Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution bei den KlassikerInnen des Frühsozialismus, Kommunismus und Anarchismus, 1. Teil
I. Der Aufbau einer militanten Plattform – Versuch einer Zwischenbilanz
Wir wollen im ersten, dem eigentlichen Text vorgeschalteten, Kapitel einige Anmerkungen zum bisherigen Verlauf der Militanzdebatte machen und uns mit einigen Diskussionspunkten zwischenbilanzierend befassen. Dazu werden wir die verschiedenen schriftlichen Reaktionen auf den Plattformprozess heranziehen. Wir werden uns dabei schwerpunktmäßig auf kritische Aspekte in den einzelnen Reaktionen beziehen, da in erster Linie in der inhaltlichen Kontroverse ein Entwicklungspotential steckt und weniger in der gegenseitigen Bestätigung.
Wir denken, dass die inhaltliche Ausformulierung einer militanten Plattform weit darüber hinaus gehen muss, bspw. lediglich ein spezifisches Modell der radikalen Linken (Revolutionäre Zellen) „mitzudiskutieren‘ (vgl. Interim-Vorwort, Interim Nr. 577, 24.1.03). Da die Etablierung und Stabilität einer militanten Plattform unserer Meinung nach wesentlich davon abhängen wird, welche umfassenden inhaltlichen, praktischen, logistischen und organisatorischen Grundlagen in der Gründungsperiode geschaffen wurden, werden wir diesen Organisierungsaufbruch ohne Auslassungen angehen. Fürwahr handelt es sich um ein Vorhaben, die Stärke einer sich formierenden militanten Plattform mit in ein strategisches Gesamtkonzept einzubauen. (Anschlagserklärung des Autonomen Widerstandes, Interim Nr. 589, 26.2.04). Wir teilen, die von geo aufgemachte Globalperspektive, wonach „es hier darum gehen (soll), wie wir wieder eine grundsätzliche Diskussion darüber hinkriegen, ob und wie linksradikale Politik wieder einen ernstzunehmenden, sichtbaren Faktor in einem gesellschaftlichen Umfeld darstellen kann und will, dessen gesellschaftspolitisches neoliberales Konzept anscheinend mit der Lebenswirklichkeit und den Lebensentwürfen von immer mehr Menschen hier und weltweit nichts mehr zu tun hat“ (Interim Nr. 593, 22.4.04). Die spezialisierte“ Militanzdebatte kann und soll aus unserer Sicht ein relevanter Aspekt dieses strategischen Gesamtkonzepts“ sein.
Da für uns perspektivisch ein gesamtorganisatorischer Rahmen vorschwebt, werden wir auch als militante Struktur notwendigerweise Guerillakonzeptionen diskutieren müssen, zumal selbst die Revolutionären Zellen in Abgrenzung zur „antiimperialistischen Metropolenguerilla RAF“ als „sozialrevolutionäre Basisguerilla“ definiert wurden. Darüber hinaus bietet sich das RZ-Modell als Folie für die Koordination nicht-strukturell vernetzter militanter Einzelgruppen nur sehr bedingt an. Neben den Aspekten, dass die RZ (nach eigener Definition) ein Guerilla-Modell repräsentieren und über einen Kern strukturell vernetzter Gruppen verfügten, geht es in unserem ersten Schritt um die Lancierung eines gewissermaßen „immateriellen‘, auf eine gemeinsame Kommunikation und Aktion setzenden Organisierungsprozess militanter Gruppen, für den es nach unserer Kenntnis keinerlei praktische Vorlage gibt. Hier betreten wir im Grunde alle Neuland der Organisierung klandestiner Strukturen der revolutionären Linken in der BRD. Die GenossInnen der „radikal“ haben die Quintessenz der Militanzdebatte auf den Punkt gebracht: „Durch eine militante Praxis (entwickelt sich) eine subjektive Nähe zu anderen, unbekannten Militanten, die auch zum Ausgangspunkt für politische Verknüpfungen werden sollte“ (radikal Nr. 157, Frühjahr 2004). Wir haben mit anderen diese Initiative zur kontinuierlichen Debatte angeschoben, um in eine Auseinandersetzung einzutreten, „die eine politische Praxis vorantreibt“ (ebd.). Dabei wird es bei der Realisierung eines solchen Projektes auch auf eine (re-aktivierte) bundesweite Struktur wie die „radikal“ ankommen, die sich selbst als Plattform zur unzensierten Diskussion von Militanz und Widerstand“ begreift. Um in einen produktiven Austauschprozess eintreten zu können, gilt es, der von den GenossInnen der radikal“ unterbreiteten Bitte nachzukommen, sie „mit weiteren Tipps, Tricks und Anleitungen zu unterstützten“ (ebd.).
Dieses heute von uns eingebrachte Geschichtsprojekt in Kontext des Aufbaus einer militanten Plattform ist bereits seit einiger Zeit in intensiver Planung, hat aber vor allein durch die Kampagne von Libertad! und der Autonomen Antifa (M) zum 10. Todestag von Wolfgang Grams (vgl. unseren Text in Interim Nr. 575, 26.6.03) neue Nahrung bekommen. Wir hoffen, dass dieses Projekt nicht als ein Aufguss „alter Wein in neuen Schläuchen“ (AG. Grauwacke. Aus den ersten 23 Jahren. Autonome in Bewegung, S. 327) weiterhin (bewusst) fehlinterpretiert wird. Eine Grundsatzdiskussion, die an alle Grundfesten heran will, wird, sofern sie ernsthaft und kontinuierlich ist sowie einer materialistischen Analyse folgt, notwendigerweise zu einer (Neu-) interpretation des revolutionären Kampfes führen. Diese kann aber aus unserer Sicht nur gelingen, wenn sie nicht historisch grundlagenlos ist. Eine (Neu-)Positionierung in bestimmten Fragen kann schlichtweg nur vor dem Hintergrund der Kenntnis des „Alten“ solide vorgenommen werden. Auch wenn, um ein hypothetisches Beispiel zu bringen, die vielfältigen Voraussetzungen des bewaffneten Kampfes von einem politischen Zusammenhang festgestellt und begründet werden sollten, handelt es sich um eine (Neu-)Aufnahme desselben.
Eine völlige Verwirrung tritt ein, wenn dieser Prozess mit diskreditierenden Schlagwörtern wie „orthodox-historischer Revolutionsdiskurs“ (vgl. einige militante, Interim Nr. 576, 10.7.03) etikettiert wird. Diese Zuschreibung ist ein gutes Beispiel dafür, dass es hier um keine inhaltliche Kategorie geht, sondern um die Produktion von Assoziationen, die grundweg negativ besetzt sind (wer will aus „unserer Szene“ schon gerne mit dem quasi-religiösen Stigma der „Orthodoxie“ bestückt werden?). Gerade in jenem Text wird ständig auf „mehr Analyse und Substanz“ rekurriert, ohne allerdings selbst über die strapazierte Inanspruchnahme dieser Begriffe hinauszukommen (in diesem Zusammenhang verweisen wir gerne auf den Reaktionstext der GenossInnen der Militanten Antiimperialistischen Gruppe – Aktionszelle Pierre Overney -, vgl. Interim Nr. 579, 18.9.03.
Spätestens diese Textserie wird für alle offenkundig machen, dass es gerade unser Motiv ist, vorurteilsfrei – unseretwegen auch „unorthodox“ und „undogmatisch“ - an die Geschichte der (revolutionären) Linken heranzugehen und unseren inhaltlichen, praktischen und organisatorischen Entwicklungsprozess als ein klandestiner Zusammenhang im Rahmen des Möglichen transparent zu machen. Dass wir uns dabei aufgrund von Unausgereiftheiten und Unzulänglichkeiten „angreifbar“ machen, nehmen wir in Kauf, denn die Präzisierung unserer Politik auf den unterschiedlichen Ebenen wird schrittweise und in einem kollektiven Prozess erfolgen. In einem solchen Prozess werden die AkteurInnen in verschiedenen Phasen auch Fehler unterschiedlicher Art begehen. Entscheidend ist, dass diese als solche erkannt und behoben werden. Das heißt aber wiederum nicht, dass das, was einige meinen als Fehler“ erkannt zu haben, auch in anderen Zusammenhängen derart beurteilt wird. An einem solchen Punkt bleiben eben unterschiedliche Positionen, die dann für Außenstehende kenntlich gemacht werden können.
Wir wollen zunächst nochmals, wenn es um die Koordinierung militanter Strukturen (militante Plattform) geht, eine Abgrenzung der Kategorie „militante Politik“ von anderen unternehmen: Eine militante Politik ist in diesem Kontext logistisch (Beschaffung und Einsatz von industriellem Sprengstoff und Schusswaffen), organisatorisch (Illegalität, überregionales Gruppennetzwerk) und repressionstechnisch (Fahndungsdruck, Strafmaß) „unterhalb“ des bewaffneten Kampfes angesiedelt. Die Begriffe „Militanz“ und „militante Politik“ gehören nach dem, was wir feststellen konnten, nicht zum Begriffsapparat der Klassikerinnen.
Wie wir in unseren verschiedenen Beiträgen geschrieben haben, begreifen wir eine militante Praxis aber nicht als ein Anhängsel irgendeiner anderen politischen Artikulationsform (Bewegung oder Guerilla), sondern als einen eigenständigen Faktor in einem „komplexen revolutionären Aufbauprozess“ (Widerstandsnetzwerk aus Basisbewegung, militanten Gruppen, Guerilla, revolutionärer Parteistruktur) (vgl. u.a. Plattform-Papier, Interim Nr. 550, 9. Mai 2002). Aufgrund unserer Vorstellung einer aus verschiedenen Sektoren bestehenden Gesamtorganisation halten wir eine klare Trennung von militanter und bewaffneter Struktur für geboten. Wir sehen keinen Vorteil darin, militante Politik und bewaffneten Kampf unter den Begriff „militante praxis“ zu subsumieren, wie es von den solidarischen Genossinnen in ihrem Text „zwischen gartenzwerg und luftblasen“ getan wird (vgl. Interim Nr. 555, 29.8.2002). Ihr Definitionsvorschlag wird dadurch verkompliziert, dass sie trotz der begrifflichen Subsumierung dem bewaffneten Kampf eine „sonderstellung“ einräumen und die beiden Sektoren weiterhin aufgrund „unterschiedlicher qualitäten“ differenziert haben wollen.
Wie kommen wir aus diesem definitorischen Dilemma heraus? Wir schlagen vor, dass wir im Zusammenhang von militanten und bewaffneten Mitteln von klandestinen Praxen (oder auch einfach Elementen) revolutionärer Gewalt sprechen die nach den oben aufgeführten Kriterien inhaltlich von einander abzugrenzen sind. Diese klandestinen Praxen sind integrale Bestandteile einer gesellschaftsumwälzenden, d.h. revolutionären Politik.
Zu guter Letzt legt die wörtliche Übersetzung von „militant“ nahe, dass sich In diesem „Kämpferischen“ eine unversöhnliche Haltung gegenüber den herrschenden Klassenverhältnissen ausdrückt und man sich nicht „reformistisch einkaufen“ (vgl. Vietnam, K.: Tarzan – was nun? Internationale Solidarität im Dschungel der Widersprüche, S. 72) lassen will. Aber entscheidend ist dabei nicht das (idealistische) Haltung-Einnehmen, sondern die ummittelbare praktische Ausdrucksform (sachschadenorientierte, personenschadenorientierte militante Praxen oder Kommunikationsguerilla-Elemente („diskursive Dissidenz“). In verschiedenen früheren Texten bspw. der Gruppe „Für eine sozialrevolutionäre und antiimperialistische Befreiungsperspektive“ ist unter anderem mit einem „erweiterten Militanzbegriff“ hantiert worden; „Wir schlagen (...) einen erweiterten Militanzbegriff vor, der diesen verengten Rahmen (gemeint sind z.B. Brand- und Sprengsätze, Anm. mg) verlässt und Militanz allgemein als eine entschiedene und unversöhnliche Haltung gegenüber HERRschenden Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen versteht – quasi als eine sich in vielfältiger Weise ausdrückende Lebenshaltung“ (vgl. Interim Nr. 388 13.9.96). Dieser an sich gute Vorsatz der Aufhebung einer vermeintlich zu engen Umgrenzung des Militanzbegriffs verlor sich in weitgehender Beliebigkeit, da nach dieser eben vorangestellten Definition von „erweiterte Militanz“ faktisch alles und jedes zur Militanz erklärt werden kann. Dieses alles-unter-den-Militanzbegriff-Subsumierende ist u.a. in dem Text „über symbolische und militante Politik“ (vgl. Interim Nr. 446, 19.3.98) unseres Erachtens analytisch kritisiert und wiederlegt worden. Einen zentralen Widerspruch haben wir aber auch zu diesem Text, da wir als Gruppe einen Militanzbegriff verwenden, der die Komponente der „Kommunikationsguerilla“ mit einschließt (vgl. u.a. unser „Plattformpapier“, Interim Nr. 550, 9.5.02).
Nun kehrt dieser „erweiterte Militanzbegriff“, ohne die vor einigem Jahren reflektierende Diskussion darum zu berücksichtigen, als schlechte Kopie zurück (vgl. einige militante, lnterim Nr. 576, 10.7.03). Hier wird uns alles, was die „Gewaltförmigkeit bestehender Grundwidersprüche benennt“ (vgl., ebd.) ebenfalls als „Militanz“ angeboten. „Militanz“ ist in diesem Fall vollends konturendlos geworden und zum Containerbegriff ausgeufert, der selbst jene „militante Kritik“ aufnehmen muss, die sich an „der so genannten Gewaltfrage abgespalten“ (vgl., ebd.) hat. Zum einen wird hier aus einer „antagonistischen Kritik“, die die bestehenden Verhältnisse inhaltlich-theoretisch angeht, eine „militante Kritik“, damit sie dann wohl in den „erweiterten Militanzbegriff“ eingehen kann, und zum anderen ist die praktische Beantwortung der „Gewaltfrage“ und die Umsetzung „revolutionärer Gewalt“ Teil des (historisch hergeleiteten) Kampfes für den Kommunismus. Alles andere bewegt sich entweder auf der Folie eines illusionären Pazifismus oder ist Abbild eines allseits bekannten Revisionismus an den revolutionären Grundlagen der meisten (historischen) Strömungen des Kommunismus und Anarchismus. „Revisionismus“ ist der engere Begriff in Verhältnis zum bloßen „Reformismus“, der sich z.B. nie auf eine kommunistische oder anarchistische Gesellschaftsauffassung gestützt haben muss (wie der englische Fabianismus). Bei einer revisionistischen Position werden demnach, obwohl man sich formal bspw. auf Marx bezieht und ihn angeblich weiterentwickelt, Grundelemente des Ziels einer sozialistischen Revolution (Diktatur des Proletariats, klassenlose Gesellschaft etc.) in reine Erinnerungsposten mehr oder weniger konzeptioneller Texte verwandelt. In dem klassischen Ausruf von Eduard Bernstein „das, was man gemeinhin das Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles“ kommt der Kern des Revisionismus zum Ausdruck: Die Taktik der sich ausschließlich der Tagesprobleme annehmenden Position obsiegt über die Strategie der grundsätzlichen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
In Italien erleben wir aktuell eine aufschlussreiche Debatte um die sog. Gewaltfrage aus den Reihen „altgedienter“ Aktivistlnnen. Den Anstoß dafür gab der „dissociato“ und ehemalige Mitbegründer der bewaffneten Organisation Prima Linea, Sergio Segio. Er fordert nach seiner „Lossagung“ vom bewaffneten Kampf eine seiner Amisicht nach überfällige Abrechnung mit diesem (vgl. ak, 483, 23.4.004). Dabei setzt er sein gesamtes „politisches und moralisches Kapital“ als ehemalige Führungsperson des bewaffneten Kampfes ein, um gegen angebliche Verstrickungen der globalisierungskritischen Bewegung mit den GenossInnen der BRIPCC öffentlich vorzugehen. Mit dem Eingeständnis der eigenen „Schuld“ („jedenfalls habe ich damals als Anführer von Prima Linea die moralische Verantwortung für all unsere Terroranschläge übernommen“, SZ, 29.3.04) hat er sich das Ticket gezogen, um sich in seiner neuen konformistischen politischen Umgebung zu „rehabilitieren“. Es verwundert nicht, dass legalistische Kreise der „Reformlinken“ wie die Rifondazione Communista (RC) oder der bekannte Soziologe Marco Revelli diesen Spielball sofort aufgegriffen haben, um ein Glaubensbekenntnis zur absoluten Gewaltlosigkeit von der Linken Italiens einzufordern. Wir wollen mit diesem aktuellen Bezug zur italienischen „Gewaltdebatte“ nur darauf hinweisen, dass man sich nach der „Abspaltung an der Gewaltfrage“ unweigerlich in einer „revisionistischen“ Spirale des Abschwörens, Verratens und Aufgebens befindet.
In dem erwähnten Text von „einige militante“ werden zum Abschluss ihres Beitrages Gegenthesen zu denen, die wir in unserem Plattform-Papier formuliert haben, vorgebracht. Es ist zunächst einmal zu begrüßen, dass sich Leute hinsetzen und Aspekte aus unseren oder anderen Texten weiterentwickeln wollen. Sehen wir sie uns kurz etwas näher an: in der Ausgangsthese von „einige militante“ wird eine „militante Praxis“ in den Stand der Strategie („als strategisch bestimmte Handlung“) gehoben. Hier wird eine „militante Praxis“, die aufgrund ihrer Genese (begrenzte Interventionsform etc.) nur eine taktische Rolle übernehmen kann, an sich kurzerhand zu einem Phänomen aufgeblasen das von strategischer Bedeutung sein soll. Man kann hier nicht mehr davon reden, dass auch nur irgendeine Klarheit über den verwendeten Begriffsapparat vorhanden wäre. Die Begriffe werden offensichtlich so gebraucht und zurechtgebogen‘ wie es gerade passt (auf die kommunistische „Theorie der Kriegskunst“ und ihren Elementen der Strategie, Operation und Taktik gehen wir ein paar Zeilen weiter unten ein). Oft ist im Zusammenhang mit dem „Frontprozess“ in den 80er Jahren eingewandt worden, dass der bewaffnete Kampf zur Strategie erklärt wurde. Jetzt ist es eben die „militante Praxis“. Überragt wird die erste Gegenthese durch die anschließende zweite, wonach die „militante Politik in erster Linie“ eine „inhaltlich-politische Position“ sei. Wir lassen beiseite, dass wir nicht begreifen, wie eine Politik zur „inhaltlich-politischen Position“ werden kann. In der ersten Aussage wird die „militante Praxis“ also zur Strategie, um uns dann mit der zweiten mitzuteilen, dass die übergeordnete „militante Politik“ in den Bereich des bloßen Idealismus („inhaltlich-politische Position“) gedrückt wird (auch hier verweisen wir auf den Reaktionstext der MAG-APO, vgl. Interim Nr. 579, 18.9.03). In der dritten These wird die stattfindende Militanzdebatte zu „einer erweiterten militanten Organisierungsdebatte“. Als Richtschnur soll dann offensichtlich der völlig überdehnte und unreflektiert eingebrachte „erweiterte Militanzbegriff“ herhalten. Auch wir plädieren für eine strukturelle Ausweitung in Richtung derjenigen, die diese Debatte mittragen könnten. Unsere verschiedenen Beiträge und Initiativen sprechen da, so hoffen wir, eine deutliche Sprache (vgl. bspw. unseren Grams-Text, Interim Nr. 575, 26.6.03). Wir geben uns aber nicht der Illusion hin, dass Spezifika, die ganz ummittelbar militante Gruppen betreffen, von allen anderen, die als „militant“ qualifiziert werden, diskutiert werden. Die vierte These ist eher als eine weichgespülte Fassung dessen zu verstehen, wonach es uns um ein systematisch zu erarbeitendes „revolutionäres Geschichtsbewusstsein“ und das Wissen und Annehmen einer Traditions- und Kontinuitätslinie der Linken geht. Die fünfte These („Linksradikale Strukturen aufbauen und reorganisieren“) kommt sehr lapidar daher und beinhaltet keine greifbare Vision wie wir es mit dem Koordinierungsprozess im Rahmen einer militanten Plattform zu umschreiben versuchen.
