel zu packen. Die ideologischen Staatsapparate mögen sich zwar, für die Erhaltung ihrer Eigentumsordnung einen Schutzmantel der Legalität umhängen, aber eine Auszeichnung der Legitimität von Ausbeulung und Unterdrückung werden wir Ihnen nicht verleihen. Die erkämpfte kommunistische Gesellschaftsform ist die erste im menschlichen Dasein, deren Sinn nicht in der Schaffung neuer „progressiverer“ Klassen liegt. Die vorausgehende Phase des Sozialismus ist ihrem historischen Sinne nach die des Absterbens der Klassengesellschaft, nicht die der Konservierung neuer Klassen- und damit Herrschaftsstrukturen. In der ständigen Kritik und Überwindung der tief verwurzelten sozialen Beziehungsgeflechte der Unterordnung und Beherrschung bis zu ihrer Aufhebung liegt der Sinn und Zweck der permanenten Revolution.
Zweitens unterliegt die Anwendung revolutionärer Gewalt der konkreten Analyse der konkreten Situation. Sie ist kein Selbstzweck, sondern eine taktische Methode einer zu erarbeitenden politisch-militärischen Strategie. Revolutionäre Gewalt wird aber in spezifischen Phasen der Klassenkonfrontation eine Dominante und Konstante sein, denn der Weg vom Klassen- zum das gesamte Land erfassenden Bürgerkrieg kann nicht ausgeschlossen werden. „Alle großen Revolutionen bestätigen das. Bürgerkriege zu verneinen oder zu vergessen, hieße in den äußersten Opportunismus verfallen und auf die sozialistische Revolution verzichten“. Ja, so ist der Lenin eben. Wir wissen doch, allein das überzeugende Wort wird nicht ausreichend sein. Deshalb ist eine vorweggenommene Tabuisierung revolutionärer Gewalt und des bewaffneten Kampfes im wahrsten Sinne des Wortes ein Akt der Selbst-Entwaffnung.
Damit verbunden bitten wir drittens ein letztes Mal für heute Lenin auf die Bühne, versprochen! Hiermit gelingt uns auch ein kleiner Schwenk zur Debatte um Miliz-Konzeptionen (vgl. unseren Text (Stadt-)Guerilla oder Miliz?, Interim 608 und 609). In militärtheoretischen und organisatorischen Fragen ging es im Zeitraum zwischen der Februarrevolution 1917 bis Anfang der 20er Jahre in Russland bzw. der jungen Sowjetunion immer wieder um den Gesichtspunkt der „Volksbewaffnung“ bzw. der Bildung einer bewaffneten Organisierung der Massen, um eine proletarische Miliz. Lenin und die Bolschewiki wandten sich entschieden gegen die bürgerlich-pazifistische Haltung in einigen Teilen der II. Internationale, die eine „Entwaffnung“ als die zentrale friedenspolitische Losung während des I. Weltkrieges ausgab. Die Forderung der „Entwaffnung“ ist für Lenin „eine völlige Preisgabe des Klassenkampfstandpunktes, und jedes Gedanken an die Revolution“. Für Lenin „(ist) eine unterdrückte Klasse, die nicht danach strebt, die Waffen handhaben zu lernen und Waffen zu besitzen nur wert, als Sklave behandelt zu werden“. Nach Lenin verdient eine Losung nur das Prädikat revolutionär, wenn sie die „Bewaffnung des Proletariats, um die Bourgeoisie zu besiegen, zu expropriieren und zu entwaffnen“ enthält. Dass er in dieser Frage eine kontinuierliche Position einnimmt, wird auch in früheren im Zusammenhang mit den Revolutionsereignissen von 1905 getroffenen Aussagen deutlich: „(...) unter Vorbereitung des Aufstands (ist) nicht nur die Bereitstellung von Waffen, -die Bildung von Gruppen usw. zu verstehen, sondern auch das Sammeln von Erfahrungen durch praktische Versuche einzelner bewaffneter Aktionen, wie zum Beispiel Angriffe bewaffneter Abteilungen gegen Polizei und Militär (...) oder Überfälle (...) auf Gefängnisse, Dienststellen der Regierung usw.“. Lenin hat ununterbrochen vor der Illusion gewarnt, dass es einen anderen Ausweg, als den des Klassenkampfes und der gewaltsamen Niederwerfung der herrschenden Klassen gibt. Die Aufgabe der revolutionären proletarischen Partei ist es, „dem Proletariat durch Propaganda und Agitation nicht nur die politische Bedeutung, sondern auch die praktisch-organisatorische Seite des bevorstehenden bewaffneten Aufstandes klarzumachen“.