Die Darstellung „klassischer“ Beiträge zu Formen bewaffneter Aufstands- und Revolutionspolitik ist aus unserer Sicht keine morbide Angelegenheit, hier geht es um keine Legendenschmiedung. Auch einem „Militarismus-Fetisch“ wird nicht das Wort geredet. Ganz Im Gegenteil, wir sind seit Jahren mit einem „umgekehrten Fetisch“ konfrontiert; bewaffnete Praxen werden entweder völlig tabuisiert oder unter zur Hilfenahme der vielzitierten „aktuellen Situation und/oder gesellschaftlichen Bedingungen“ als antiquiert und kontraproduktiv für emanzipatorische Prozesse bezeichnet. Diese reflexhafte und selbst-zensorische Ablehnung von bewaffneter Politik (wahlweise garniert mit dem Militarismus-Vorwurf) in den imperialistischen Metropolen in Teilen der linksradikalen Szene ist schon erstaunlich, gerade vor dem Hintergrund, dass seit Göteborg und Genua wieder auf uns geschossen wird. Diese Widersinnigkeit haben wir bereits in unserem „Auseinandersetzungspapier“ (vgl. Interim Nr. 555, 29. August 2002) geschildert. Wir sind zwar derzeit noch nicht mit einer panischen Killfahndung wie gegen vermeintliche Aktivistlnnen der RAF konfrontiert, aber der Fahndungs- und Verfolgungsaufwand gegen militante Gruppen wie im Magdeburger Raum zeigt ein ungebrochenes Zerschlagungsinteresse des Staates. Dieses Interesse liegt in der Logik des bürgerlichen Staates und seiner Klassenjustiz, zu der, als geschichtliche Konstante, die Ermordung auf der Straße, in der Wohnung oder im Knast gehört (vgl. unseren „Grams-Text“, Interim Nr. 575, 26.6.03).
Die nicht selten gezückte Karte des „Militarismus“ oder des „Fetischismus“ auch gegen einen angestrebten Organisierungsprozess militanter und potentiell bewaffneter Gruppenstrukturen ist ein gutes Beispiel dafür, das in linksradikalen Kreisen die Begrifflichkeiten z.T. vollends durcheinander geraten sind. Karl Liebknecht hat in seiner Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ eine marxistische Interpretation der Begriffe vorgenommen und auf die enge Verzahnung von Militarismus und Kapitalismus hingewiesen: „Wir sind uns aufs klarste der Rolle bewusst, die der Militarismus innerhalb des Kapitalismus spielt, und denken natürlich nicht im Entferntesten daran, ihn über oder neben den Kapitalismus zu setzen, weil er eben nur ein Teil des Kapitalismus ist (...) Man kann das Gebiet des antimilitaristischen Kampfes gewissermaßen als ein besonderes neben dem des allgemeinen politischen Kampfs (...) bezeichnen. Mit anderen Worten: wir sind Antimilitaristen als Antikapitalisten“ (S. 113). Liebknecht hat zudem in einer Rede zum selben Thema die wichtige innenpolitische Repressionsfunktion des Militarismus „als Waffe im Kampf gegen die rechtlose Klasse“ (vgl., ebd., S. 124) betont.
Es ist schon eigentümlich, wenn Linke anderen Linken implizit oder explizit
ein „Militarismus-Etikett“ anheften wollen, sobald militante Gruppen
die inhaltlichen, praktischen und organisatorischen Grundlagen für eine
revolutionäre Politik re-vitalisieren wollen und Kriegshandlungen anhand
des jeweiligen (
Der Boden der Argumentation wird allerdings dann vollständig verlassen, wenn dieser Debattenprozess und die bisherige militante Praxis mit einem pathologischen Etikett („größenwahnsinnig“) oder als Hirngespinst („Gewaltphantasien“) stigmatisiert wird (vgl. einige militante, Interim Nr. 576, 10.7.03). Hier scheinen Absolventen des Einführungskurses „Politische Psychologie“ die Feder zu schwingen, die uns aus der geschützten Deckung des Schreibtisches und fernab jedes konkreten Praktizierens mit ihren „Kenntnissen der Materie“ amüsieren. Diejenigen, die tagtäglich mit den inhaltlichen, praktischen, logistischen und organisatorischen Defiziten einer agierenden klandestinen Gruppe konfrontiert sind, haben jeglichen „Größenwahn“ bzw. jede „Gewaltphantasie“, falls diese jemals existierten(!), mit Sicherheit abgestreift. Das Thema wird von uns und anderen zu ernsthaft betrieben, als das auch nur ein Bereich (einschließlich der Reproduktion) ausgespart werden könnte. Auch der sich drohgebärdend zeigende Repressionsapparat veranIaßt dazu, jegliche (Selbst-)überschätzung, falls sie jemals vorhanden war (!), abzuwerfen sowie konzentriert und verantwortungsvoll an der Absicherung der kollektiven Existenz zu arbeiten.
Es zeugt von wenig Kenntnis, wenn den (täglichen) Erfordernissen der Reproduktion der kollektiven Existenz eines Zusammenhangs (und die schließt alle Lebensbereiche ein) mit infantilen Aussprüchen („das dualistische Ringen bewaffneter Kämpfer (!) gegen das System“, „der tapfere Revolutionär und Avantgardist ohne Privatleben“, vgl. ebd.) zu begegnen versucht wird. Wir könnten an dieser Stelle einiges über Dünnpfiff, Magenverkrampfungen und sonstige Übelkeiten berichten, die vor und nach bestimmten Aktionen unsere „Tapferkeit“ tangieren. Aber wir wollen nicht zu sehr auf unsere (körperlichen) Zimperleins eingehen, sonst werden gleich auf irgendeiner VS-Amtsstube Diagnosebilder entworfen.
In der Tat bewegen wir uns auf einem glatten Parkett, wenn wir uns für eine klandestine Praxisform entscheiden; die Widersprüche von „Politik und Privatheit“ können nur in einem kollektiven Umgang wenn nicht gelöst, so doch zumindest gemildert werden. Dabei wird man sich der Verschmelzung von „Politik und Privatheit“ annähern müssen, wenn nicht ständig das Hintertürchen zur gemütlichen Bürgerlichkeit sperrangelweit offen sein soll. „Revolutionär-Sein“ umfasst entweder alles Soziale (Beziehung, Arbeit, Familie etc.) oder es verkommt zum Selbstbetrug. Ein klandestiner Zusammenhang kann auch deshalb keine vom Sozialen transzendierte Sphäre sein, da sich hier alle alltäglichen Notwendigkeiten der Reproduktion fokussieren. Jeder klandestine Zusammenhang ist neben einem politischen auch ein verzweigter sozialer Organismus. Die Grenzen zum „Selbstbetrug“ sind dabei eng gesteckt, wir wissen das, deshalb wird es unter den realexistierenden gesellschaftlichen Bedingungen keine Perspektive für die „Lösung“ dieser internen Widerspruchsfelder der Klandestinität geben können; da wird sich unterhalb der erkämpften sozialen Revolution nichts Grundsätzliches bewegen lassen.
Nach den bisherigen Erfahrungen mit dem Aufbau und Erhalt von klandestinen Gruppenstrukturen können wir konstatieren, dass nicht „tapfere Kämpfer (!)“ das vorrangige Problem der Gruppenreproduktion sind, da diese spätestens nach einiger Zeit feststellen müssen, dass ihr „revolutionärer Romantizismus“ doch kräftig mit der Profanität des Gruppenalltags im Clinch liegt. Diese bleiben über kurz (meistens kurz) oder lang fort. Es zeigt sich vielmehr eine Gefahr der Gruppenexistenz durch jene, die die Vielschichtigkeit der organisierten und kontinuierlichen Klandestinität (und die damit verbundene kollektive Verantwortung) nicht erkennen können oder wollen und die militante Praxis, sofern sie dann einmal auf dem Programm steht, eher als abenteuerne und exquisite Abwechslung des monotonen (privaten) Alltags ansehen, um danach gleich wieder in denselben zu schlüpfen.
In diesem Zusammenhang ist auch eine sachliche Diskussion und Reflexion über das vermeintliche oder tatsächliche „Kader-Sein“ erforderlich, fernab von irgendwelchen produzierten Horrorszenarien. Uns ist kein Revolutionsprozess bekannt, in dem es nicht einen organisierten Kern von Genossinnen gab, der für die gesamten reproduktiven Aufgaben von Strukturen Verantwortung und Verbindlichkeit übernommen hätte. Sich bewusst und konsequent für einen sozialrevolutionären und antiimperialistischen Revolutionsprozess zu entscheiden, der ja offensichtlich vielen als Perspektive vorschwebt, sehen wir als einen „qualitativen Sprung“ an, da man sich allen hier knapp erwähnten Unzulänglichkeiten, Widersprüchen etc. ganz praktisch zu stellen hat und die Ebene des bloß im Munde geführten Wortes zwangsläufig verlassen muss. Fürwahr eine spannende Diskussion, auf die wir regelmäßiger zurückkommen werden, da sie ja sozusagen „unser täglich Ding“ ist (vgl. zu dieser Problematik u.a. AG. Grauwacke. Die ersten 23 Jahre. Autonome in Bewegung, S. 142-160 und 322-328).
Die Aneignung von linker Widerstandsgeschichte und ihre genaue Kenntnis stellt für uns die Voraussetzung dar, um zu einer (Neu-)Definition revolutionärer Politik zu gelangen. Denn die aktuelle Situation der radikalen Linken ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass ein Wissen um die eigene politisch-ideologische Herkunft und die Erfahrungswerte vergangener Kämpfe nur rudimentär vorhanden ist. Deshalb haben wir uns in unserem Reaktionstext auch auf die Initiative von Libertad! und der Autonomen Antifa M zum 10. Jahrestag der Ermordung von Wolfgang Grams (vgl. Interim Nr. 575, 26.6.03) auch für eine „vorwärtsgerichtete aktivierende Geschichtsschreibung“ ausgesprochen, die nicht in nachbetrachtenden Anekdötchen verharrt, sondern eine analytische Reflexion und Perspektiventwicklung zum Ziel hat. Hier wird demnach die „unschmeichelhafte Wirklichkeit der Linken“ nicht „unter einer Fülle altneuer Konzepte zugeschüttet“ (vgl. Anschlagserklärung der Autonomen Gruppen, Interim Nr. 556, 12.9.02), denn diese systematisch freigelegt. Für uns liegt gerade in dem Unterfangen, die Reste der autonomen Subkultur (einschließlich ihrer ausgeprägten Theorielosigkeit) quasi für die Nachwelt zu konservieren, ein restauratives Moment. Diese „altneuen Konzepte“ sind vor allem innerhalb des autonomen Spektrums unanalysiert geblieben. Aufgrund der Funktion „Bewegungsmotor“ zu sein, konnte dieses Defizit zumindest für den Zeitraum der 80er Jahre weitgehend unentdeckt bleiben. Dies hängt allen immer noch stark nach, die aus diesem Spektrum kommend, jene Positionen lange Zelt mitgetragen haben, die heute noch von den Autonomen Gruppen publiziert werden.
Des Weiteren gehört zu dieser Herangehensweise auch die besonders von der Militanten Antiimperialistischen Gruppe – Aktionszelle Pierre Overney – eingebrachte Debatte um „revolutionäre Parteikonzepte“, die in nicht wenigen Ländern Teil der (Diskussions-)Realität ist. Umgekehrt ist für viele Befreiungsbewegungen und revolutionäre Organisationen in allen Winkeln dieser Welt nicht ein „Partei-Begriff dubios“ (vgl. ebd.), sondern vielmehr eine lebensstilspezifische/polit-subkulturelle Organisierungspraxis, die dann für sich auch noch das Gütesiegel „sozialrevolutionär“ in Anspruch nimmt. Und zu einem „revolutionären Geschichtsbewusstsein“ gehört unseres Erachtens auch, von Plattitüden Abstand zu nehmen, wonach eine „sozialrevolutionäre Organisierung in völligem Widerspruch zur Anpreisung leninistischer Parteien (steht)“ (vgl., ebd.). Zum einen ist in dem bisherigen Plattformprozess keine gemeinsame Diskussion um eine Partei Lenin’schen Typs gelaufen oder gar dessen kollektive „Anpreisung“. Zu einer solchen Diskussion gehört dann vor allem auch, sich mit den Parteimodellen eines Gramsci (bzw. dessen Analogie zum „Fürsten“ Machiavellis: „Der moderne Fürst (...) kann keine wirkliche Person (...) sein, sondern nur ein Organismus, ein komplexes gesellschaftliches Element, in dem ein allgemein anerkannter und teilweise schon durch Aktionen bestätigter kollektiver Wille sich zu konkretisieren begonnen hat (...) Dieser Organismus (...) besteht in der politischen Partei“ oder Bordiga („Die revolutionäre Tätigkeit der Kommunisten beruht auf der Organisation eines Teils des Proletariats als Partei, nämlich jene Proletarier, die das Bewusstsein dei kommunistischen Prinzipien mit der Entschlossenheit vereinen, alle ihre Kräfte der Sache der Revolution zu widmen. Die Partei organisiert sich auf internationaler Ebene (...)“) zu befassen, wenn man bspw. die Parteiorientierung der Roten Brigaden in verschiedenen Zeitabschnitten debattieren möchte.
Von Interesse ist in diesem Kontext ebenso die Parteidebatte in den verschiedenen kommunistischen Strömungen in Deutschland in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts (KPD (S): „Der Spartakusbund ist keine Partei, die über die Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakusbund ist nur der zielbewussteste Teil des Proletariats, der (...) die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt“; linkskommunistische KAPD: „Die Kommunistische Partei muss ein programmatisch durchgearbeitetes, in einheitlichem Wollen zusammengeschweißtes, von unten her einheitlich organisiertes und diszipliniertes Ganzes sein. Sie muss der Kopf und die Waffe der Revolution sein“; räte-kommunistische AAU(Einheitsorganisation) unter Otto Rühle: „Partei ist Bürokratie“, „Seine Partei (Lenins Bolschewiki, Anm. mg) ist ein verkleinerter Abklatsch der bürgerlichen Wirklichkeit und ihrer Existenzgesetze“, sie ist Ausdruck des „charakteristischen Oben und Unten der bürgerlichen Ordnung“).
Zum anderen steht Lenin, und das von ihm maßgeblich inspirierte bolschewistische Organisationsprojekt für den umfassendsten (territorialen) sozialrevolutionären Umwälzungsprozess der Linken, für die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“, d.h. für die Zerschlagung des autokratischen Zarismus und die Perspektive der Diktatur des Proletariats. Wie der weitere Verlauf nach 1917 (Bürgerkrieg, imperialistische Intervention, fraktioneller Machtkampf in der KPR (b) etc.) ideologisch und politisch zu bewerten ist, steht erst einmal auf einem anderen Blatt.
Die Genossinnen der Autonomen Gruppen stellen fest, dass „die Anlehnung an Parteigründungskonzepte (...) in der Szene durchgängig abgelehnt wird“ (vgl. ebd.). Welches Meinungsforschungsinstitut sie dabei beauftragt haben, lassen sie leider im Dunkeln. Wir müssen die Seriosität der wie auch immer beschafften Umfrageergebnisse allein deshalb anzweifeln, da sich das Phänomen „Szene“ für uns überhaupt nicht soziologisch einfangen und ermitteln lässt. Aber im Ernst: einerseits verweisen unsere stichpunktartigen Anmerkungen zur „Partei-Form“ im „Auseinandersetzungspapier“ (vgl. Initerim Nr. 555, 29.8.2002) auf die untergeordnete Rolle, die „Parteigründungskonzepte“ im jetzigen frühen Stadium der Organisierung spielen, und andrerseits nehmen sich unsere beiden Linien, sofern wir davon sprechen wollen, in ihrer gesellschaftlichen und politischen Marginalität nicht viel. Auch das sei hier nur angemerkt: Unsere Perspektive als Gruppe, die die „gesamtgesellschaftliche Konstellation“ im Blick hat, kann es nicht sein, um die formale „Meinungsführerschaft“ in der (revolutionären) Linken und die Lufthoheit über die drei letzten Szene-WG-Tische zu buhlen, sondern darum, den inhaltlichen, praktischen, logistischen und organisatorischen Auf- und Ausbau als Leitfaden zu haben. Ein Bedeutungszuwachs in der (revolutionären) Linken erfolgt quasi als Nebenprodukt, wenn die eigenen politisch-ideologischen Konzeptansätze mittel- und langfristig radikalisierend ins Soziale“ eingehen.
Wir sehen es als Stärkung der gesamten radikalen Linken an, wenn sich die Organisierungsbestrebungen der Genosslnnen der Autononnen Gruppen weiter konkretisieren. In ihrer letzten Anschlagserklärung haben sie die Abschlussparole „Für Würde, Gerechtigkeit und Emanzipation in allen Lebensbereichen“ (Interim Nr. 594, 6.5.04) gewählt, die offensichtlich eine begriffliche (auch inhaltliche?) Anleihe an den Zapatismus darstellt. Wir geben zu, uns würde ein Rollentausch“ auch mal reizen, in dem wir auf einen konkreten Konzeptvorschlag anderer Gruppen zu militanter Politik reagieren könnten. Das würde unserem Diskussionsprozess zusätzliche Impulse verleihen.
In unserem „Auseinandersetzungspapier“ (vgl. Interim Nr. 555, 29. August 2002) haben wir geschrieben, dass „wir davon aus(gehen), dass diese Debatte (um die Organisierung militanter Gruppen, Anm. mg) innerhalb der radikalen Linken eine Jahre umfassende Fortsetzung und Vertiefung finden wird“. Das heißt, dass wir keinen Diskussions- und Organisierungsprozess erwarten, der innerhalb einiger weniger Monate abgeschlossen werden könnte. Wir stellen uns auf einen langen (mehrjährigen) Zeitraum der Diskussion und Aktion ein, bis wir möglicherweise zu einer stabilen interventionsfähigen Struktur gekommen sind. Zudem stellen wir fest, dass erst im Zuge der Kriminalisierungsoffensive gegen den militanten Widerstand insgesamt der Plattformprozess nahezu flächendeckend in der revolutionären Linken registriert wird. Diese Textserie soll ein Mosaik für den Aufbau einer militanten Plattform sein – nicht mehr und nicht weniger nicht. Ein Mosaik deshalb, weil der Proklamation einer militanten Plattform ein Festigungs- und Strukturierungsprozess vorausgehen muss, der neben der historisch-analytischen sowie inhaltlich-theoretischen Positionierung die praktischen, logistischen und organisatorischen Aufbauaspekte nicht vernachlässigen darf. Ein solcher Prozess wird erfahrungsgemäß nicht unablässig eine Stufenleiter nach der anderen erklimmen, es wird stattdessen „konjunkturelle Schwankungen“ und auch Rückschläge geben. Dieses „Wellenartige“ an einem solchen Diskussions- und Aktionsprozess hat mehrere Faktoren, die zum einen mit verschiedenen gruppeninternen Punkten (größere Bedeutung anderer Diskussionen, Eingliederung neuer Mitglieder und sonstige zu lösende Strukturprobleme) sowie zum anderen mit externen Urwägbarkeiten (staatliche Repression, allgemeine Demoralisierung/Desorientierung weiter Teile der Linken etc.) zu tun haben. Der Verlauf der Militanz-Debatte(n) wird zum Beispiel augenscheinlich in der Dokumentation, die unter www.geocities.com/militanzdebatte zu finden ist. Die dort dokumentierten Texte sind allesamt nach der Hochphase des bewaffneten Kampfes und des militanten (Massen-) Protestes verfasst worden (von der Komitee-Auflösung bis zur aktuell geführten Koordinierungsdiskussion bezüglich des Aufbaus einer militanten Plattform). Die Inhalte der Texte, die während der einzelnen Debatten ausgetauscht wurden, kreisen im Prinzip um die selben inhaltlichen, praktischen, logistischen und organisatorischen Fragen nach dem (vorläufigen) Ende des bewaffneten Kampfes und der deutlichen Abnahme des militanten Widerstandes in der BRD (wobei wir phasenweise einen gewissen militanten Aufschwung verzeichnen können). Wir meinen, dass es sich de facto um eine Debatte handelt, die durch die erwähnten „konjunkturellen Schwankungen“ immer wieder zum Abbruch kommt und von neuem entfacht werden muss. Eine wesentliche Aufgabe in der aktuellen Debatte sehen wir darin. diesen aufgenommenen Diskussionsfaden nicht wieder abreißen zu lassen und eine Kontinuität einzufordern, die zu tatsächlichen organisatorischen Ergebnissen führt. Und diese verzweigte und diskontinuierliche Debatte, die wie gesagt faktisch eine ist, hat noch eine weitere Charakteristik, sie wird von Gruppierungen getragen, die für eine militante Praxis (in Abgrenzung zur bewaffneten) stehen. In unserem skizzierten „komplexen revolutionären Aufbauprozess“ stellt die von militanten Gruppen durchgeführte Politik einen eigenständigen Sektor in einem „widerstandsebenenübergreifenden Netzwerk“ dar. Der Einwand der militanten zelle (vgl. Interim Nr. 554, 18.12002), wonach die Plattform-Idee „einem allzu mechanistischen (...) Phasenmodell“ folgt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber aus unserer Sicht logisch erklärbar. Grundsätzlich können alle Projekte, Konzepte etc., die erst im Entstehen begriffen und von daher „theoretisch“ sind, als „mechanistisch“, „schematisch“ oder wie auch immer „analytisch-verkürzt“ qualifiziert werden. Daraus, dass Modelle, die einer Realisierung noch harren, logischerweise „modellhaft“ sind, wird man keinen Vorwurf basteln können. Wir hoffen, dass wir mit unseren bisherigen Veröffentlichungen unser Motiv aufgezeigt haben, nicht bei einem pinnwandgesteckten „mechanistischen Phasenmodell“ stehen bleiben zu wollen, sondern uns analytisch und vor allem praktisch weiterzuentwickeln. Wir gehen auch davon aus, dass unter anderem von denen, die an verschiedenen Stellen in ihren Texten uns (zuletzt „einige militante“) fehlende Analysekraft nachgesagt haben, selbst einen brauchbaren Beitrag liefern, der der viel zitierten „gesellschaftlichen Realität“ zumindest einigermaßen gerecht wird.
Auch wenn Gruppen oder Personen aus den oben genannten oder anderen Gründen nicht direkt an diesem Prozess teilnehmen können/wollen, hat er einen indirekten Einfluss auf ihre aktuelle und zukünftige Politik. Dies können wir auf unsere eigene Gruppe beziehen, da es aus unserer Vergangenheit mehrere Beispiele gibt, wo eine (indirekte) Beeinflussung durch bestimmte Debatten stattfand, wir aber nicht in der Lage oder Willens waren, uns politisch einzuklinken. Wir denken, dass die Idee einer militanten Plattform in dem Sinn einen Modellcharakter besitzt, als es grundsätzlich und zu jeder Zeit um einen Organisierungsprozess klandestiner Gruppenstrukturen gehen muss, wenn wir zu massierten Initiativen und Interventionen übergehen wollen. Sollte es uns und anderen tatsächlich gelingen, mittelfristig zu der Proklamation einer militanten Plattform, die über Fundament und Substanz verfügt, zu kommen, dann sind für uns erarbeitete inhaltliche, praktische, logistische und organisatorische „Kompromisse“, die der propagandistischen und agitatorischen Verbreitung wegen in „Formeln“ gegossen werden, bereits ein nicht zu unterschätzender politischer Erfolg (vgl. Anschlagserklärung der Autonomen Gruppen, Interim Nr. 556, 12.9.2002). Allerdings werden wir pedantisch darauf achten, dass es zu keinem „Schnellschuss“ einer proklamierten militanten Plattform kommt, die ihren Namen aufgrund zahlreicher Defizite nicht verdient.
Das heißt aber auch, dass, wenn dieser von uns und anderen initiierte Versuch in seinen Anfängen stecken bleiben sollte oder durch die staatliche Repression verunmöglicht wird, ein Organisierungsprojekt nicht vom Tisch sein kann, sondern ein variierter Anlauf zu unternehmen ist. Die Organisierungs- und späteren Organisationsfragen sind Kernfragen eines jeden revolutionären Prozesses und von daher immer gestellt. Da es unserem politischen Verständnis entspricht und es für uns auch nicht anders vorstellbar ist, sich mit den Ansprüchen, Verläufen und Ergebnissen vergangener und aktueller Organisierungsprozesse revolutionärer Politik zu befassen, wird auch dieses Projekt des Aufbaus einer militanten Plattform unabhängig vom konkreten Ausgang von einem späteren Anstoß zur Initiative berücksichtigt werden müssen.
Wir sehen es bereits jetzt als Erfolg an, dass sich seit etwa drei Jahren
dieser Diskussionsprozess aufrechterhalten lässt. Es ist vor dem Hintergrund
unserer allgemeinpolitischen Bedeutungslosigkeit als revolutionäre Linke
und der internen Zerrissenheit in vielen Fragen von antagonistischer Politik
nicht selbstverständlich, dass sich in diesem dreijährigen Plattformprozess
beinahe ein Dutzend militanter Zusammenhänge inhaltlich und zum Teil praktisch
eingebracht haben. Uns ist natürlich nicht verborgen geblieben, dass auf
dem Weg zu einer interventionsfähigen militanten Plattform noch eine lange
Allerdings zieht die Gefahr herauf, an der wir nicht ganz schuldlos sind, dass die Fülle der bis jetzt behandelten Aspekte unter Umständen auf einige erschlagend wirken kann. Da aber dieser Prozess im wahrsten Sinne des Wortes (langsam) fortlaufend sein wird, besteht jeder Zeit die Möglichkeit, in die Debatte quer einzusteigen. Ein akuterer Problempunkt ist der, dass diese Debatte quasi als Steinbruch missverstanden wird, wo nach Belieben und zusammenhangslos das herausgebrochen wird, was am Angreifbarsten scheint. Diese Tendenz ist spätestens mit dem „Clandestino-Papier“ eingetreten (vgl. unser „Auseinandersetzungspapier“, Interim Nr. 555, 29.8.02) und findet in einigen anderen Beiträgen offenkundig seine Fortsetzung. Inhaltlich, praktisch und organisatorisch kommen wir nur „vorwärts“, wenn sich nicht auf das Verfassen von „Kritikpapieren“ beschränkt wird, sondern selbst Positionen erarbeitet werden, die an dem bisher Debattierten anschließen und noch nicht so eingängig sind.
Neben der Fülle der Beiträge ist sicherlich auch deren stilistische Darbietung verbesserungswürdig. Hin und wieder ist zu hören, dass das verfasste Material einigen einfach zu „theoretisch“ sei. Wir müssen eingestehen, dass unseren Texten die „lyrische Leichtigkeit“ fehlt, die ein Lesen erleichtert. Dahinter steckt keine „böse Absicht“, sondern einfach unser didaktisches Unvermögen. Dem zu „Theoretischen“ werden wir nicht ganz abhelfen können, denn zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dieser Thematik gehört nun mal das theoretische Hintergrundwissen“. Wir können hier nur zu bedenken geben, dass bei der theoretischen“ Militanzdebatte keine akademischen Meriten erworben werden, sondern einzig und allein die Praxis fundiert werden soll.
Ein letzter problematischer Aspekt gesellt sich zu allen anderen, wenn nicht zumindest die Eckpfeiler, die in den verschiedenen Beiträgen der bisherigen Debatte für eine militante Plattform nachzulesen sind, berücksichtigt werden und wiederholt folgendermaßen nachgefragt wird: „Worauf soll eine Plattform hinauslaufen?“ (vgl. Interim-Vorwort, Interim Nr. 577, 24.7.03). Wir verweisen in diesem Zusammenhang wiederum auf die Veröffentlichungen der Militanten Antiimperialistischen Gruppe – Aktionszelle Pierre Overney – (vgl. Interim Nr. 579,18.9.03 und Interim Nr. 586, 15.1.04).
Eine Zwischenbilanz zum bisherigen Verlauf der Militanzdebatte fällt - wie wir gezeigt haben – gemischt aus. Wie sollte es auch anders sein, wenn es um die Beurteilung eines Organisierungsprozesses geht, der von einer fragilen Ausgangsbasis begonnen werden musste und in Teilen ein eher „spezialisiertes“ Publikum (militante Zusammenhänge) anspricht. Alle Projekte der revolutionären Linken haben, wenn es einigermaßen positiv läuft, durchwachsene (Zwischen-) Ergebnisse vorzuweisen. Selbst Projekte, die thematisch wesentlich breiter angelegt sind, wie die (fortlaufende) Geschichtsschreibung der autonomen Bewegung in dem von uns erwähnten Buch „Aus den ersten 23 Jahren. Autonome in Bewegung“ der A.G. Grauwacke, sehen sich einer eher zurückhaltenden Resonanz bzw. faktischen Nicht-Kenntnis bei jüngeren AktivistInnen gegenüber (vgl. Zwischenbilanz der A.G. Grauwacke unter (www.autox.nadir.org). Wir profitieren alle davon, wenn wir die gegenseitige Bezugnahme nicht nur proklamieren, sondern tatsächlich praktizieren.
II. Einleitung zum Text „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution“ bei KlassikerInnen des Frühsozialismus, Kommunismus und Anarchismus
Mit dem ersten vorliegenden Text zum Thema „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution“, den wir aufgrund des Umfanges in zwei Teile gliedern werden, beginnen wir eine Serie, die wir in den Kontext des begonnenen Aufbaus einer militanten Plattform stellen. In unserem „Plattform-Papier“ (vgl. Interim Nr. 550, 9. Mai 2002) haben wir betont, dass „wir uns, um unseren Überblick über die militär- und guerillatheoretischen Beiträge zu komplettieren, die Schriften der KlassikerInnen des Kommunismus (...) aneignen müssen“. Wir wollen in dieser Textserie verschiedene Protagonistlnnen revolutionärer Theorie und Praxis vorstellen und deren Ansätze sowie Konzeptionen von (bewaffneter) Aufstandspolitik illustrieren. Wir wollen dabei systematisch vorgehen, in jedem Text wird ausschließlich ein historischer Abschnitt mit den entsprechenden revolutionären Theoremen beleuchtet.
Nach der Abhandlung der KlassikerInnen werden wir uns mit den InterpretInnen und Akteurlnnen der antikolonialen Befreiungskämpfe und den antiimperialistischen Revolutionsprozessen Ende der 40er bis Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhundert befassen. Dabei werden die geschichtsmächtigen Revolutionen in China, Cuba, Vietnam und den portugiesischen Kolonien in Afrika sowie deren Protagonisten (Mao Tse-Tung, Che Guevara, Ho Tschi-Minh und Nguyen Giap sowie Amilcar Cabral) im Vordergrund der Abhandlung stehen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Befreiungstheorien von Regis Debray („Revolution in der Revolution?“ und „Kritik der Waffen“) und Frantz Fanon („Die Verdammten der Erde“) gelegt.
Der dritte Beitrag wird eine Auseinandersetzung in erster Linie mit den Konzepten der bundesrepublikanischen militanten und bewaffneten Gruppen seit den 70er Jahren (RAF, Bewegung 2. Juni, Revolutionären Zellen, Rote Zora, AIZ und diverse militante Zusammenhänge) sein. Darüber hinaus werden wir uns mit den Metropolenguerillaprojekten vornehmlich im lateinamerikanischen Raum beschäftigen (MLN. Tupamaros aus Uruguay, ALN aus Brasilien, MIR. aus Chile etc.), da sich gerade Organisationen aus Westeuropa an ihnen orientierten.
Zum Abschluss müssen wir zu einer analytischen Zusammenfassung kommen, die zu konkret formulierten Positionen führt, die dann zu unserem ideologischen Rüstzeug werden sollen. Es wird sich hier um eine lange, mehrjährige Wegstrecke der „revolutionären Geschichtsarbeit“ handeln. Wir laden alle Interessierten dazu ein, sich bei diesem (inhaltlichen) Teilausschnitt des Aufbaus einer militanten Plattform zu beteiligen. Dabei muss nicht nach dem Ablaufraster, das wir für uns als sinnvoll erachten, vorgegangen werden. Uns ist nur in unseren vergangenen Diskussionen, in denen wir uns verschiedentlich umfassend mit der Geschichte und Realität der Metropolenguerilla in der BRD beschäftigt haben, aufgefallen, dass wir ohne einen fundierten analytischen Rückblick zu keiner zufriedenstellenden Beurteilung bspw. der Politik der RAF kommen können. Falls andere Gruppen oder Personen bestimmte Aspekte aus diesem Gesamtzusammenhang „Bewaffneter Kampf - Aufstand – Revolution“ vorziehen wollen oder für besonders akut zu behandeln auffassen, dann soll es so sein. Alles Erarbeitete wird Eingang in diesen Prozess der „Geschichtsaufarbeitung“ finden.
In den letzten 10 Jahren sind eine Fülle von Büchern publiziert worden, die auf unterschiedliche Art und Weise den „bewaffneten Kampf“ zum Thema haben. Die Genossinnen der „so oder so“ haben seit Anfang 2003 insgesamt 8 Neuerscheinungen gezählt (so oder so Nr. 13, Frühjahr 2004, S. 18). Es handelt sich um (Auto-)Biographien, Interviewbände oder Darstellungsversuche über bestimmte (ehemalige) bewaffnete Organisationen. Die GenossInnen der „so oder so“ legen die Defizite der bisherigen Publikationen zum Thema „bewaffneter Kampf“ offen: „Der Blick auf Hintergründe des Handelns Einzelner, auf Gruppenprozesse und gesellschaftliche Zusammenhänge fehlt in sämtlichen Publikationen. Das Buch zur deutschen Guerilla wartet noch darauf, geschrieben zu werden“ (ebd.). Wir maßen uns nicht an, diese literarische Fehlstelle auch nur annähernd ausfüllen zu können, sondern unser Interesse setzt mit diesem Beitrag da an, wo aus unserer Sicht mit der schreibenden Feder begonnen werden muss: nämlich bei den Schriften der KlassikerInnen des Frühsozialismus, Kommunismus und Anarchismus. Hier muss das themenspezifische Material an die Oberfläche gefördert werden, da dieses auf je zu ermittelnde Weise Eingang in die Konzeptionen revolutionärer Organisationen und Befreiungsbewegungen gefunden hat. Ebenso wichtig ist es, nicht den Apologetinnen des Systems die Geschichtsvermittlung über die Phasen des revolutionären Kampfes zu überlassen: „Erst wenn wir uns wieder die Erfahrungen mit der Geschichte des bewaffneten
Kampfes hier offensiv zurückerobern und weiterentwickeln, anstatt sie den Schweinen zu überlassen, dann können wir (...) dort wieder anknüpfen, wo in den Jahren 92-93, 98 die analytische Diskussion abgebrochen ist. Ein erster, überfälliger Schritt hin zu einer Rekonstruktion revolutionärer Politik“ (Interim Nr. 593, 22.4.04, S. 26).
Wir werden mit unserem inhaltlichen Beitrag auch nur einen bescheidenden Teil der bisherigen Defizite der „Geschichtsschreibung der revolutionären Linken“ beheben können. Anderen Aspekten, wie die Abkehr „von der patriarchalen Ereignis- und Politikgeschichte“ und die Hinwendung zu einer „(Alltags-)Geschichte der links(radikal)en Bewegungen in verschiedenen Regionen“ (arranca! Nr. 29, Frühling 04, S. 52) werden wir an dieser Stelle nicht gerecht werden können. Wir haben darüber hinaus erfahrungsgemäß anzuerkennen, dass eine alles umfassende historische Aufarbeitung kaum möglich sein wird. Die Grenzen eines solchen Unterfangens sind schnell gefunden: Die zunehmend prekäre materielle Lage, mit der viele von uns konfrontiert sind, „(lässt) kaum Raum für den Luxus von Geschichtsarbeit“ (ebd., 8.51). Aufgrund der Situation, dass viele „Lebensabschnitts-Linke“ sind („das rot-schwarze Jahrzehnt vom 19. bis zum 28. Lebensjahr, ebd.), kann sich ein Interesse an der eigenen Geschichte kaum ausprägen. Die hohe personelle Fluktuation und fragile Polit-Strukturen lassen ein „kollektives Gedächtnis“ (ebd., S.52) nicht entstehen. Die wenigen an historischer Aufarbeitung interessierten Einzelpersonen oder kleinen Gruppen betreiben „keine offensive historische Bildungsarbeit“ (ebd.). Darüber hinaus „(resultiert) die Geschichtslosigkeit auch aus dem Selbstverständnis undogmatisch-linke (radikal)er Praxis, das von Spontaneität geprägt ist, geplante, strategische Politik sowie festere Organisationsformen lange Zeit ablehnte und Theorie (und damit auch Geschichte) vor allem als Legitimation der eigenen Praxis verstand“ (ebd.).
Zum Auftakt werden wir uns demnach auf die Klassikerlnnen des Frühsozialismus, Kommunismus und Anarchismus konzentrieren. hinsichtlich der frühsozialistischen Autoren wollen wir die Überlegungen von Francois NoeI (Gracchus) Babeuf und Louis Auguste Blanqui darstellen. Wir werden gerade bei den frühsozialistischen Klassikerlnnen einige Auslassungen haben, um diesen Text nicht völlig zu überfrachten. Aufgrund dessen werden wir die bekannten Autoren des „vor-marxistischen Sozialismus“, Robert Owen, Chaude Henri Saint-Simon und Chiarles Fourier nur am Rande dieser Darstellung streifen können. Auf kommunistischer Seite werden wir im ersten Abschnitt dieses Serienbeitrages insbesondere auf die Positionen von Wilhelm Weitling, Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht, August Bebel, Karl Marx und Friedrich Engels eingehen. Auf anarchistischer Seite wollen wir uns mit den militär- und aufstandstheoretischen Aspekten in den Schriften von Michael Bakunin, Sergej Netschajew, Peter Kropotkin, Johann Most (wohlgemerkt war Most in seiner Anfangszeit ein populärer Sozialdemokrat) befassen. Die russischen Narodniki (Alexander I. Herzen, Wissarion G. Belinski, Nikolai G. Tschernischewsky, Nikolai A. Dobroljubow) sowie ihre Organisationen (Narodnaja Wolja, Semlja i Wolja) bzw. die späteren Sozialrevolutionärlnnen u.a. Viktor Tschernow) während des russischen Zarismus werden ebenfalls in unserem Fokus sein.
Die Auswahl der Personen lässt erahnen, dass es sich um eine Abhandlung ideologisch äußerst heterogener Revolutionsmodelle handelt. Dieser „Pluralismus ist beabsichtigt, da es in dieser Textserie nicht um eine ausgearbeitete und inhaltlich fixierte Gruppenposition gehen soll, sprich ausformulierte Programmatik zu dieser Thematik, sondern gewissermaßen um eine „vorwärtsgerichtete und aktivierende Geschichtsschreibung des facettenreichen revolutionären Kampfes in seinen verschiedenen Epochen ohne in erster Linie mit Werturteilen zu hantieren. Wir präsentieren in diesem Text keine Analyse, denn eine komprimierte Zusammenstellung der Gedankengänge und Praxiserfahrungen der Klassikerinnen. inhaltliche Präferenzen unsererseits werden in einzelnen Passagen bestimmt herauslesbar sein, aber vorrangig geht es um folgendes: Zum einen steht vor der ideologisch begründeten Orientierung bzw. Festlegung die möglichst genaue Kenntnis der Revolutionsgeschichte und eine intensive Auseinandersetzung mit derselben, und zum anderen entspricht diese Vorgehensweise dem angestrebten Projekt des Aufbaus einer militanten Plattform, die sicht als ein Diskussions- und Aktionsrahmen versteht, in dem Sichtweisen entwickelt werden sollen, die dann mittelfristig zu einem kollektiven politischen Handeln führen sollen. Des weiteren soll diese Textserle ein Beitrag für die eben erwähnten „vorwärtsgerichtete und aktivierende Geschichtsschreibung“ sein, die nicht anekdotenhaft und biografisierend zurückblickt, sondern das zusammengetragene Material als Ausgangspunkt einer revolutionären Politik und Praxis von Heute und Morgen versteht.