Viertens haben wir auch gelernt, dass ein putschartiges Überrumpeln dr derzeitigen Machteliten eine phantastische Spielerei ist. Um diese weitgehend gefestigte Gesellschaftsformation in ihren Grundfesten zu erschüttern, werden wir mindestens eine breit mobilisierte und hoch motivierte soziale Minderheit, bei gleichzeitiger Neutralisierung der unentschiedenen oder ablehnenden Mehrheit, für die Idee und Praxis einer kommunistischen Utopie erreichen und schließlich gewinnen müssen. Weder eine modernisierte blanquistische Aufstandsvariante einer „Verschwörerclique“ noch summierte Akte des individuellen Terrors werden uns diesem Ziel wesentlich näher bringen können. Diese Methoden des revolutionären Kampfes werden aber (taktische) Akte der Destabilisierung des gesellschaftlichen Mauerwerkes sein können. Pauli Levy, der ehemalige und geschasste KPD-Vorsitzende hatte im April 1921 eine gegen die revolutionären Erhebungsversuche vom März desselben Jahres verfasste Schifft unter dem Titel „Unser Weg. Wider den Putschismus“ veröffentlicht. Darin unterstreicht er, dass nicht „jede Tollaktion ein Putsch“ sei. Aber er hebt hervor, dass „In absteigenden revolutionären Situationen Tollaktionon zu absolut zu vermeiden (sind)“ und „In aufsteigenden revolutionären Situationen Tollaktionen absolut notwendig (sind)“. Karl Radek lobt zwar die Fehler in den ungenügenden Vorbereitungen der Märzaktion von 1921, aber entscheidender war der „Wille zum Kampf“, denn es ist besser., zu siegen, als nur zu beweisen, dass man siegen wollte“. Zudem werden „Krisen einer Bewegung“ nicht durch „historische Untersuchungen überwunden“, sondern „durch proletarische Aktion“, die Erfahrungswerte billigt, um günstigere Voraussetzungen für eine neuerliche Konfrontation zu schaffen. .Wir wissen, in diesen kurzen Ausführungen steckt, um es auf heutige Verhältnisse übersetzen zu können, eine dicke Portion Planspiel drin.
Fünftens trägt revolutionäre Gewalt nicht mit allein defensive und moralische Züge, in dem sie bspw. auf die sozialtechnokratische Repression nach innen und die Imperialistische Aggression ‚nach außen per Reflex reagiert. Wiederum abhängig von der konkreten Analyse der konkreten der Situation, also vom im Moment Machbaren und vorausschauend Möglichen, kann sie offensive Züge annehmen und gestärkter Ausdruck des Kampfes für den Kommunismus sein. Wir brauchen nicht auf einen neuen 2. Juni 67 (Ermordung Benno Ohnesorgs während des Schah-Besuches in Westberlin) zu warten, um eine Rechtfertigung für unser Agieren abzuleiten. Der Anblick des Panoramas der Historie eines globalisierten kapitalistischen Systems des Kolonialismus und Imperialismus reicht aus, um zu wissen, dass kräftig in die Speichen zu greifen ist. Auf ein Entweder-Oder haben stets die VerteidigerInnen dieser Ordnung gesetzt. Zaghaft-Sein, Nachgeben, Sich-Korrumpieren-Lassen sind eher Erscheinungsformen auf unserer Seite der Barrikade. Im Wissen dass alles irgendwie komplizierter als damals ist, haben sich unsere Vorgänger schon mit dieser Problematik eingehend beschäftigen müssen, gerade hinsichtlich der revolutionären Aussichten auf der westlichen Hemisphäre: „Die Bourgeoisie zeigte den Arbeitern, dass es nur ein Entweder-Oder gibt (...) Die historischen Erfahrungen des Proletariats sagen ihm, dass die Gewalt notwendig sein wird; es hängt nur von der Bourgeoisie ab, diese Erfahrungen zu korrigieren“, so Karl Radek in einem seiner besseren Ausrufe. Wenn es nach Abwägung aller Voraussetzungen geboten ist, anzugreifen, worden wir es als KommunistInnen selbstverständlich tun. D.h., dass wir uns im Vorfeld von umfassenden Betätigungen dieser Art mit unseren taktischen Schritten, operativen Ansätzen und unserer strategischen Linie ausführlich befasst haben müssen, um nicht als Folge für unser verfrühtes Emporsteigen gleich ein Fiasko zu erleben.