Diese „pluralistische“ Herangehensweise wird bei einigen vor dem Hintergrund der politisch-ideologischen Unkvereinbarkeit einiger hier aufgezählter zentraler Personen sicherlich auf Ablehnung und Unverständnis stoßen. Unserer Ansicht nach ist es aber legitim, eine vergleichende Untersuchung zum Thema „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution“ zu unternehmen, auch wenn dabei von den großen Differenzen zwischen Einzelnen (Marx vs. Bakunin und umgekehrt) abstrahiert wird. Wir befinden uns in keinem ideologischen Bekenntniszwang der uns veranlassen würde, diesen oder jenen „klassischen“ Beitrag besonders hervorzuheben oder zu ignorieren. Wir greifen schlichtweg das an schriftlichem Material auf, das uns zur Verfügung steht und nach unserem Verständnis für eine Re-Organisierung des militanten und potentiell bewaffneten Widerstandes in der BRD hilfreich sein kann bzw. einen großen Einfluss erlangte. Wir werden also nicht nur mit sehr unterschiedlichen Personen und deren Biographien konfrontiert sein, sondern auch mit sehr stark differierenden Definitionen dessen, was in dieser Textserie Thema sein soll.
Die begriffliche Reihenfolge der Überschrift der Textserie ist nicht zufällig gewählt. „Bewaffneter Kampf -Aufstand „Revolution“ sind Elemente eines Prozesses, der idealtypisch und modellhaft linear verläuft. Dass die geschichtlichen Ereignisse und die gesellschaftlichen Realitäten solchen modellhaften Planspielen oft einen Strich durch die Rechnung machen, beobachten wir alle. Dennoch kann man in der Analyse verschiedener Revolutionsprozesse Etappen und Phasen ausmachen, die in ihrer komplexen und widersprüchlichen Gänze diese genannten Elemente enthalten. Diese Etappen und Phasen einer gesellschaftlichen Umwälzung sind untrennbar mit dem wenig schillernden Begriff „revolutionäre Gewalt“ verbunden. Andere verwenden den aus unserer Sicht unspezifischen Begriff „politische Gewalt“ und sehen diesen „weitgehend gleichgesetzt“ mit Militanz (vgl. A.G. Grauwacke. Aus dem ersten 23 Jahren. Autonome mm Bewegung, S. 142). Da dieser Begriff weder geschichtlich aus der Linken hergeleitet ist, noch den spezifischen Charakter unserer „Gewaltausübung“ („revolutionär“) vermittelt, sondern den Allerweltsnamen „politisch)“ reklamiert, sehen wir in dieser Bezeichnung hinsichtlich der definitorischen Bestimmung unseres (klandestinen) Handelns keinen Fortschritt. Die Begrifflichkeit „revolutionäre Gewalt“ ist das bewusst gewählte Gegenstück zur alles normierenden herrschenden Gewalt, die sich im Gewaltmonopol des Staates und seines administrativen Apparates manifestiert.
Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty hat in seinem Essay „Humanismus und Terror“ von 1947 hervorgehoben, dass „der Kommunismus die Gewalt nicht erfindet, sondern sie vorfindet“ (vgl. Bd. I, S. 45). Das zentrale Moment in der alles beherrschenden Gewaltfrage ist nicht, „ob man die Gewalt akzeptiert oder ablehnt, sondern (...), ob die Gewalt, mit der man paktiert, „progressiv“ ist und auf ihre eigene Beseitigung zielt, oder ob sie auf ihre Verewigung zielt“ (vgl., ebd.). Jede moralisierende und pazifizierende Haltung gegenüber der alle Lebensbereiche durchziehenden Gewaltförmigkeit des Kapitalismus heißt in letzter Konsequenz, sich in eine Komplizenschaft zu begeben: die „(...) Lehre der Gewaltlosigkeit (konsolidiert) die bestehende Gewalt, nämlich ein Produktionssystem‘ das Elend und Krieg unvermeidlich macht“ (vgl., ebd., S. 12). Nach Merleau-Ponty ist die Ausgangssituation in einer Klassengesellschaft der antagonistische Gewalt-Konflikt zwischen den machthabenden Klassenverbänden und dem Proletariat. „Es gibt nichts als Gewalt, und der revolutionären Gewalt gebührt der Vorzug, weil sie eine Zukunft von Humanismus hat“ (vgl., ebd., Bd. II, S. 13). Da die kommunistische Aktion aufgrund der „historischen Mission“ des Proletariats die Zerschlagung der bürgerlichen Klassengesellschaft ins Werk setzt, „enthält sie das Maximum an möglicher Menschlichkeit“ (vgl., ebd., S. 33).
Der „bewaffnete Kampf“ in dem hier gebrauchten Sinne einer Guerillapolitik ist eine „irreguläre Kriegsführung“, die nicht an die Konventionen eines Krieges zwischen zwei oder mehreren staatlichen Ordnungen und ihren konventionellen Streitkräften gebunden ist. Neben der „Irregularität“ werden dem Guerillakampf zwei weitere charakteristische Merkmale zugeschrieben: Der hohe Grad an (räumlicher) Mobilität und Flexibilität in Fragen des taktischen, operativen und strategischen Agierens sowie die „enthusiastischen Potentiale“ bei der Gewinnung von AnhängerInnen. Die Erzeugung einer „revolutionären Leidenschaft“ unter den deklassierten „Volksmassen“ gilt als ein Garant für ein erhöhtes politisches Engagement in einem erfolgreich verlaufenden Umwälzungsprozess.
Guerillapolitik als „bewaffnete Propaganda“ resultiert zunächst aus einer Position der relativen (personellen ud strukturellen) Schwäche, da sie sich einerseits den militärischen und repressiven Kontingenten eines Staatsapparates und andererseits einem (reaktionären, aufzubrechenden gesellschaftlichen Konsens vermittelt über die „ideologischen Staatsapparate“ (Althusser) gegenübersieht. Ihre Aufgabe ist es, in der Phase der „bewaffneten Propaganda“ bzw. des Avantgardekriegs allmählich einen Massenbezug zu entwickeln und auszubauen, denn „ohne die Unterstützung des Volkes ist es für die Guerilla überhaupt nicht möglich, den Kampf aufzunehmen“ (MLN-Tupamaros). Der Guerillakampf wird nach den MLN-Tupamaros „zum wichtigsten Instrument für die Politisierung der Massen“.
Der materiellen und politischen Überlegenheit des Staates und der konsensualen Konformität in der Gesellschaft werden verschiedene guerillataktische/-strategische Handlungen entgegensetzt, die für den urbanen Bereich von dem Mitbegründer der brasilianischen Stadtguerilla ALN (Nationale Befreiungsaktion), Carlos Marighela („Die sieben Todsünden des Stadtguerillero“), für ein bäuerliches und halbkoloniales Land von Mao Tse-Tung („Strategie des chinesischen revolutionären Krieges“, „Strategische Fragen im Guerillakrieg gegen Japan“, „Über den verlängerten Krieg“) und allgemein von Che Guevara („Guerillakrieg – eine Methode“) zusammengetragen wurden. Der bewaffnete Kampf verstanden als Guerillapolitik wird in seinen taktischen, operativen und strategischen Einzelheiten vor dem jeweiligen geographischen und sozio-kulturellen Hintergrund sowie der politisch-ideologischen Ausrichtung der den Guerillakrieg aufnehmenden Organisation definiert. Wir werden die umfangreiche Problematik des Guerillakampfes (bspw. Taktik oder Strategie?) an dieser Steile nicht weiter vertiefen, sondern in einem späteren Beitrag dieser Serie darauf ausführlich zurückkommen.
Einen Aspekt wollen wir allerdings noch anschneiden: In den Klassikerlnnen-Schriften gibt es eine Kategorie, (die in Teilen mit der des bewaffneten Kampfes bzw. des Guerillakampfes korrespondiert: die Miliz. Wir finden in (der Klassikerlnnen-Literatur schubweise eine interessante Debatte über die Selbstverteidigungsoptionen der unterdrückten und ausgebeuteten Massen gegenüber dem militarisierten Staatsapparat in Form seiner stehenden Heere, die zugleich eine zentrale Rolle in der inneren Aufstandsbekämpfung spiel(t)en. In diesem Zusammenhang wird u.a. von „proletarischer Garde“ (Marx/Engels), „proletarischer Miliz“ (Lenin) oder „sozialistischer Volkswehr“ (Grünberg) gesprochen. Beispielsweise wurde während des „Revisionismusstreits“ Ende des 19. Jahrhunderts oder kurz vor Begin des ersten imperialistischen Weltkrieges leidenschaftlich über das Für und Wider einer Milizstruktur als Element einer proletarischen Militärtheorie und -praxis gerungen. Alle namhaften Interpretinnen des Kommunismus brachten sich in diese Debatte ein: Rosa Luxemburg, Karl Kautsky, Franz Mehring – um nur einige zu nennen.
Wir werden versuchen, gerade diesen Aspekt in den einzelnen Beiträgen dieser Serie herauszustreichen, da er für militante und potentiell bewaffnete Gruppenstrukturen nutzbar gemacht werden könnte. Eventuell ist es auch sinnvoll, außerhalb dieser Serie den Komplex „Guerilla/Miliz“ in einem Text eingehend zu behandeln. Wir werden sehen.
Ein „Aufstand“ ist in unserem Verständnis ein (revolutionärer) Aufbruch, der noch nicht erfolgreich zu Ende geführt wurde (Revolte) oder auf einen definierten Zeitraum mit begrenzten Forderungen fokussiert ist (z.B. Generalstreik). Ein Aufstand kann den Charakter eines Putsches haben‘ in dem von einer aktivistischen Minderheit ein Umsturzplan mehr oder weniger spontaneistisch ins Werk gesetzt werden soll. Daneben kann ein wohl organisierter (bewaffneter) Aufstand – als Gegensatz zum militärischen Verschwörungsmodell des „Blanquismus“ – den Auftakt eines revolutionären Prozesses bilden, an dessen Ende eine andere Gesellschaftsordnung stehen soll. Für Engels und Lenin ist „der Aufstand eine Kunst“, und dieses Handwerk ist nur zu beherrschen, wenn der Ort und der Zeitpunkt in einer reifenden „revolutionären Situation“ richtig bestimmt werden sowie ein revolutionäres Massenbewusstsein als Folge der Agitation und Propaganda der „Vorhut“ seinen Niederschlag findet. Die Vorbereitung, Durchführung und Erfolgsaussichten eines (bewaffneten) Aufstandes hängen grundsätzlich von diesen objektiven sozio-ökonomischen und subjektiven Faktoren der AkteurInnen ab.
Die Kommunistische Internationale (Kommintern) brachte zu diesem Thema Ende 1928 ein illegales Studienbuch unter dem Titel: „Der bewaffnete Aufstand. Versuch einer theoretischen Darstellung“ heraus, in dem u.a. Ho Tschi-Minh Artikel beisteuerte. In dem Leitartikel „Der Bolschewismus und der Aufstand“ heißt es: „Der Aufstand ist natürlich im breiten Sinne des Wortes keine rein militärische Amigelegenheit; er ist in der Hauptsache und in erster Linie eine mächtige revolutionäre Bewegung, ein mächtiger, gegen die herrschenden Klassen gerichteter revolutionärer Explosivausbruch der breiten Massen des Proletariats mindestens seines aktiven, kampfentschlossenen Teiles, ja sogar des zahlenmäßig geringeren Teiles des gesamten Proletariats, aber ein aktiver und hingebungsvoller Kampf der aktiven Mehrheit im entscheidenden Moment und an der entscheidenden Stelle. Die militärischen Gefechtshandlungen der Kampforganisationen des Proletariats müssen im Augenblick des höchsten Aufschwungs dieser Bewegung organisiert werden. Nur in diesem Falle kann der Aufstand Erfolg haben. Selbst die allergünstigste revolutionäre Situation vermag von selbst den Erfolg der Revolution nicht zu sichern (...)“ (S. 31). Es wird klargestellt, dass „Revolution“ nicht automatisch ohne jeden Rückschlag aus einem Aufstand erwächst. Zum einen kann ein Umwälzungsprojekt „nicht improvisiert werden, sondern erfordert schon lange vor dem Aufstande selbst eine sorgfältige, systematische und allseitige Vorbereitung“ (ebd., S. 33), und zum anderen „(führt) der Entwicklungsweg der proletarischen Revolution über Zeiten des Aufschwunges und der Teilsiege, über Zeiten der Ebbe der revolutionären Welle und zeitweiliger Niederlagen des Proletariats“ (ebd., S. 36). D.h. nicht, dass „erfolglose“ Aufstände eine totale Niederlage der revolutionären Linken bedeuten und das „Ende der Geschichte“ einläuten; im Gegenteil, denn „ohne die Generalprobe des Jahres 1905 wäre der Sieg der russischen Revolution im Oktober 1917 undenkbar gewesen“ (ebd.). Daraus schließen wir des Weiteren, dass es eine hundertprozentige „Erfolgsgarantie“ für den Verlauf eines (bewaffneten) Aufstandes nirgendwo gibt; ein „Losschlagen“ ist also nicht unter das illusionäre Diktat einer solchen „Garantie“ zu stellen. Das Ausbleiben von „Aufstandserfolgen“ darf also nicht nur unter dem engen Blickwinkel der „Niederlage“ gesehen werden, vielmehr „(birgt) jede Niederlage in sich die Elemente des künftigen, unvermeidlichen Sieges“ (ebd.), wenn aus der Analyse vergangener Kämpfe Schlussfolgerungen gezogen werden, die unsere „Erfolgsaussichten“ verbessern.
Eine „Revolution“ wäre demnach eine umfassende fundamentale Veränderung der sozio-ökonomischen und -kulturellen Verhältnisse, die Einleitung einer vielschichtigen und ununterbrochenen Umwälzung der politischen Organisation und sozialen Struktur (Stichwort permanente Revolution). Sprachwissenschaftliche Untersuchungen des Begriffes „Revolution“ haben auf die Doppeldeutigkeit des lateinischen Nomens „revolutio“ („Umdrehung“, „Umwälzung“) und des Verbs „revolvere“ („zurückrollen“‘ „wiederholen“) aufmerksam gemacht. Die Vorsilbe „re-“ verweist auf etwas rückwärts Gerichtetes. Dieses Faktum hat u.a. Hannah Arendt in ihrem Buch „Über die Revolution“ herausgestrichen, indem sie anführt‘ „dass das Wort „Revolution“ eigentlich Restauration meint, also etwas, was wir für das gerade Gegenteil einer Revolution ansehen“ (vgl., S. 52).
Auch bei Antonio Gramsci finden wir eine Problematisierung des verschachtelten Wechselverhältnisses zwischen Revolution und Restauration. Hiernach ist es geschichtswissenschaftlich stark vereinfacht, von einem klinischen Gegensatzpaar von „Revolution und Konterrevolution“ auszugehen, da historische Abläufe nicht als ein gradliniger Fortschritt aufgefasst werden können. Der gesamte geschichtliche Prozess ist nach Gramsci als Dialektik von Revolution und Restauration zu verstehen. Keine Revolution hat jemals alle Ihre Ziele erreicht. Die Revolutionen werden nicht nur von ihren erklärten GegnerInnen von Anfang bekämpft, sondern tragen selbst Kompromisse mit sich, die nicht selten in restaurative Tendenzen umschlagen und die „reine“ revolutionäre Linie verlassen. Umgekehrt ist es aber so, dass es auch keiner Restauration vollständig gelungen ist, alle revolutionären Errungenschaften zu eliminieren. Nach Gramsci ist die Vorstellung einer reinen Revolution oder reinen Restauration eine Illusion: „Es geht darum zu sehen, ob in der Dialektik von „Revolution - Restauration“ das Element der Revolution oder das der Restauration überwiegt (...)“ (Gramsci, A.: Gefängnishefte Heft 13, S. 27). D. h., dass die Dimension der Restauration und das Ausmaß an restaurativen Tendenzen innerhalb eines revolutionären Prozesses wesentlich vom „subjektiven Faktor“ abhängt, vom Bewusstsein und Mobilisierungsgrad der fortschrittlichen Kräfte. Sowohl das fatalistische Warten auf den historischen Befreiungsschlag des Proletariats als auch die resignative Unterwerfung unter das Diktat der Reaktion sind fehl am Platze. Eigeninitiative als Ergebnis der analysierten gesellschaftlichen Bedingungen ist stattdessen gefragt.
Nach Marx stellen Revolutionen gesamtgesellschaftliche Umbrüche dar – wie z.B. die Aufhebung des Feudalismus durch die kapitalistische Produktionsweise. Marx hat diesen sozialen Umwälzungsprozess mit dem „Wandkalenderspruch“ „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte“ (vgl., Die Klassenkämpfe in Frankreich. 1848 bis 1850, Ausg. Werke Bd. II, S. 98) pointiert formuliert. Der Begriff „Revolution“ vermittelt demnach nicht nur den Umsturz des Alten und den Aufbau des Neuen, sondern auch die Wiederholung des Vorganges eines (zu Ende geführten) revolutionären Aufbruchs, um einen egalitären gesellschaftlichen Zustand, der aus welchen Gründen auch immer nicht mehr existiert, wieder herzustellen („Restauration“).
Wir wollen in diesem ersten Beitrag der Textserie ermitteln, wie diese Begriffe von den vorgestellten AutorInnen definiert werden und welche gesellschaftliche Bedeutung ihnen jeweils zukommt. D.h., wir wollen zeigen, welche Form der bewaffneten Guerillapolitik (Land- und/oder Stadtguerilla, Propaganda der Tat), welches Aufstandsmodell (ökonomischer Generalstreik, politische (Hunger) Revolte, Putschismus) und welches Revolutionsmuster (Sturz/Austausch der Herrscherclique, Verhältnis zwischen sozialer und politischer Revolution, Kulturrevolution) von den zentralen Interpretinnen des Frühsozialismus, Anarchismus und Kommunismus favorisiert werden.
Wir versuchen mit dieser Textserie uns und Euch Materialien an die Hand zu geben, mit denen sich die allgemein verbreitete Geschichtslosigkeit in unseren Strukturen eventuell etwas abbauen lässt. Und ganz nebenbei: Wir wären zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht in der Lage, eine ausgefeilte Analyse zu Fragen des revolutionären Kampfes vor dem Hintergrund der vielschichtigen historischen Prozesse von emanzipatorischen Bewegungszyklen zu liefern. Wir befinden uns selbst in einer Art Meinungsbildungsprozess. Uns ist es vor allem wichtig, dass wir uns kollektiv inhaltlich herausfordern, denn die substanziellen Grundlagen, die wir uns jetzt aneignen sind die Basis, auf der wir später agieren werden. Jetzt ist unserer Auffassung nach der Zeitpunkt der konzentrierten Reflexion, jetzt versuchen wir tragfähige Strukturen aufzubauen, die in künftigen konfliktorischen Phasen der staatlichen Repression standhalten müssen und in denen wir eine inhaltliche (wir würden sagen ideologische) Stringenz und argumentative Genauigkeit unter Beweis stellen müssen. Die Defizite, die wir heute zulassen, werden uns später auf die Füße fallen. Denn nichts wäre fataler, als ein weiteres Projekt aufgrund des eigenen Dilettantismus auf inhaltlicher, praktischer und organisatorischer Ebene an die Wand zu fahren, weil a) die theoretische und ideologische Bestimmung blass bis unkenntlich blieb, b) die technischen Fertigkeiten völlig unausgereift waren, und c) die strukturellen Voraussetzungen nicht gegeben waren, um einen breit angelegten militanten und potentiell bewaffneten Angriff unter sozialrevolutionären und antiimperialistischen Vorzeichen führen, aufrechterhalten und erweitern zu können. Unser Interesse ist es wahrlich nicht, ein weiteres Negativ-Beispiel einer gut gemeinten, aber schlecht ausgeführten Initiative einer gruppenübergreifenden militanten Praxis der eh schon langen Kette von erodierten linksradikalen Aufbruchversuchen hinzuzufügen.
Unsere aktuelle desolate organisatorische und logistische Ausgangsbedingung („strategische Defensive“, bestehend aus Entpolitisierung, Privatisierung, Geschichtspessimismus, Legalismus, Opportunismus) können wir allerdings in einen Vorteil umwandeln, wenn wir den enormen Erfahrungsschatz, der von der weltweiten revolutionären Linken hinterlassen wurde, genau reflektieren und zu Schlussfolgerungen kommen. In einer Phase der „(vor-)revolutionären Ungeduld“ wäre dies nicht möglich; die Weichen wären bereits gestellt und die im Vorfeld erarbeiteten Grundlagen des Kampfes müssten aktiviert werden.
Diese Textserie hat die Aufgabe, den in unserem „Plattform-Papier“ aufgelisteten Leerstellen hinkradikaler Politik, insbesondere dem mangelnden revolutionären Geschichtsbewusstsein entgegenzutreten und „den theoretischen und praktischen Ursprüngen des revolutionären Kampfes zu folgen“. Mit diesem inhaltlichen Überblick über die militär- und guerillatheoretischen Beiträge der frühsozialistischen, kommunistischen und anarchistischen KlassikerInnen setzen wir unsere Auseinandersetzung um Organisierungsprozesse militanter und bewaffneter Politik an den historischen Anfang und bauen unsere Positionierung schrittweise aus. Das schafft unserer Meinung nach eher ein solides Fundament für unsere Politik, als wenn wir in alter, schlechter Manier mit unserem Halb. und Viertelwissen auftreten. Darüber hinaus versetzt uns die Beschäftigung mit einem Teilausschnitt der Inhalte der KlassikerInnen in die Lage, an das gesamte Werk und Wirken derselben herangeführt zu werden.
In diesem Kontext werden wir mit strategischen, operativen und taktischen Elementen der (kommunistischen) Kriegslehre und Militärwissenschaft vertraut gemacht. Die Strategie umfasst, banal gesprochen, das vielschichtige Ganze, um ein anvisiertes Ziel zu erreichen. In unserem Fall bildet dieses vielschichtige Ganze den „komplexen revolutionären Aufbauprozess“ mit seinen verschiedenen Elementen (Basisbewegung – militante Gruppen – Guerillastrukturen – revolutionäre Parteistruktur). Dieses Ensemble stellt die strategische Basis dar, um den sozialrevolutionären und antiimperialistischen Befreiungskampf auf kommunistischer Grundlage mit der Perspektive der Revolution (Definition siehe bei Marx) zu führen. Alle inhaltlichen, praktischen, logistischen und organisatorischen Haupt- und Grundfragen der Revolution sind demnach von strategischer Natur.
Die operative Kunst bezieht sich, wiederum vereinfacht ausgedrückt, auf einen bestimmten „Schauplatz“ des strategischen Gesamtkomplexes. In unserem Fall würden wir operativ vorgehen, wenn bspw. die gesamte Abschiebemaschinerie aufgrund der Interventionen der Gesamtorganisation zum Stillstand gebracht werden könnte. Mitunter kann die Operation aufgrund ihres Ausmaßes und ihrer Ergebnisse die Erreichung strategischer Teilziele des Kampfes (in dem Falle die Zerschlagung des institutionalisierten Rassismus) gegen die herrschenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse unmittelbar beeinflussen.
Die Taktik ist, wir verkürzen wieder, der Bereich der unmittelbaren, punktuellen Intervention (militärwissenschaftlich heißt das „Gefecht“). Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Eine erfolgreich verlaufene Sprengung eines Abschiebeknastes ist eine taktische Maßnahme, die ein Moment der operativen Aufgabenstellung (Kampf der Abschiebemaschinerie) darstellt. Eine militante Praxis kann – nach der von uns vorgetragenen Definition – erstens nie über den Bereich der Taktik hinausreichen und zweitens nur in einem gesamtorganisatorischen Rahmen diese taktische Bedeutung erlangen. Wir bewegen uns mit unserer militanten Praxis sozusagen in den „Niederungen“ der Taktik, es handelt sich hier in der Regel um Mittel und Methoden, um eine taktische Aufgabe (sprich ein „Gefecht“) zu lösen. Unsere Szene-Militanz kennt verschiedene Beispiele, die nach diesem formalen Rahmen, der aus der Kriegslehre und Militärwissenschaft kommt, nicht einmal ein irgendwie taktisches Motiv vorweisen können: eine punktuelle Wagensportaktion, bei der neben der „Bonzenkarre“ drei weitere daneben parkende Fahrzeuge (in der Regel Kleinwagen) von AnwohnerInnen ebenfalls flambiert werden. Diese Aspekte der Strategie, operativen Kunst und Taktik sind hier nur angerissen, müssen aber, auch wenn sie sehr theoretisch daherkommen, fortgesetzt werden.
Wenn wir von der Aneignung eines revolutionären Geschichtsbewusstseins hinsichtlich des revolutionären Kampfes in seinen verschiedenen Epochen sprechen, dann meinen wir damit nicht, eine 100%ige schablonenhafte Übertragung bspw. der Leninschen Ansätze aus „Der Partisanenkrieg“ aus dem Jahr 1905 auf aktuelle politische Prozesse vorzunehmen, sondern ein Verständnis, dass wir uns in einer lehrreichen Traditions- und Kontinuitätslinie befinden, aus der wir Potentiale und Kenntnisse für die heutige Zeit ziehen können. Zudem wird uns bei der Auseinandersetzung mit diesen klassischen Schriften auffallen, dass den Autorlnnen stets bewusst war, dass ihre Darstellung den Erfordernissen der jeweiligen Zeit entspricht und nicht umstandslos für jede Epoche Gültigkeit beanspruchen kann. D.h., dass eine Kopie auf heutige sozio-ökonomische Verhältnisse mehr über die AnwenderInnen einer verkürzten Analyse als über den kontextgebundenen Inhalt der kommunistischen und anarchistischen TheoretikerInnen und PraktikerInnen aussagt. Ein Verstoß gegen diese Prämisse bedeutet eine Dogmatisierung des KlassikerInnen-Materials. Mechanisches Kopieren von revolutionären Modellen auf andere Regionen zu anderen zeitlichen Umständen ist also keine „schöpferische Anwendung“ des KlassikerInnen-Materials.
Dennoch beinhaltet ein revolutionäres Geschichtsbewusstsein folgende Aspekte: a) der Erfahrungsreichtum der frühsozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Revolutionsbestrebungen muss studiert und analysiert werden, um für die eigene sozio-ökonomische Situation Schlussfolgerungen ziehen zu können (bspw. Spanischer Bürgerkrieg, die sandinistische Revolution oder der Frontprozess westeuropäischer Guerillagruppen), b) aus dem KlassikerInnen-Material können Grundprinzipen von allgemeiner Gültigkeit für eine sozialistische Revolution und eines anschließenden Übergangs zum Kommunismus herausgearbeitet werden (bspw. gegen Legalismus und für die „objektive Notwendigkeit“ des bewaffneten Kampfes), c) dieser sich selbst angeeignete theoretische und praktische Erfahrungshintergrund der kommunistischen und/oder anarchistischen Weltbewegung liefert die Basis für einen Geschichtsoptimismus, um aktuelle und zukünftige revolutionäre Befreiungsprozesse zu unterstützen oder zu initiieren (bspw. Widerstand und Revolution finden seit Menschmengedenken und in allen Epochen statt).
Die Ausführungen zum revolutionären Kampf bei den Klassikerinnen des Frühsozialismus, Anarchismus und Kommunismus beruhen zum einen auf den eigenen Forschungsergebnissen und der Verarbeitung der praktischen Erlebnisse, aber zum anderen stützen sie sich auf AutorInnen der Kriegslehre aus vergangenen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden. Lenin bspw. zog das berühmte Werk „Vom Kriege“ des preußischen Militärtheoretikers der antinapoleonischen „Befreiungskriege“ Carl von Clausewitz in einigen seiner Schriften heran. Lenin zitiert leicht ergänzt das Clausewitzsche Postulat, wonach“ „der Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen“ (nämlich: gewaltsamen) „Mitteln (ist)“„ (Lenin: Sozialismus und Krieg, Werke 21, S. 304). Auch Mao kam über die Schriften Lenins an Clausewitz, orientierte sich aber noch wesentlich stärker an dem „Traktat über die Kriegskunst“ des ältesten chinesischen Kriegstheoretikers und Vertreters der Ideologie der chinesischen Sklavenhalterdespotie Sun Tzu (Ssun-ds) aus dem 5. Jahrhundert v.u.Z. (die GenossInnen der MAG-APO verwiesen bereits auf ihn). Mao zitiert ihn, den er als „den größten Kriegstheoretiker des alten China“ bezeichnet haben soll, mehrfach mit dem Satz: „Erkenne den Feind und erkenne dich selbst; dann kannst du hundert Schlachten schlagen und gerätst doch nicht in die Gefahr, besiegt zu werden“ (Tse-Tung, Mao: Theorie des Guerillakrieges, S. 45). Präventiv wollen wir anmerken, dass wir, wenn es der „Sache der Militanzdebatte“ dient, inhaltlich bis ins alte China reisen werden. Wir bitten dann aber darum, uns darauf nicht zu reduzieren, denn die Leute „einige militante“ haben aus der Tatsache, dass wir u.a. die ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts und deren Kämpfe beleuchten (wollen), kurzgeschlossen, das wir alles andere „komplett ausblenden“ (vgl. Interim Nr. 576, 10.7.03) würden.
D.h., dass die TheoretikerInnen des Frühsozialismus, Anarchismus und wissenschaftlichen Kommunismus nicht im luftleeren akademischen Raum agierten, sondern Anleihen bei bereits Gedachtem, Gesagtem und Geschriebenem suchten und fanden. Wir haben es in der Kriegslehre bzw. der Guerillastrategie und -taktik mit zum Teil Jahrtausendealten Prinzipien zu tun, die zwar modifiziert und der jeweiligen Lage angepasst wurden, aber im Kern unverändert Bestand haben. Daraus folgt auch, dass es kein Monopol der revolutionären Linken bspw. auf die Methode des Guerillakampfes gibt. Die Form wird durchaus auch von reaktionären und faschistischen Gruppen theoretisiert und praktiziert. Hier liegt der entscheidende Unterschied nur zum Teil in der Form, mehr aber in dem Inhalt der Methode, wenn wir uns als ein aktuelles Beispiel des revolutionären Kampfes die Konfrontation der FARC-EP gegen die faschistischen Paramilitärs der AUC in Kolumbien vor Augen führen. Von daher halten wir auch die Aussage für falsch, dass erst ab Mitte der 90er Jahre in der BRD die Gleichung militant = links nicht mehr aufgehen würde (vgl. A.G. Grauwacke. Die ersten 23 Jahre. Autononne in Bewegung, S. 327). Erinnert sei nur an die brandschatzenden Männerhorden der SA während der Weimarer Republik bzw. des Faschismus oder die neo-nazistischen „Wehrsportgruppen“ bzw. die „Deutschen Aktionsgruppen“ in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Da es sich bei dem komplexen Themenfeld „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution“ um eine Textserie handeln soll, wollen wir etwa in einem jährlichen Rhythmus jeweils einen Beitrag liefern, wobei diese Aussage vor dem Hintergrund des enormen Arbeits- und vor allem Lese- und Diskussionsaufwandes recht optimistisch ist. Diese Beiträge sollen von ihrer Länge und Ausführlichkeit „verdaulich“ sein. Dieser erste (Teil-)Text mag vielleicht nicht diesen „leicht verdaulichen“ Eindruck machen, aber wenn man die Menge der verwendeten Literatur bedenkt, ist er vom Umfang her doch einigermaßen bescheiden. Wir werden dabei die wichtigsten Schriften und Werke der verschiedenen hier besprochenen Personen heranziehen.
Zum Teil wird dieser Text recht zitatenlastig sein, da wir zum einen die Originalquellen benennen und zum anderen dazu animieren wollen, selbst in das Quellenstudium einzusteigen. Aufgrund dessen wird der Hinweis (wahlweise auch Vorwurf) schnell zu hören sein, dass es sich um einen „(sehr) abstrakten“ Beitrag handelt. Es ist schwierig, solch eine pauschale Aussage zu entkräften, da kaum etwas weniger abstrakt“ ist als eben diese. Abstrakt“ kann ein Text auf unterschiedlichen Feldern sein: er kann wegen des Schreibstils (verschachtelte, mit Fremdwörtern gespickte Sätze), seiner Komplexität (zu viel Inhalt dicht gedrängt) oder des Themas (für bestimmte LeserInnen weitgehend inhaltliches Neuland) als abstrakt“ betitelt werden. All diese drei Momente treffen sicherlich in einem gewissen Maß auch auf diesen Text zu. Allerdings wollen wir Euch bitten, dass lhr die Zelt und Geduld für diesen und alle anderen Beiträge der Militanzdebatte aufbringt. Wir denken, es ist objektiv‘ feststellbar, dass namentlich unsere Texte (trotz ihrer beachtlichen Defizite in der Präsentation) im Gegensatz zu Papieren aus dem antiimperialistischen Frontprozess der 80er Jahre geradezu durch eine flüssige „Schreibe“ auffallen. Macht einfach selbst den „Test“. Also nicht zu früh diese Seiten weglegen, sich ein bisschen durchwurschteln‘ sowie sich langsam mit dem Themenkomplex „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution“ vertraut machen.
Das von uns zusammengefasste Material kann für andere Gruppen nur der Ausgangspunkt einer eingehenden und detaillierten Auseinandersetzung mit dieser Thematik sein, denn die inhaltlichen Grundlagen müssen von jeder Gruppe in Eigenregie erarbeitet werden. Mit dieser Textserle geht es uns um kein belangloses Theoretisieren, diese Textproduktion ist kein semi-akademischer Selbstzweck. Wir wollen eine ergebnisorientierte Diskussion um Konzeptionen des revolutionären Kampfes führen, die uns zielführend Richtung Praxis bringt. Wir stellen die inhaltliche und theoretische Arbeit in den „Dienst“ des Primates der Praxis.
Wir haben zu Beginn dieses Textes gesagt, dass wir den ersten Serienbeitrag aufgrund der Länge in zwei Abschnitte teilen werden. Der zweite wird sich unter anderem mit den Ansätzen und Positionen hinsichtlich der Thematik „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution“ von Mehring, Kautsky, Luxemburg, Gramsci, Bordiga, Lenin, Frunse, Trotzki, Bucharin, Stalin und Kalinin beschäftigen. Soweit der kleine Ausblick.
III. Die frühsozialistischen „Verschwörungs“- und Aufstandsmodelle von Francois Noel Gracchus, Babeuf und Louis Auguste Blanqui
Die Kategorie „Frühsozialismus“ ist in wissenschaftlichen Kreisen keineswegs eindeutig zeitlich und personell geklärt. Einige datieren „frühsozialistische“ Ideen und Ideale bis in die griechische Antike (z.B. Platons Politeia) zurück. Zur Charakterisierung der Propagandisten und Agitatoren einer gerechten und gleichen Gesellschaft vor dem geschichtsmächtigen Auftritt der Theorie und Praxis von Marx/Engels werden auch die Begriffe „Vorsozialismus“, „vor-marxistischer Sozialismus“ oder „utopischer Sozialismus und Kommunismus“ gebraucht.
Wir haben an dieser Stehle nicht den Platz, um auf die einzelnen Auslegungen der eben aufgeführten Begriffe einzugehen. Es wäre zudem ein recht aufwendiges Auseinanderklamüsern der verschiedenen Nuancen in den Begriffsdefinitionen. Eines lässt sich allerdings allgemein festhalten: dem Wandel der sozio-ökonomischen Verhältnisse entspricht ein Wandel der Sicht- und Herangehensweisen. Der Frühsozialismus hat sich auf die unmittelbar vorgefundene, allen greifbare Erfahrung berufen, deshalb das oft sehr Appellative und Moralisierende in Bezug auf die eklatanten sozialen Verhältnisse. Der „wissenschaftliche“ Sozialismus von Marx/Engels versucht dagegen das Grundverhältnis der sozialen Zusammenhänge zu analysieren und die klassenspezifischen Rollen der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte (Klassenkampf Proletariat vs. Bourgeoisie) zu definieren.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Aussage gegenüber anderen, sie würden einer frühsozialistischen und/oder utopistisch-sozialistischen Argumentation nachhängen, gerne als diskreditierender Einwurf verwendet wurde und wird, um andere Positionen kalt abzuservieren.
Zu den wichtigsten und bekanntesten frühsozialistischen bzw. „utopischen Staatsmodellen“ aus dem 16. und 17. Jahrhundert zählen: Thomas Morus (1478-1535) Schrift „Utopia“ (1516), Tommaso Campanellas (1568-1639) Werk, Sonnenstaat“ (1602) und Francis Bacons (1561-1626) „Neu-Atlantis“ (1624). Zu den Vertretern des „kritisch-utopischen Sozialismus“ des 19. Jahrhunderts in Frankreich und England gehören Charles Fourier (1772-1837), Claude Henri Saint-Simon (1760-1825) und Robert Owen (1771-1858). Alle drei letztgenannten Theoretiker, die oft im „Dreier-Pack“ genannt werden, hatten während und nach ihren Lebzelten eine gewisse Anhängerschaft, die deren theoretische Entwürfe aufnahmen und eine allgemeine Weltanschauung darum drapierten (z.B. Saint-Simonismus). Allen ist (zugegeben etwas oberflächlich betrachtet) gemeinsam, dass sie mehr am Ersinnen von (utopischen) Sozialrezepten interessiert waren als an einen Projekt der praktischen Umwälzung der herrschenden Verhältnisse. Robert Owen und seine Anhänger, die Owenisten, versuchten verschiedentlich genossenschaftliche Kommunen (Gemeineigentum von Land und Werkstätten, kollektive Bodennutzung, gleiches Entgelt etc.) zu etablierten, die reihenweise an den eigenen Ansprüchen scheiterten. Auch bei Charles Fourier finden wir ein Programm eines alternativen Gemeindelebens, das „Phalansterium“. Dieses ausgeklügelte System einer Sozial-Utopie hat August Bebel durch seine Fourier-Biographie in die Reihen der Arbeiterbewegung getragen. Claude Henri Saint-Simon setzte emphatisch auf den technischen Fortschritt, der einzig und allein in den Dienst der Menschheit zu stellen sei. Der saint-simonistische lndustrialismus war hiernach der Garant für das Allgemeinwohl. All diesen utopistischen Anschauungen und ihren Anhängern ist später (zurecht oder zu unrecht) das Etikett einer „Sektenbewegung“ angeheftet worden.