Und sechstens gibt es mit Verlaub Beispiele zu allen Zeiten in allen Kontinenten, in denen sich die revolutionäre Gewalt im Rahmen eines grundlegenden Umwälzungsprozesses gegen die herrschende Gesellschaftsordnung durchsetzen konnte. Wir erleben heutzutage weit mehr revolutionäre (einschließlich konterrevolutionäre) Perioden im Sozialen, Politischen, Technischen etc. als in vergangenen Zeitaltern, deren sozioökonomische und mentale Vorbereitungen sich manchmal Jahrhunderte lang hinzogen. Von der heutigen Warte aus gesehen ist dies ein wagemutiger Geschichtsoptimismus, aber ununterbrochen in Sack und Asche zu gehen, streichelt nur die melancholische Seele. Das haben wir lange genug getan.
Um den Boden der Tatsachen nicht zu verlieren, ist unsererseits zu unterstreichen, dass die Organisierung revolutionärer Gewalt und des bewaffneten Kampfes keinen Raum für Romantizismen lässt. Wenn man sich diesen ausliefert, wird man entweder von der Alltagsmühsal der Klandestinität schnell eingefangen und/oder man holt sich, bevor man richtig anfangen konnte, als Quittung blutige Nasen ab. Wir haben uns auch immer mit Überlegungen auseinander zu setzen, die uns die Fallstricke von revolutionärer Gewalt, bewaffneter Politik und einer Metropolenguerilla aufzeigen und als Spiegel vorhalten: „Die Gewaltförmigkeit des importierten Guerilleros in den Metropolen ist mit den konterrevolutionären Rückbildungen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie verfilzt. Es ist anteilsweise die gleiche Situation, die beide produziert – die Zuspitzung ökonomisch-gesellschaftlicher Widersprüche, der Abbau von Massenloyalität, das Zerreisen von Lebenszusammenhängen. Anteilsweise aber schaffen reaktionäre Bourgeoisie und politischer Staat in ihrer gewaltförmigen Antwort auf jede Fundamental-Opposition erst das Klima für (antikapitalistische) Gewalt“. Dieses Miteinander-Verfilzt-Sein, von dem Peter Brückner spricht kann man in der Form weiter zu spitzen, dass es bestimmte gesellschaftliche Situationen gibt, in denen gewissen Fraktionen in den ideologischen Staatsapparaten ein bisschen – kontrollierte – Bambule zur rechten Zeit kam, um bspw. reaktionäre Regime zu installieren. Erinnert sei hier nur an die „Strategie der Spannung“ in den 70er Jahren in Italien als konterrevolutionäres Projekt gegen die GenossInnen der Roten Brigaden. Man muss aufpassen, nicht die nützlichen IdiotInnen abzugeben.