Die bekannte (DDR-)Wissenschaftlerin Waltraud Seidel-Höppner, die sich jahrzehntelang mit dem „utopischen Sozialismus und Kommunismus“ auseinandergesetzt hat, meint hierzu im Zusammenhang mit den Überlegungen des Arbeiterkommunisten Wilhelm Weitling, auf den wir im Kapitel VI. zu sprechen kommen, folgende: „Die Idee der Revolution erhebt Weitling über viele seiner utopistischen Vorgänger und Zeitgenossen. Morelly sieht in der Herrschaft der Weisheit das Mittel zur gesellschaftlichen Umgestaltung. Saint-Simon will durch die Herrschaft von Industrie und Wissen das Elend beseitigen. Fourier wartet auf einen Mächtigen, der seine Pläne verwirkliche. Owen versucht es durch Musterbetriebe innerhalb der kapitalistischen Umwelt. Proudhon erträumt das Glück der Menschheit von einer Nationalbank mit zinslosem Kredit für die Arbeiter. Louis Blanc will der alten Gesellschaft mit Nationalwerkstätten auf den Pelz rücken. Cabel beharrt auf den Prinzipien der friedlichen Überzeugung und des Beispiels. Weitling dagegen erwartet, wie die Neobabouvisten in Frankreich, die kommunistische Umgestaltung in Deutschland von der Revolution“ (Seide-Höppner, W.: Wilhelm Weitling. Der erste deutsche Theoretiker und Agitator des Kommunismus, S. 158-159).
Marx und Engels haben, um ihre eigenen Positionen stark zu machen, regelmäßig in Ihrer publizistischen Tätigkeit die Auseinandersetzung mit anderen „Sozialismen“ gesucht. Dabei haben sie die aus Ihrer Sicht wichtigsten Elemente einer Abgrenzung des „utopischen“ vom „wissenschaftlichen“ Sozialismus benannt:
„Die erste Phase in dem Kampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist durch die Sektenbewegung bezeichnet. Diese ist berechtigt zu einer Zeit, in der das Proletariat sich noch nicht hinreichend entwickelt hat, um als Klasse zu handeln. Vereinzelte Denker unterwerfen die sozialen Gegendsätze einer Kritik und geben zugleich eine phantastische Lösung derselben, welche die Masse der Arbeiter nur anzunehmen, zu verbreiten und praktisch ins Werk zu setzen braucht. Es liegt schon in der Natur dieser durch die Initiative einzelner gebildeten Sekten, dass sie sich jeder wirklichen Tätigkeit, der Politik, den Streiks, Gewerkschaftsgenossenschaften, mit einem Worte jeder Gesamtbewegung gegenüber fremd und abgeschlossen verhalten. Die Masse des Proletariats bleibt stets ihrer Propaganda gegenüber gleichgültig, ja selbst feindlich. Die Arbeiter von Paris und Lyon wollten ebenso wenig von den Saint-Simonisten, Fourieristen, Ikariern wissen, wie die englischen Chartisten und Trade-Unionisten von den Owenisten. Die Sekten, im Anfange Hebel der Bewegung, werden ein Hindernis, sowie diese sie überholt; sie werden dann reaktionär (...) Kurz, sie stellen die Kindheit der Proletarierbewegung dar, wie die Astrologie und Alchimie die Kindheit der Wissenschaft. Damit die Gründung der Internationalen zur Möglichkeit wurde, musste das Proletariat diese Entwicklungsstufe überschritten haben“ (MEW 18, 32-34).
Engels hat in seinem „Anti-Dühring“ die Zeitgebundenheit der „Utopisten“ und ihre aus den materiellen Bedingungen der damaligen Umstände erfolgten Appelle an die Vernunft und Moral in den Vordergrund gerückt: „Die Utopisten (...) waren Utopisten, weil sie nichts anderes sein konnten zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktion noch wenig entwickelt war. Sie waren genötigt, sich die Elemente einer neuen Gesellschaft aus dem Kopf zu konstruieren, weil diese Elemente in der alten Gesellschaft selbst noch nicht allgemein sichtbar hervortraten; sie waren beschränkt für die Grundzüge ihres Neuaufbaus auf den Appell an die Vernunft, weil sie eben noch nicht an die gleichzeitige Geschichte appellieren konnten“ (MEW 20/247).
Für Marx und Engels bildete der „kritisch-utopische Sozialismus“ das Paar Kinderschuhe, aus dem der wissenschaftlich und materialistische begründete klassen- und staatenlose Gesellschaftszustand – der Kommunismus – etappenweise entspringen sollte.
Aus dem reichhaltigen Angebot der frühsozialistischen oder vormarxistischen Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts wollen wir uns auf jene konzentrieren, die nicht nur ein (gedankliches) Planspiel einer künftigen real ungesetzten Utopie verkündeten, sondern konkret Schritte für einen Umsturz mittels einer „geheimen Verschwörung“ und eines organisierten Aufstandes einleiteten.
Hiervon ausgehend stoßen wir unweigerlich auf zwei Exponenten, die vor allem auch für die nachfolgenden Generationen des Sozialismus und Kommunismus eine große Bedeutung erlangen sollten: Francois Noel (Gracchus) Babeuf (1760-1797) und Louis Auguste Blanqui (1805-1881). Blanqui kam vermittelt durch den Mitkämpfer und „-verschwörer“ Babeufs, Filippo Buonarotti (1761-1837), der die babouvistische Tradition in konspirativen Zirkeln und dem Buch „Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit“ (1828) aufleben ließ, mit der politischen Praxis und dem Gedankengut Gracchus in Kontakt. Blanqui war, um kurz vorzugreifen, Mitglied der babouvistischen klandestinen Organisation „Gesellschaft der Volksfreunde“ von Buonarotti. Es bietet sich demnach an, siclm vor dem Hintergrund des Inhalts dieser Textreihe auf diese beiden politischen Praktiker einzulassen.
Babeuf als Haupt der „Verschwörung der Gleichen“ von 1796 gilt als „erster moderner Sozialrevolutionär“ (Hofmann, W.: Ideengeschichte der sozialen Bewegung, S. 41). Das nach ihm benannte ideologische System, der Babouvismus‘ „stellte den ersten Versuch dar, den Kommunismus in die soziale und politische Wirklichkeit hineinzutragen“ (Droz, J.: Geschichte des Sozialismus, Bd. 1., S. 337). Der Klassenkampfgedanke kommt in jeder Deutlichkeit in seinen Ausführungen zum Ausdruck: „Was ist eine politische Revolution, allgemein gesprochen? Was ist die Französische Revolution im Besonderen? Ein offener Krieg zwischen Patriziern und Plebejern, zwischen Reichen und Armen“ (zit. nach: Fischer, P: Babeuf. Der Krieg zwischen Reich und Arm, S. 8). Um seinen „rebellischen Gestus“ zu unterstreichen, nahm er in Anlehnung an die römischen Volkstribunen Tiberius und Gaius Gracchus, die für eine Bodenreform im Interesse der verarmten Volksmassen eintraten und der aristokratischen Reaktion zum Opfer fielen, deren Namen an.
Zeichnen wir einige seiner politischen Lebensstationen nach: Babeuf wird 1760 als Sohn Claude Babeufs, eines Angestellten der Steuerbehörde, geboren und arbeitet im Dienst der lokalen Grundherren. Nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1780 muss Babeuf für den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen. Ab 1784 ist er als Feldvermesser und Grundbuchverwalter tätig und gewinnt dabei Einblick in die bedrückte Situation der bäuerlichen Bevölkerung. Wichtige Impulse für seinen Atheismus und Materialismus empfängt Babeuf vermutlich von Helvétius (1715-1771). Des Weiteren ist er von den gesellschaftstheoretischen und philosophischen Anschauungen von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Gabriel Bonnot de Mably (1709-1785) und Morelly (um 1715 geboren) beeinflusst worden. Von 1185 bis 1788 korrespondiert er mit dem Sekretär der Akademie von Arras über Lösungsmöglichkeiten für die soziale Frage. Seit 1790 entwickelt er ein kollektivistisches Wirtschaftsmodell und konzipiert eine neue Steuerreform.
Nach Ausbruch der Französischen Revolution 1789 setzt sich Babeuf als Journalist für die ökonomische Gleichstellung und die Einführung der republikanischen Staatsform ein. Er wird aufgrund seiner politischen Aktivität in den Folgejahren der klassenspezifisch (Girondisten vs. Sansculotten) umkämpften Französischen Revolution mehrmals inhaftiert. Erst 1794 ist er wieder in Freiheit und gibt sein politisches Sprachrohr „Der Volkstribun“ heraus. Babeuf unterstützt anfangs die jakobinische Diktatur Robespierres bis dieser bzw. seine Anhängerschaft die Datonisten und Herbertisten (Anhänger von Jacques-Rene Herbert (1757-1794), der in der Französischen Revolution als ein Protagonist der plebejisch-frühproletarischen Massen auftrat) hinrichten lassen und in der Periode des „Großen Terrors“ (10.6-27.7.1794) gegen vermeintliche oder tatsächliche Feinde der Werte der Französischen Revolution, die der Jakobinsmus zu verteidigen glaubt, zu Felde zieht. Babeuf erkennt allerdings schnell nach dem Sturz und der Hinrichtung Robespierres (27/28.7.1794 bzw. 9. Thermidor nach dem Revolutionskalender), dass für die Volksmassen, linke und jakobinische Kräfte eine neue politische und soziale Eiszeit hereinbrichst, die lediglich für das aufstrebende Großbürgertum eine goldene Zukunft verheißt. Folgerichtig werden von den großbourgeoisen Machthabern alle erbarmungslos verfolgt, die sich ein egalitäres Gesellschaftsmodell zum Ziel gesetzt haben. Es werden ebenfalls royalistische Restaurationsbestrebungen im Keim erstickt; hier tut sich besonders ein gewisser Napoleon Bonaparte hervor.
Babeuf adelt jetzt den Jakobinismus Robespierres und weist ihm eine ehrbare Zukunft zu: „Robespierrismus – das Ist Demokratie, und diese beiden Wörter sind identisch; wenn ihr den Robespierrismus wiederbelebt, könnt ihr überzeugt sein, dass ihr die Demokratie wiederbelebt“ (zit. nach: Hahn, M.: Vormarxistischer Sozialismus, S. 73-74).
In dieser Zeit der beginnenden Organisierung der „Verschwörung der Gleichen“ hat Babeuf die für uns wichtigsten Aussagen getroffen, die in unseren Themenrahmen passen. Babeuf und seine Sympathisanten gründen im November 1795 mit linken Jakobinern den „Pantheonsclub“ als Sammelbecken der vereinten Opposition. Diese Vereinigung hat sich den Sturz des neuen großbürgerlichen Direktoriums, die Errichtung einer robespierristischen Republik der Gleichheit und die Abschaffung des Privateigentums auf die Fahne geschrieben. Die Französische Revolution wird von diesem Kreis nur als Vorläufer einer zweiten Revolution, einer egalitären, gesehen.
Nachdem die thermidorianische Reaktion den Pantheonsclub im Februar 1796 schließen lässt, wird die Oppositionsbewegung gänzlich in den Untergrund gedrängt. Die „Gleichen“ stellen sich notgedrungen auf die illegalen Bedingungen um, ohne auf ihren Kampf um Massenanhang zu verzichten. Sie bilden im März jene geheime, straff organisierte Bewegung, die als „Verschwörung der Gleichen“ in die Geschichte eingegangen ist“ (Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. 1, S. 79). Über den Aufbau einer klandestinen revolutionären Organisation und den Aufstandplan der Babouvisten geben die AutorInnen weiter Auskunft: „Die Bewegung ist in kleinen Gruppen organisiert, die einander nicht kennen, so dass ihre Entdeckung die Gesamtorganisation nicht gefährden kann. In allen Stadtbezirken wirken Gruppeninstrukteure. Über Verbindungsmänner halten sie Kontakt mit dem geheimen Zentralkomitee. Sie geben Agitationsmaterial weiter und unterrichten das Zentralkomitee über die Stimmung der arbeitenden Massen und die Zahl der Mitglieder und potentiellen Mitkämpfer (...) Für den Aufstand besteht ein genau festgelegter Plan. Die zwölf Sektionen sollen unter dem Befehl ihrer Kommandeure marschieren und sich zu drei Divisionen vereinigen, um alle öffentlichen Gebäude und Munitionsdepots, aber auch die Lebensmittellager zu besetzen (...)“ (ebd., S. 81-82). Dieses konspirative Organisationsmodell „bezeichnet einen Bruch mit den bis dahin von der Volksbewegung verwendeten Methoden“, meint der Historiker Albert Soboul. Weiter führt er aus: „Im Zentrum steht die Führungsgruppe, die sich auf eine kleine Zahl erprobter Kämpfer stützt; dann der Kreis der Sympathisanten aus Patrioten und Demokraten (...), die nicht vollständig eingeweiht waren und das neue Ideal offenbar nicht ganz und gar teilten; schließlich die Volksmassen selbst, die es im Schatten der Krise mitzureißen gilt. Eine hervorragend organisierte Verschwörung: allerdings scheint das Probleme der notwendigen Verbindung mit den Massen unzureichend gelöst“ (Soboul, A.: Kurze Geschichte der Französischen Revolution, S. 117).
Diese Aussagen über Organisationsaufbau und Aufstandsplan geben in weiten Teilen eine Blaupause für Umsturzprojekte der nachfolgenden Zeit ab. Nicht umsonst konnte Buonarroti dieses Grundmuster eines babouvistischen Revolutionsausbruchs einige Jahrzehnte später Blanqui schmackhaft machen.
Babeuf sieht klarer als seine frühsozialistischen Vorgänger den inneren Zusammenhang von ökonomischen Interessen, politischer Macht(erhaltung) und der Notwendigkeit der sozialen Umwälzung: „Wenn ihr mich soweit bringt, dass ich mir weder Brot noch Holz noch Kleidung verschaffen kann, wenn ihr die Waren zurückhaltet und die Preise steigert, wenn ihr mir alle Arbeitsmöglichkeiten nehmt, mir den Mund verbietet und meinen begründeten Protest erstickt (...) brauche ich mich nicht lange abzumühen, um herausfinden, dass ihr die Ursache seid, denn ihr allein seid alles, ihr verwaltet, – regiert und bestimmt alles“ (zit. nach: Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. 1., S. 89). Hier leitet Babeuf das Recht zum Aufstand ab, denn die ausbeuterischen und erpresserischen sozialen Situationen bedingen es, dass der Gesellschaftskessel zur Explosion gebracht wird. Eine durchzuführende Revolution bedeutet nach Babeuf, „sich gegen einen Stand der Dinge verschwören, der nicht mehr am Platze ist; es bedeutet, ihn erschüttern wollen, um an seine Stelle etwas Besseres zu setzen. Solange also das Wertlose nicht gestürzt und das, was gut wäre, nicht fest verankert ist, solange leugne ich, dass die Revolution für das Volk zu Ende geführt worden ist“ (Babeuf, G.: Was ist eine Revolution? In: Fischer, P.: Babeuf. Der Krieg zwischen Reich und Arm, S. 103). An verschiedenen Stellen in seinen Texten insistiert Babeuf darauf, dass eine Revolution, die sich den verarmten Volksmassen verschrieben hat, nicht den Partikularinteressen einer exponierten Schicht folgen kann. In diesem Kontext bemerkt er, dass es zum typischen Sprachgebrauch der Eliten gehört, die Begriffe der Revolution in ihr Gegenteil zu wenden: „Die Machthaber von heute legen das Wort Revolution sehr sonderbar aus, wenn sie behaupten, dass die Revolution bei uns zu Ende sei. Sollen sie doch lieber sagen: die Gegenrevolution (...) gewisse Leute (nennen) die Konterrevolution Revolution. Umgekehrt ist der Aufbau für diese Herren Zerrüttung. Ich nenne (...) zerrüttet jede Gesellschaftsordnung, die eine Minderheit übersättigt und die Mehrheit dahinsiechen und umkommen lässt (...) Der Sprachgebrauch in Palästen, Schlössern und Villen ist so beschaffen, dass dieselben Wendungen fast immer das gerade Gegenteil von dem bedeuten, was man in ärmlichen Behausungen damit sagen will“ (ebd., S. 104 und 105). Ein Faktum, welches wir auch heute jeden Tag in der Presse lesen können, wenn uns Vertreterinnen der Bundestagsfraktionen oder aus den Zentralen der Unternehmensverbände ihre „Reformen“ aufdrücken wollen.
Babeuf ist ein Verfechter einer gewaltsamen revolutionären Umwälzung, d.h. aber nicht, dass er unreflektiert einem „Gewalt-Exzess“ gegen die unterdrückende Kaste propagiert. Nein, er lässt erkennen, dass er klare taktische Vorstellungen hinsichtlich des Gewalteinsatzes hat. In einem Brief an seinen Militärorganisator Charles Germain heißt es: „Es ist eine großartige Idee von Dir, den Aufruhr von Ort zu Ort übergreifen zu lassen und einen großen Teil der Menschheit schlagartig zum Leben der Gleichheit zu erwecken; aber man kann nur das wollen, was auch durchführbar ist. Was Du vorschlägst, wäre möglich, könnte man lange genug die große Masse ungehindert lehren und unterweisen, um sie vollständig mit dem Ziel vertraut zu machen, das ihren Interesse entspricht. Aber ganz offensichtlich würdest Du unvermeidlich von den gegenwärtigen Machthabern verhaftet werden, sobald Du nur damit anfingst. Nun gut, angenommen Du (...) hättest zahlreiche zuverlässige Anhänger. In einer einzigen Nacht und zur gleichen Stunde suchten sie Deine Idee zu verwirklichen, alles in Schutt und Asche zu verwandeln. Welch furchtbaren Eindruck aber wird das auf die Geister machen, die auf eine so unerhört energische Tat nicht vorbereitet sind! Man sähe in Deinen Anhängern nur Banditen, Brandstifter und abgefeimte Verbrecher (...) Unser Plan würde der Nachwelt als ein abstoßendes Unterfangen überliefert, in dem sich wahnwitzigste Schwärmerei mit dem abscheulichen verbrecherischen Vorsatz eines Umsturzes paart, der jede vernünftige und gerechte Ordnung zerstört“ (Gracchus Babeuf an Charles Germain, in: Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. II, S.66 und 67).
Babeuf spricht sich für ein durchdachtes und nicht übereiltes Vorgehen hinsichtlich des Aufstands aus. Zudem hält er es für erfolgsversprechender, wenn nicht per (illusorischen) Handstreich das gesamte Land eingenommen, sondern eine Bastion, von der man dann weiter schreitet‘ erkämpft wird. Dieser Vorschlag ist „nicht so heroisch“, aber spricht „für die Dauerhaftigkeit des Erfolgs“ (ebd., S. 68 und 69). Babeuf würde missverstanden werden, wenn man daraus ablesen wollte, er wäre ein (revolutionärer) Zauderer und Bedenkenträger. Im Gegenteil, er setzt, wenn es zum Signal des Aufstandes kommen sollte, auf das Maximum: „Dem alten Regime der Unterdrückung (...) nur die Haut ritzen, bedeutet, der Früchte einer Revolution verlustig gehen; man muss es vernichten oder läuft Gefahr, wieder von vorn anfangen zu müssen“ (ebd., S. 68).
Babeuf hat sich auch über die nachrevolutionäre Ära Gedanken gemacht, wie die neu errungene Ordnung aufrecht zu erhalten und vor der Reaktion zu schützen sei. Ihm war vor dem Hintergrund der politischen Wirren in den Folgejahren der Französischen Revolution einsichtig geworden, dass auf eine Diktatur einer revolutionären Minderheit solange nicht verzichtet werden kann, bis die Gesellschaft in ihren Grundzügen ungestaltet ist und ein neues Gefüge errichtet wurde. Die Notwendigkeit einer revolutionären Volksdiktatur für die Dauer einer Übergangsperiode fand ihre spätere Fortsetzung in Blanquis „Pariser Diktatur“. Diese wiederum soll einigen Autoren zufolge eine Vorlage für „die leninistische Lehre und Praxis der Diktatur des Proletariats“ (Soboul, A.: Kurze Geschichte der Französischen Revolution, S. 118) gewesen sein. Andere sehen dies nicht so naht- und widerspruchslos: „Gewiss ist der babouvistische Gedanke der Übergangsdiktatur nur die embryonale Form dessen, was wir heute unter Diktatur des Proletariats verstehen (...) sie bietet eine plebejische Variante zum jakobinischen Wohlfahrtsausschuss. Im Unterschied zu diesem könnte sich die Revolutionsregierung auf die vom Volk selber hervorgebrachten örtlichen Machthebel stützen (...)“ (Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. 1, S. 93).
Das Credo des egalitären, gleichheitskommunistischen Ansatzes des Babouvismus spiegelt sich in dem Ausspruch „Haben die einen zuviel, dann haben die anderen zuwenig (...) Es ist daher gerecht, es ihnen wieder zu nehmen“ (Babeuf, G.: Manifest der Plebejer, in: ebd., Bd. II, S. 77 und 78). Das Endziel der neu zu installierenden „plebejischen Institutionen“ liegt darin, „das gemeinschaftliche Glück zu sichern, den gleichen Wohlstand aller Mitglieder der Assoziation“ (ebd., S. 71), denn „die vollkommene Gleichheit ist ein Urrecht“ (ebd.). Babeuf streitet für eine Gesellschaftsordnung, die auf Gemeineigentum gründet, in der dem einzelnen nurmehr die Gegenstände des persönlichen Bedarfs als privater Besitz gehören. Alle gesellschaftlich erarbeiteten Produkte sollen nach diesem Modell im zentralen Warenlagern erfasst und auf Grund genauer Listen nach dem Prinzip strikter Gleichheit verteilt werden. Ausdrücklich wird präventiv der Kritik entgegnet, dass ein solches Modell dem ,Müßiggang“ Tür und Tor öffnen würde. Babeuf schreibt in einem Brief an seinen Mit-Verschwörer und Verantwortlichen der militärischen Organisation des Aufstandes, Charles Germain, folgende Zeilen: „Unser Gleichheitsprinzip bei der Verteilung der Früchte und Erzeugnisse aller vergesellschafteten produktiven Tätigkeiten gründet sich auf die strenge Verpflichtung zu gleichem Einsatz, zumindest aber in dem Maße, wie Jeder von der Natur mit geistigen und körperlichen Fähigkeiten ausgestattet wurde“ (Gracchus Babeuf an Charles Germain, in: ebd., S. 63).
Grundsätzlich tragen Babeufs Vorstellungen von Kommunismus einen agrarwirtschaftlichen Charakter des vorindustriellen Frankreich. Seine Hauptsorge gilt weniger der Produktion als der Verteilung. Wie andere Protagonisten einer kommunistischen Umwälzung aus dieser Zeit leitet er diese nicht aus einer „historischen Gesetzmäßigkeit“ ab, sondern aus der natürlichen Gleichheit aller Menschen und aus dem Interesse der verarmten Volksmassen. Dieser „Agrar- und Gleichheitskommunismus“ ist Ergebnis des Standes der damaligen Produktivkräfte und nicht als „Vorwurf“ eines rückwärtsgewandten theoretischen Ansatzes zu definieren.
Der Babouvismus repräsentiert den ersten ernsthaften Versuch, die kommunistische Theorie mit der frühproletarischen Bewegung zu verbinden. Demnach stellt er einen Fortschritt in der Geschichte des Kommunismus dar, zumal er begreift, die Theorie als Waffe im praktischen Kampf zu machen: „er fasst sie als Gewalt, die die Massen revolutioniert. In der praktischen Bewegung wachsend, aus ihr lernend, verdichten sich Wissen und Aufklärung zum revolutionären Programm“ (ebd., Bd. 1., S. 87).
Babeufs politisches und physisches Ende wurde, wie so häufig in der Geschichte, durch ein Komplott in den eigenen Reihen verursacht: Nachdem Georges Grisel, einer der Regierungsspitzel innerhalb der „Verschwörung der Gleichen“, die großbürgerlichen Machthaber des Direktoriums über den geplanten Aufstand informiert hat, werden fast alle Verschwörer am 9. und 10. Mai 1796 verhaftet. Babeuf redigiert zu diesem Zeitpunkt zusammen mit Buonarotti in seinem Haus die Manifeste, in denen er zum Aufstand aufruft. Insgesamt 65 Verschwörer werden vor einem eigens eingerichteten Sondergericht im Mai 1796 angeklagt. Nach dreiwöchiger Verhandlung werden Babeuf und Darthé (1769-1797 ) am 27.05.1797 zum Tode verurteilt. Sieben andere, zu denen auch Buonarotti gehört, werden in ein Straflager deportiert, während die restlichen 56 Angeklagten freigesprochen werden.
Babeuf und Darthé erdolchen sich vor den Augen ihrer Richter, als das Urteil verkündet wird, werden aber dennoch guillotiniert. Dies war der Versuch, den eigenen Abgang für die Nachtwelt theatralisch zu inszenieren. Wenige Stunden vor Verkündung des Urteils schreibt Babeuf an seine Angehörigen: „Lebt wohl auf ewig. Ich hülle mich in den Schoß eines tugendhaften Schlafes“ (Babeuf, G.: Letzter Brief an Frau und Kinder, in: Fischer, P.: Babeuf. Der Krieg zwischen Reich und Arm, S. 119).
Gehen wir nun zu einer Person über, die geradezu die Personifizierung des permanenten Aufstandes gegen Aristokratie und Bürgertum darstellt: Louis Auguste Blanqui. Auch hier wollen wir einige biografische Daten vorausschicken: Blanqui, „Kopf und Herz der proletarischen Partei in Frankreich“ (MEW, 30, S. 617), wurde 1805 als Sohn eines ehemaligen girondistischen Konventsabgeordneten und späteren napoleonischen Unterpräfekten geboren. Bis zu seinem Tod am 1. Januar 1881 verhängte die großbürgerliche Klassenjustiz zwei (nicht vollstreckte) Todesurteile gegen Ihn. Er verbüßte insgesamt 35 Jahre seines Lebens im Kerker, 10 Jahre im Exil und unter polizeilicher Aufsicht. Blanqui nahm seine routinemäßige Einknastung mit dem ihm eigenen Humor hin; so antwortete er vor dem Kriegsgericht 1872 auf die Frage nach seinem Wognort: „Außer dem Gefängnis habe ich keinen“ (zit. nach Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. I, S. 484).
In dem letzten Jahren der bourbonischen Restauration (1815-1830) gehörte er der bürgerlich-revolutionären Carbonaribewegung an. Als einer der studentischen Aktivisten wird er 1827 dreimal bei Straßendemonstrationen verwundet. An der bürgerlich-demokratischen Julirevolution 1830 nahm er aktiv teil. In der Folgezeit war er führendes Mitglied bzw. Mitbegründer zumeist konspirativer „Verschwörer-Gruppen: „Gesellschaft der Volksfreunde“ (1830-32, zusammen mit dem Babouvisten Buonarroti), „Gesellschaft der Familien“, 1835/36), „Gesellschaft der Jahreszeiten“, 1838/39). In diesen Gruppierungen versammelten sich unter einem harmlos klingenden Namen Oppositionelle, die in der Zeit der 30er und 40er Jahre logenartige, konspirative Organisationsrahmen für ihre politische Betätigung wählten. Angesichts der durch die wirtschaftlichen und politischen Krise hervorgerufenen Gärung unternimmt die „Gesellschaft der Jahreszeiten“ im Mai 1839 einen bewaffneten Aufstand in der Erwartung, Ihr avantgardistisches Vorbreschen werde die pauperisierten Massen zum revolutionären Sturz des monarchistischen Regimes mitreißen. Nach dem niedergerungenen Maiaufstand von 1839 wird er erstmals zum Tode verurteilt und zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Erst die Februarrevolution von 1848 entlässt ihn und alle politischen Gefangenen erneut ins politische Vollprogramm.
In dem großen Aufbruchsjahr 1848 vertrat er mit dem Klub „Zentrale Republikanische Gesellschaft“ den linken proletarisch-kommunistischen Flügel. Nach 1860 entstand um Blanqui eine selbständige politische Bewegung, die „Blanquisten“. Der „Blanquismus“ – identifiziert mit der eingängigen Parole „Griff zu den Waffen“ – wurde (undifferenziert) zum Inbegriff der Verschwörung einer revolutionären Elite. Als gewählter Bataillonschef der Nationalgarde und Protagonist des Pariser Proletariats nimmt Blanqui an den beiden niedergeschlagenen Aufständen vom 31.10.1870 und vom 22. Januar 1871 zum Sturz der bürgerlichen Regierung teil. Die Blanquisten spielten zudem als relevanter Faktor des Proletariats in der Phase der Pariser Kommune eine herausragende politische Rolle. Blanqui konnte aufgrund einer Inhaftierung wegen seiner Teilnahme an den Ereignissen des 31. Oktober nicht direkt ins Geschehen eingreifen. Er wurde erst zwei Jahre vor seinem Tod aufgrund einer Protestwelle als Invalide aus dem Kerkerloch entlassen. Im belgischen Exil (seit 1865, mit denn entsprechenden Unterbrechungen, um Aufstände zu initiieren oder Kerkerstrafen abzusitzen) konnte der primär als politischer Praktiker geltende Blanqui seine theoretischen Anschauungen niederschreiben, die posthum 1885 unter dem Titel „Kritik der Gesellschaft“ veröffentlicht wurden.
Es gehört zur eigentlichen Tragik der Person Blanqui, dass er entweder bei dem Aufbruch der Massen noch oder schon wieder hinter Schloss und Riegel sitzt oder trotz seines politischen Orientierungsvermögens und Einflusses eine militärische Niederlage nach der anderen kassiert. Negativer Höhepunkt ist sicherlich, dass er wenige Stunden bevor das Pariser Proletariat am 18. März 1871 die revolutionäre Kommune errichtet, abermals weggesperrt wird. So kann er seinen Lebenstraum, den er mit seinen initiierten Aufständen kurz vorher nicht realisieren konnte, nur als Zuschauer verfolgen, dem jede direkte Eingriffsmöglichkeit genommen wurde.
Diese Stichpunkte der biografischen Etappen Blanquis vermitteln vielleicht einen kleinen Eindruck eines wahrlich bewegten Lebens als Revolutionär. Jene, die sich stärker von dieser Biographie fesseln lassen wollen, sei das Buch „Blanqui. Ein Rebell im 19. Jahrhundert“ von Hans Bergmann (Campus-Verlag‘ 1986) empfohlen.
Wir wollen nach diesem Ausflug ins Biographische von Blanqui die inhaltlichen Aspekte, mit denen wir uns in diesem mehrteiligen Beitrag befassen wollen, beleuchten. Blanquis Grundorientierung, für die er Zeit seines Lebens hingebungsvoll eintrat, bündelt sich in seiner selbst beantworteten Fragestellung: „Worin muss die Revolution bestehen? In der Vernichtung der derzeitigen auf Ungleichheit und Ausbeutung gegründeten Ordnung, Im Sturz der Unterdrücker und in der Befreiung des Volkes vom Joch der Reichen“ (ebd., 8 493). Wir finden in dieser charakteristischen Aussage die inhaltliche Verwandtschaft zum babouvistischen Muster des „Kampfes zwischen den Armen und Reichen“. An einer anderen Stelle spricht er vom „Krieg zwischen Privileg und Gleichheit‘ (ebd., Bd. II, S. 515)
Dieser existenzielle und antagonistische Kampf ist nicht verbal oder theoretisch zu gewinnen, sondern unter organisiertem Einsatz von Gewaltmitteln: „Waffen und Organisation – das ist das entscheidende Element des Fortschritts, das einzig ernste Mittel, dem Elende ein Ende zu machen“, so Blanqui in einem Appell von 1851 aus dem Kerker (ebd., S. 525). Blanqui trat vehement für ein „bewaffnetes Proletariat“ (ebd.) ein. Er forderte in seinem Manuskript)t „Den Kommunismus - die Zukunft der Gesellschaft“ die „Bildung einer nationalen Landwehr. - Allgemeine Bewaffnung der Arbeiter und der republikanischen Bevölkerungsschichten“ (ebd., S. 527). Diese bewaffneten Formationen sollten der Garant für ,Keine Freiheit für den Feind“ sein. Diese „Freund/Feind-Dichotomie“ findet sich ungeschminkt in einer seiner frühen Schriften: „Grundsatz: Der Verlust eines Arbeiters macht die Nation ärmer, der Verlust eines Müßiggängers macht sie reicher. Der Tod eines Reichen ist eine Wohltat“ (ebd., S. 520).
Man würde die Person Blanqul grob verfälschen, wenn man ihn auf die Rolle eines erbarmungslosen Desperado reduzieren wollte. Damit bedient man lediglich das Zerrbild des „Blanquismus“, der zu einer Collage negativer Attribute pervertiert ist (Synonym für massenlose „Putscherei“ einer selbsternannten Sperrspitze etc.). Auch Blanui geht wie Babeuf an die Frage des Zeitpunktes und der Methoden eines revolutionären Umsturzes wohlüberlegt und planvoll heran. Er zeichnet sich geradezu durch ein analytisches Vorgehen bei seinen Projekten aus, auch wenn es aufgrund seiner hohen Quote des politisch-militärischen Scheiterns paradox erscheint. Schauen wir uns seine diesbezüglichen Anschauungen und Prognosen näher an: Als er im Zuge der Februarrevolution von 1848 aus der Haft entlassen wird, versucht er seine Anhängerlnnen von einer unkoordinierten Bilderstürmerei abzuhalten. Er hält eine völlige Demontage der provisorischen Regierung mittels eines Handstreichs aus taktischen Überlegungen für falsch. Der Zeitpunkt sei vor allem deshalb schlecht gewählt, da die Volksmassen nicht ausreichend für den Kampf einer „roten Republik“ vorbereitet wurden und sich das Proletariat bei einem voreiligen Voranstürmen sozial selbst isolieren würde. Er sollte mit seiner Prognose Recht behalten. Die Reaktion schlug im Juni 1848 zurück und stabilisierte ihre gesellschaftspolitische Verankerung. Blanqui hat neben dem eben skizzierten Fall auch in den Jahren 1870 und 1880 davor gewarnt, einen Aufstand (gegen eine errungene demokratische Republik) aus dem Stegreif anzetteln zu wollen, denn dieser ist weder eine sportliche Freizeitbeschäftigung noch der Tummelplatz für Schwätzer (vgl. ebd., Bd. I, S. 479). „Denn so oft sie errungen (demok. Rep., Anm. mg) ist, wendet er sich entschieden gegen konspirative Methoden und entwickelt eine Politik, die in vielen Punkten der von Marx und Engels gleicht. 1848 wie 1870 und 1880 unterstützt er die Bemühungen um Festigung, Ausbau und kluge, umsichtige Nutzung der demokratischen Freiheiten, ohne den Arbeitern Illusionen über ihre bürgerlichen Schranken zu lassen und ohne jemals aufzuhören, Halbheiten und Zugeständnisse an die Reaktion anzuprangern“ (ebd., S. 488).
Blanquis Skepsis gegenüber übereilten Vorstößen waren vor allem das Ergebnis einer Analyse der Kampfmethoden des Proletariats. In seiner 1868/1869 publizierten Schrift „Instruktionen für den Aufstand“, die als erste Konzeption für die Praxis einer Stadtguerilla gehandelt wird, legt er die Defizite der damaligen Barrikadentaktik der revoltierenden Volksmassen offen. In dieser Schrift konzentriert er sich auf den militärischen Kern eines Aufstandsprojektes: „Dieses Programm ist rein militärisch; es lässt die politische und soziale Frage außer acht, denn dafür ist hier kein Raum“ (in: Schickel, J. (Hg.): Guerilleros, Partisanen. Theorie und Praxis, S. 99). Damit diese zugespitzte Aussage nicht in den fälschen Hals gerät, erwähnt er prophylaktisch, dass „die Revolution (...) die Gesellschaft auf der Grundlage der Gerechtigkeit wieder errichten muss“(ebd.).
In diesem Text versucht sich Blanqui an einer Anleitung, wie ein Aufstand den (damals) neuen Anforderungen gerecht werden kann. Er stellt fest, dass allgemeine Volksbegeisterung und ein wahlloses und unorganisiertes Errichten von Barrikaden nicht mehr ausreicht, um die schnell lernende Reaktion in Schach halten zu können. Blanqui liefert detaillierte Anweisungen, in welcher Art und Weise Befestigungen und Barrikaden hochzuziehen sind, die auch verteidigungsfähig sind, um anstürmenden Soldaten hohe Verluste zufügen zu können.
Der revolutionäre Enthusiasmus der Massen, auch wenn er allein nicht ausreicht, wird von Blanqui hochgeschätzt. Die auf Überzeugung einer sozialen Idee statt auf „Zwang und Schnaps“ (ebd., S.103) gründende Disziplin, ist ein moralischer Vorteil, der „Vitalität von Körper und Geist“ (ebd.) freisetzt. Des weiteren ist aber eine strikte Organisation der Einigkeit und Gemeinschaft der Kämpfenden unabdingbar: „Es mangelt ihnen an Organisation. Ohne sie, keine Chance. Organisation ist Sieg; Zerstreuung ist der Tod“ (ebd.). Hierdrin sieht er schlussendlich das Rezept eines nachhaltigen militärischen Erfolges: „die conditio sine qua non unseres Sieges ist die Organisation, die Gemeinsamkeit, die Ordnung und die Disziplin. Es ist zweifelhaft, ob die Truppen lange Zeit einem bewaffneten Aufstand widerstehen werden, und ob sie immer den ganzen Apparat einer Regierungsmaschine einsetzen können. Unschlüssigkeit wird sie überwältigen, dann Verwirrung, dann Entmutigung und schließlich der Zusammenbruch“ (ebd. S. 115)
Für Blanqui führt der Weg zum Kommunismus über die Bildung. Nicht das (Klassen.)bewußtsein in den Werkstätten wird zur Initialzündung, sondern die flächendeckende „Bildungsoffensive“ der Avantgarde. D.h., dass man den Kommunismus nicht oktroyieren kann, sondern durch langfristige Überzeugungen etabliert. So schreibt Blanqui in seinem Beitrag „Der Kommunismus – die Zukunft der Gesellschaft“: „Der Kommunismus kann nicht durch Verordnungen vorgeschrieben werden; seine Einführung muss durch freien Entschluss des Landes erfolgen, und dieser Entschluss kann nur aus der allgemeinen Verbreitung der Bildung hervorgehen“ (Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. II, S. 529). Und weiter kennzeichnet er den Kommunismus als „die einzig mögliche Organisation einer Gesellschaft, die in höchsten Maße gebildet und folglich aufs entschiedenste egalitär ist“ (ebd., S. 532). Blanqui geht es ebenso wie allen RevohutionärInnen nicht nur um den Austausch der politischen Eliten, denn um eine fundamentale soziale Veränderung: „Eine liolitischme Reformm wünschenm wir mmur als Wegweiser zu eimmer sozialenm Reform“ (zit. nach: Droz J. (Hg.): Geschichte des Sozialismus, Bd. II, S. 196).
Der Kampf für den Kommunismus geht nach Blanqui aus dem Bestehen „zweier gegensätzlicher Lager“ die da „heißen Proletariat und Bourgeoisie“ (zit. nach ebd., Bd. III, 79) hervor. Insgesamt sind bei Ihm die Konturen von Proletariat und Bourgeoisie unklar. Proletariat meint mm wesentlichen die deklassierten und marginalisierten Volksmassen die sich in einem permanenten Existenzkampf befinden. Die Klasse der Herrschenden gruppiert er folgendermaßen (einschließlich ihre „Zielbestimmung“): „Was man unverzüglich und rücksichtslos von Grund und Boden hinwegfegen muss, sind Aristokratie und Klerus. Marsch, über die Grenze“ (HöppnerlSeidel.Höppner: Von Babeuf bis Blanqui‘ Bd. II, S. 531). Dieser Klassenkampf bzw. die Festigung der erzielten neuen Machmtkonstellationen erfordern eine „Übergangsdiktatur“ Dies ist für Bhanqui eine logische Folgerung aus den Lehren der Jahre 1848/49, in denen die Reaktion die Anfänge einer „roten Republik“ sofort sabotierte. „Da der soziale Staat an Wundbrand leidet, mmuß mmanm zumm gesunden Staat gelanmgen unid dazu bedarf es tiefgreifemmder Mittel: das Volk braucht über einige Zeit hindurch eine revoluhiommäre Regierunmg. Es gilt, das Körmigtunm unid die gesamte Aristokratie zu verjagemm und die Republik zu gründenm‘ das heißt, die Gleichheit regieren zu lassen. Um dies zu erreichmen, ist es nötig, eine revolutionäre Regierung einzurichten, damit das Volk lernt, seine Rechte zu gebrauchen“ (zit. nach: Droz, J. (Hg.): Geschichte des Sozialismus, Bd. III, S. 80). Diese von Blanqui als notwendig erachtete „Pariser Diktatur“ meint mmehmr eine Diktatur der Avantgarde für die Klasse als eine Diktatur der Klasse unter Führung ihrer Partei“ (Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. II, S. 494).