Es ist eine völlig vorquere Logik zu behaupten, dass jeder Ausdruck von (revolutionärer) Gewalt emanzipatorisch wäre. Wir kennen in der Geschichte der (revolutionären) Linken genügend Beispiele, wo Gewaltakte nicht nach „oben“ gerichtet waren, sondern sich wie im Falle anarchoider, paramilitärischer Verbände in der Ukraine nach der Oktoberrevolution bis Anfang der 20 Jahre des letzten Jahrhunderts auch pogromistisch und antisemitisch äußerten. Zu nennen sind hierbei z. B. die Verbände des Kosakenführers Struk, der unter der Parole „Tötet die Juden, macht die Ukraine sicher“ marodierend durch das Land zog. Auch von Einheiten des legendären Nestor Machno sind antisemitische Pogrome begangen worden. Im Unterschiel zu Struk ging allerdings Machno nach dem, was in der Literatur über die Machno-Bewegung zu finden ist, gegen antisemitische Hetze und Ausschreitungen in den eigenen Reihen konsequent vor (vgl. Vetter, M.: Antisemiten und Bolschewiki).
„Gewalt“, „Kampf“ und dergleichen kann man zudem auf einer abstrakteren Ebene „in der Form der Konkurrenz“ als die dem Kapitalismus innewohnende „allgemeine Bewegungsform“ (Kurz) betrachten. Um diesen Gedanken weiterzuverfolgen; es kann durchaus im objektiven Interesse der bzw. eines Teils der einheimischen Unterdrückten und Ausgebeuteten liegen, den auswärtigen unterdrückten und ausgebeuteten Konkurrenten loszuwerden. Die direkte Gewaltausübung kann dabei zu einem entscheidenden Mittel avancieren. Das „antisemitische Syndrom“ ist das Paradebeispiel, das eine „klassenübergreifende Anziehungskraft“ (Kurz) ausübt.
Wozu auch überhaupt kohle Veranlassung besteht, ist, sich mit einem blutrünstigen
Märtyrer-Gehabe schmücken zu wollen. Unser Grundsatz ist, damit trotz
des Gesagten kein falscher Eindruck aufkommt, dass die Möglichkeit einer
auf friedlichem Wege zu erreichenden Zielsetzung der potenziellen Notwendigkeit
von (revolutionärer) Gewalt vorgezogen wird. Unser auf Erfahrungswerte gründendes
realpolitisches Verständnis gebietet es eher, von der letztgenannten Variante
auszugehen. Das wiederum kann aber nicht bedeuten, die Formen und Konzepte “gewaltfreier
Aktionen“ zu tabuisieren oder gar ins Lächerlich zu ziehen. Diese
Aktionsformen verstehen sich sozusagen als „dritter Weg“, als Akte,
die sich zwischen einem legalistischen, passiven und duldsamen „Protest“ und
der revolutionären Gewalt bewegen. Die Grundsatzkritik der AnhängerInnen
der „gewaltfreien Aktion“ gegenüber den Befürwortern der
revolutionären Gewalt, wonach keine neue Gesellschaftsform mit alten Mechanismen,
wie Strukturen, die aus einem gewaltsamen Befreiungsprozess hervorgegangen sind,
entstehen kann, sollte man nicht einfach vom Tisch wischen. Zumal von einigen
der „Gewaltfreien“ nicht die Legitimität, sondern die Effektivität
der revolutionären Gewaltanwendung in Frage gestellt wird. Vor dem Hintergrund
dessen, dass nicht gerade wenige (gewaltsame) Revolutionsprozesse schnell ins
Stocken geraten und sozialpolitisch pervertieren, eine berechtigte (In-)Fragestellung,
der wir uns kaum entziehen können. Wie mit so vielen kontroversen Punkten
in der Militanzdebatte werden wir uns ebenso mit solchen Positionen auseinandersetzen
müssen, gerade dann, wenn eine Wirkung über den Rahmen klandestiner
Gruppenzusammenhänge erreicht werden soll. Früher oder später
wird die „Gewaltfrage“ in der Auseinandersetzung mit anderen
Die zurückzulegende Wegstrecke ist lang und steinig, aber aus unserer Sicht alternativlos. Das, was wir hier und seit Jahren propagieren, ist, dass wir auf der Basis einer kollektiven und reflektierten Wiederaneignung der Widerstandsgeschichte der weltweiten revolutionären Linken einen wichtigen Hebel sehen, zu einer tragfähigen (Neu-)Bestimmung des bewaffneten Kampfes im Rahmen eines komplexen revolutionären Aufbauprozesses zu gelangen. Die Bildung einer militanten Plattform, auf deren Grundlage sich klandestine Gruppenzusammenhänge in einer kontinuierlichen Diskussion und Aktion koordinieren, sehen wir als erste wichtige Etappe an.
Wir können uns nicht mehr im (geschichtlichen) Windschatten von RAF, RZ und anderen Zusammenhängen bewegen bzw. verstecken. Nostalgische Rückblicke der älteren GenossInnen sind dabei überflüssig. Für viele derzeit aktive GenossInnen sind diese Gruppen der revolutionären Linken in erster Linie Relikte der vermeintlich guten alten Zeit, die sie weder sinnlich mitbekommen haben, noch in den heutigen Kampfabschnitt hinüber retten konnten. Nur wenige GenossInnen von damals sorgen für eine Geschichtsvermittlung bzw. bringen sich in die aktuellen Organisierungsprozesse ein. Wir wollen nicht rundherum denunzieren und berücksichtigen ihre kräfteraubende z.T. jahrzehntelange Politik in der revolutionären Linken (einschließlich des Knastes). Für uns zeichnet sich allerdings auf ganzer Linie ein Epochenwechsel in der revolutionären Linken selbst ab. Wir und andere haben hierfür Verantwortring übernommen und werden sie weiterhin wahrnehmen. Dabei laborieren wir nicht an einer chronischen Selbstüberschätzung unseres Tätigseins Die Relevanz, die unserer Gruppe primär von außen bescheinigt wird, resultiert daraus, dass wir aufgrund unserer erkennbaren inhaltlich-praktischen Kontinuität für sämtliche Stimmungslagen als Projektionsfläche herhalten können. Eine Fokussierung im positiven wie negativen Sinne lässt sich hierbei kaum vermeiden, wenn man im weiten Rund der revolutionären Linken vorrangig mit militanter Politik identifiziert wird. Besonders hervorzustechen ist wahrlich vor dem Hintergrund dessen, was wir seit unserem Bestehen verbreiten, nicht unsere Intention. Die Zielmarge ist dagegen, dass wir mittelfristig insgesamt als revolutionäre Linke gesamtgesellschaftliche Relevanz erkämpfen und behaupten.
Auf dem Fundament unserer reichhaltigen politischen Erfahrungswerte als revolutionäre Linke in der BRD und über diesen schmalen Tellerrand hinaus werden unsere Ausgangsbedingungen für neue kollektive Anläufe liegen. Und, es ist doch nicht so, dass in den vergangenen Jahren nicht an einem inhaltlichen, praktischen, logistischen und organisatorischen Grundstock für revolutionäre Interventionen gearbeitet worden wäre. Daraus ziehen wir und andere unsere gemeinsame Zuversicht für die unmittelbare Gegenwart und mittelbare Zukunft; darauf bauen wir sinnbildlich auf ...
Liehe GenossInnen von KollektivInDie Zukunft und vom revolutionären Zirkel, wir werden versuchen, in den nächsten Wochen – spätestens zum Frühjahr – auf Eure Papiere schriftlich einzugehen. Da unser Manuskript zum „Kraushaar-Text“ zu großen Teilen vor der Kenntnis des Beitrages vom revolutionären Zirkel vorlag, wollten wir erst diesen fertig stellen, bevor wir uns an die nächste Schreibübung wagen. Also, bringt bitte noch ein wenig Geduld auf, auch wenn schon ziemlich viel Zeit verstrichen ist. Solidarische Grüße.
Für eine militante Plattform – Für einen revolutionären Aufbauprozess –
für den Kommunismus!
militante gruppe (mg), Januar 2006