Die starke Betonung der (Volks-)Bildung hinsichtlich des Kampfes für den Kommunismus als auch seine deklassierte soziale Basis verweisen auf die „vor-marxistischen“ Elemente des Arbeiterkommunismus Blanquischer Prägung. „Theoretisch wie praktisch führt der revolutionäre Arbeiterkommunismus die Arbeiterbewegung unmittelbar an den Punkt heran, wo sie durch Werk und Wirken von Marx und Engels in den wissenschaftlichen Kommunismus und In die moderne Arbeiterbewegung umschlägt“ (ebd., S. 496-497).
Für Blanqui führt der Weg zum Kommunismus über die Bildung. Nicht das (Klassen-)Bewusstsein in den Werkstätten wird zur Initialzündung, sondern die flächendeckende „Bildungsoffensive“ der Avantgarde. D.h., dass man den Kommunismus nicht oktroyieren kann, sondern durch langfristige Überzeugungen etabliert. So schreibt Blanqui in seinem Beitrag „Der Kommunismus – die Zukunft der Gesellschaft“: „Der Kommunismus kann nicht durch Verordnungen vorgeschrieben werden; seine Einführung muss durch freien Entschluss des Landes erfolgen, und dieser Entschluss kann nur aus der allgemeinen Verbreitung der Bildung hervorgehen“ (Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. II, S. 529). Und weiter kennzeichnet er den Kommunismus als „die einzig mögliche Organisation einer Gesellschaft, die in höchstem Maße gebildet und folglich aufs entschiedenste egalitär ist“ (ebd., S. 532). Blanqui geht es ebenso wie allen RevolutionärInnen nicht nur um den Austausch der politischen Eliten, denn um eine fundamentale soziale Veränderung: „Eine politische Reform wünschen wir nur als Wegweiser zu einer sozialen Reform“ (zit. nach: Droz, J. (Hg.): Geschichte des Sozialismus, Bd. II, S. 196).
Der Kampf für den Kommunismus geht nach Blanqui aus dem Bestehen „zweier gegensätzlicher Lager“, die da „heißen Proletariat und Bourgeoisie“ (zit. nach ebd., Bd. III, 79) hervor. Insgesamt sind bei ihm die Konturen von Proletariat und Bourgeoisie unklar. Proletariat meint im Wesentlichen die deklassierten und marginalisierten Volksmassen, die sich in einem permanenten Existenzkampf befinden. Die Klasse der Herrschenden gruppiert er folgendermaßen (einschließlich ihre „Zielbestimmung“): „Was man unverzüglich und rücksichtslos vom Grund und Boden hinwegfegen muss, sind Aristokratie und Klerus. Marsch, über die Grenze!“ (Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. II, S. 531). Dieser Klassenkampf bzw. die Festigung der erzielten neuen Machtkonstellationen erfordern eine „Übergangsdiktatur“. Dies ist für Blanqui eine logische Folgerung aus den Lehren der Jahre 1848/49, in denen die Reaktion die Anfänge einer „roten Republik“ sofort sabotierte. „Da der soziale Staat an Wundbrand leidet, muss man zum gesunden Staat gelangen und dazu bedarf es tiefgreifender Mittel: das Volk braucht über einige Zeit hindurch eine revolutionäre Regierung. Es gilt, das Königtum und die gesamte Aristokratie zu verjagen und die Republik zu gründen, das heißt, die Gleichheit regieren zu lassen. Um dies zu erreichen, ist es nötig, eine revolutionäre Regierung einzurichten, damit das Volk lernt, seine Rechte zu gebrauchen“ (zit. nach: Droz, J. (Hg.): Geschichte des Sozialismus, Bd. III, S. 80). Diese von Blanqui als notwendig erachtete „Pariser Diktatur“ meint mehr eine Diktatur der Avantgarde für die Klasse als eine Diktatur der Klasse unter Führung ihrer Partei“ (Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. I, S. 494).
Die starke Betonung der (Volks-)Bildung hinsichtlich des Kampfes für den Kommunismus als auch seine deklassierte soziale Basis verweisen auf die „vor-marxistischen“ Elemente des Arbeiterkommunismus Blanqui’scher Prägung. „Theoretisch wie praktisch führt der revolutionäre Arbeiterkommunismus die Arbeiterbewegung unmittelbar an den Punkt heran, wo sie durch Werk und Wirken von Marx und Engels in den wissenschaftlichen Kommunismus und in die moderne Arbeiterbewegung umschlägt“ (ebd., S. 496-497).
IV. Der revolutionäre Kampf von Michael Bakunin und Peter Kropotkin
Nun wollen wir uns mit dem wichtigsten Vertreter des „kollektivistischen Anarchismus“ Michael Bakunin (1814-1876) beschäftigen, der mit den Worten „ich bin nicht Kommunist, ich bin Kollektivist“ zitiert wird (zit. nach: Grosche, M: Anarchismus und Revolution, S. 36). An anderer Stelle bezeichnet er sich bzw. seine Anhängerschaft als „Revolutionäre und Anarchisten“ (Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S. 177). Wir können hier nicht die höchst heterogene Bewegung des Anarchismus (individualistischer Anarchismus (Max Stirner 1806-1856), föderalistischer bzw. mutualistischer Anarchismus (Pierre Proudhon 1809-1865), kollektivistischer Anarchismus (Michael Bakunin), kommunistischer Anarchismus (Peter Kropotkin 1842-1921), Anarcho-Syndikalismus (Rudolf Rocker 1873-1958) in allen weltanschaulichen Einzelheiten differenzieren. Wir verweisen vor allem auf die kompakteste Zusammenstellung der anarchistischen Theorien und ProtagonistInnen in dem Buch „Was ist eigentlich Anarchie? Einführung in Theorie und Geschichte des Anarchismus bis 1945“.
Bakunin, der als Sprössling einer Familie des kleinen russischen Landadels mit fünfzehn Jahren auf die Artillerieschule nach St.Petersburg geschickt wurde, verzichtete später auf eine militärische Karriere wie sie für Abkömmlinge der Aristokratie biographisch vorgesehen war. Statt dessen studierte er seit 1838 in Moskau die idealistische deutsche Philosophie (Fichte, Hegel, Schelling). In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wird er unter dem Einfluss Feuerbachs „Junghegelianer“, Materialist und Revolutionär. Er nimmt an wichtigen europäischen Eruptionen im Kontext der 48/49-Epoche teil, so am Prager und Dresdner Aufstand. In Dresden nahm er im Mai 1849 an der Seite des Kapellmeisters Richard Wagner am Insurrektionsversuch teil. Die Jahre 1851-1855 verbrachte Bakunin in zaristischer Festungshaft, danach in sibirischer Verbannung. 1861 gelang ihm über Umwege die Flucht nach London. Er beteiligt sich an der 1867 in Genf gegründeten radikal-demokratischen „Liga für Friede und Freiheit“, verlässt diese aber mit seinen sozialrevolutionären Anhängern ein Jahr später, um die „Internationale Allianz der Sozialen Demokratie“ zu bilden. Die einzelnen „Allianz-Sektionen“ treten 1869 der I. Internationale von Marx und Engels bei. Bakunin ist bereits Mitte 1868 Mitglied der Internationale. Zwischen den einzelnen „Allianz-Sektionen“ Bakunins und dem Generalrat der Internationale in London kommt es bereits seit 1869 auf dem Baseler Kongreß zu schwerwiegenden Kontroversen zwischen Marx und Bakunin um verschiedene politische Fragen (u.a. Frage des Erbeigentums). Später ging es um die Rolle des Marx dominierten Generalrats, um Bakunins „Geheimbündelei“ und die „Netschajew-Affäre“ (zu dieser kommen wir weiter unten). Diese politischen Divergenzen mischen sich mit persönlichen Animositäten (u.a. verweist Bakunin in antisemitischer Manier auf Marx „jüdische Abstammung“ und ihren „guten und schlechten Eigenschaften“, vgl. Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S.185) und führen letztlich 1872 auf dem Haager Kongreß der Internationale zum Ausschluss Bakunins. Unmittelbar danach wird in der Schweiz eine „Antiautoritäre Internationale“ gegründet, die unter dem Einfluss Bakunins steht, die dieser aber 1873 aus Altersgründen verlässt. Er nimmt in betagtem Alter 1874 an einem kurzweiligen „Aufstand“ in Bologna teil und wirkt in seinen letzten beiden Lebensjahren politisch resigniert. In einem Brief an einen Freund schreibt er: „Ich stimme mit dir überein zu sagen, dass die Stunde der Revolution vorüber ist, nicht wegen des schrecklichen Unheils, dessen Zeugen wir waren, und der furchtbaren Niederlagen, deren mehr oder weniger schuldige Opfer wir waren, sondern weil ich zu meiner großen Verzweiflung konstatiert habe, und täglich von neuem konstatiere, dass der revolutionäre Gedanke, die revolutionäre Hoffnung und Leidenschaft in den Massen sich absolut nicht vorfinden, und wenn sie fehlen, kann man sich dir größte Mühe geben, man wird nichts ausrichten“ (zit. , nach: Anarchisten! Kurzbiographien, S. 6-7).
Wir können hier nicht die „aufstandserprobte“ Persönlichkeit Bakunin in seiner biographischen Vielfalt dokumentieren, es lohnt sich aber sehr, die komplette Biographie über Bakunin zu lesen, die die vielen Lücken in unserem Text schließt (Grawitz, M.: Bakunin. Ein Leben für die Freiheit).
Wir wollen uns nach diesen kurzen biographischen Eckdaten den Positionen Bakunins zum Thema „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution“ zuwenden, die für ihn vor seinem desillusionierten Resümee seiner letzten Lebensphase charakteristisch sind. Vor allem interessiert uns hier seine agitatorische Bedeutung, die vielen Interpreten relevanter erscheint, als seine schriftstellerische: „Seiner wirksamen und rücksichtslosen Agitation hat der Anarchismus seine Neugeburt und Ausbreitung zu danken und auch in seinen Schriften tritt der Denker weit hinter den Agitator zurück. Man könnte Bakunin höchstens den Theoretiker der Praxis nennen“ (Zenker, E.V.: Der Anarchismus. Kritische Geschichte der anarchistischen Theorie, S. 103).
Verschiedene historische Studien über Bakunins Wirken haben offengelegt, dass er nicht erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zu libertären Positionen fand, sondern schon Ende der 40er Jahre. Ein sehr frühes Zeugnis seines revolutionären Impetus findet sich in dem berühmten Abschlusssatz seines ersten philosophischen Artikels von 1842: „Die Lust an der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“ (zit. nach: Diefenbacher, H. (Hg.): Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, S. 106).
Exemplarisch für seine bereits vorhandenem libertären Ansichten ist Bakunins Zeit während des Dresdner Aufstands im Mai 1849, wo er direkt am bewaffneten Aufstand teilnahm und als Redakteur der radikaldemokratischen „Dresdner Zeitung“ agitatorisch eingriff. „Bei allen Revolutionen“, so Bakunin am 15. April 1849 in der „Dresdner Zeitung“, „haben die Massen des Volks den Ausschlag gegeben; so lange sie am Feuer standen, versprachen ihnen die Leiter goldne Berge, war aber der Sieg entschieden, so stieß man sie wieder ins Nichts zurück und verbannte sie in ihre Viertel“ (Bakunin, M.: „Barrikadenwetter“und „Revolutionshimmel“, Ausg. Schriften 2 S. 144). Des weiteren beklagt er, dass die Opfer, die die wahrhaften Revolutionäre im Kampf erbracht hätten vergebens waren, „weil die Revolution aus den Händen des Volkes in die der Doktrinäre hinübergespielt wurde“ (ebd.).
In seiner publizistischen Tätigkeit im Zeitraum der radikaldemokratischen Aufbrüche 1848/49 in Europa bildete sich „seine damalige Einstellung zur Idee des revolutionären Krieges gegen Russland“ (Einleitung Boris Nikolaevskij zu ebd., S. 91-92) heraus. Beeinflusst von den Überlieferungen der Französischen Revolution kamen die „AufrüherInnen“ zu der Einsicht, dass die Länder, in denen eine revolutionäre Erhebung erfolgreich war, in anderen bisher „revolutionsfreien“ Ländern bei der Entfesselung der revolutionären Gewalt einen Anstoß geben sollten. Hier wurde bereits die internationale Dimension der Revolution erkannt (wir kommen weiter unten nochmals darauf zurück), die vor einer zweifachen Aufgabe steht: „Sie kann im Lande selbst ihren Sieg nicht behaupten, solange die Reaktion von außen nicht niedergeschlagen ist, aber andererseits kann sie nur im Kampfe gegen die Reaktion von außen die Kraft zum vollen Sieg über die Reaktion im eigenen Lande finden. Die Welt der Revolution und die Welt der Reaktion stehen sich derart feindlich gegenüber, dass ein Kompromiss zwischen ihnen ausgeschlossen ist: Entweder wird die Revolution in der ganzen Welt siegen, oder sie wird von der Reaktion erdrückt. Deshalb muss jede siegreiche Revolution ihr Banner auch über die Landesgrenzen hinaustragen (...) (ebd., S. 92-93). Bakunin unterstützte einen solchen Ansatz und hoffte – auf die russischen Verhältnisse bezogen –, dass ein revolutionärer Anstoß von außen, den Ausbruch von anti-zaristischen Bauernerhebungen herbeiführen würde (vgl. ebd. S. 97).
Umstritten war in der „Bakunin-Forschung“ lange Jahre dessen Bezug zum (revoltierenden) Bauernvolk der russischen Dorfgemeinde (Obschtschina). Bereits in Bakunins Broschüre „Russische Zustände“, die Sommer 1849 anonym erschien, finden sich positive Beschreibungen über „das russische Volk, das ackerbauende wie handel- und gewerbetreibende, leibeigene, sogenannte schwarze Volk“(Bakunin, M.: Russische Zustände, Ausg. Schriften 3, S. 68). Bakunin verband eine enge Bekanntschaft mit Alexander Herzen (näheres über Herzen siehe weiter unten) , der als Vertreter der ersten Volkstümler-Generation und des „revolutionären Demokratismus“ maßgeblich die politische Szenerie der russischen Oppositionellen intellektuell prägte. Bakunins Ansichten hinsichtlich der russischen Dorfgemeinde und ihrer „revolutionären Sprengkraft“ entsprachen ganz den zeitlichen Umständen. Er rekurrierte auf die Aufstände des Landvolks Ende des 18. Jahrhunderts bspw. Unter der Führung des legendär gewordenen Jemeljan Pugatschow, der 1773/74 als angeblicher Zar Peter III. Einen gegen den Absolutismus Katharina der Großen gerichteten Volksaufstand im Ural- und Wolgagebiet führte, der erst durch massiven Militäreinsatz niedergerungen werden konnte. An diese rebellische Tradition anknüpfend, sah er vor allem in der Struktur des bäuerlichen Lebens ein Vorbild einer gesellschaftlichen Egalität: „Die Natur der russischen Revolution als einer sozialen ist somit vorgeschrieben und liegt auch im ganzen Charakter des Volkes, in seiner Gemeindeverfassung. Der Grund und Boden gehört der Gemeinde, der einzelne Bauer ist nur Nutznießer desselben (...) und alle 20-25 Jahre findet eine neue Bodenverteilung statt. In diese Gemeindeordnung, sei es auch in der besten Absicht, einzugreifen, ist nicht gestattet, es wäre das Todesurteil für jeden Herrn“ (ebd., S. 71). Darüber hinaus zieht er als Bilanz, dass „also kein nationales, kein religiöses Band das Volk an den Kaiser (knüpft)“ (ebd., S. 85).
Aber auch bei Bakunin zeigt sich eine gewisse Spannung in seinen verschiedenen Ausführungen in der Frage einer „Revolution von oben oder unten“. In seiner Schrift „Die Volkssache: Romanow, Pugatschow oder Pestel“ von 1861 standen für ihn drei Wege für die Revolution in Russland offen: eine Revolution der Intelligentsia, ein Bauernaufstand oder eine Revolution von oben durch einen „Volkszaren“. Bakunin schloss die erste Möglichkeit aus, da er nicht an die revolutionäre Fähigkeit des intellektuellen (Emigranten-)Kreise glaubte. Die anderen beiden Optionen schienen ihm als die realistischsten, wobei er aufgrund der zaristischen Treue der russischen BäuerInnen als Hypothese das Modell eines „Volkszaren“ entwirft, der eins mit dem Volk eine gesellschaftliche Umwälzung anführt. Bakunin versteigt sich zu der irritierenden Aussage, „(wir würden) am liebsten einem Romanow folgen, wollte er sich aus einem Petersburger Kaiser in einen Volkszaren verwandeln“ (zit. Nach: Grawitz, M.: Bakunin. Ein Leben für die Freiheit, S. 212). Diese Aussage wird dadurch klar relativiert, da er der Realisierung eines Modells „Volkszar“ keinerlei Hoffnung schenkt (vgl., ebd.).
Wenn wir uns explizit mit der Revolutionsvorstellung in den Hauptwerken Bakunins befassen wollen, fällt zunächst auf, dass er einen unüberwindbaren Trennungsstrich zwischen Staat und Gesellschaft zieht. „Die Gesellschaft, das ist die natürliche Existenzweise der menschlichen Gemeinschaft (...) Sie regiert sich durch die Sitten oder durch traditionelle Gebräuche, aber niemals durch Gesetze“ (Bakunin, M.: Die revolutionäre Frage. Föderalismus – Sozialismus – Antitheologismus, S. 119). „Der Staat“, so Bakunin, „ist kein natürliches Produkt der Natur (...) (er) beherrscht die Gesellschaft und versucht, sie sich zur Gänze einzuverleiben“ (ebd.).
Bakunin sieht im Staat die Verkörperung des von ihm verhassten Autoritätsprinzip. Daneben findet sich dieses Autoritätsprinzip in den Dogmengebäuden der etablierten Wissenschaft und der Kirche, die gleichzeitig als ideologischer Kitt und Stützpfeiler der staatlichen Ordnung fungieren. Gerade sein Kampf gegen die Welt der Pfaffen und Priester in Gestalt der Kirche zieht sich durch Bakunins Agitation: „Wenn Gott wirklich existierte, müsste man ihn beseitigen“ (Bakunin, M.: Gott und der Staat, S. 73), denn „da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Mensch nichts (...) Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave“ (Bakunin, M.: Die revolutionäre Frage. Föderalismus – Sozialismus – Antitheologismus, S. 63-64). Bakunin sieht zwei Wege, um die Massen von dem religiösen Aberglauben des auf Blut gegründeten Christentums zu bewahren: „die rationale Wissenschaft und die Propaganda für den Sozialismus“ (ebd., S. 67). Für Bakunin „ist der Sozialismus die Gerechtigkeit“ (ebd., S. 58), die sich unabhängig von der bürgerlichen Justiz und dem römischen Religionsrecht „einzig und allein auf das Gewissen der Menschen gründet“ (ebd.).
Bakunin bekämpft zudem leidenschaftlich die elitäre Wissenschaft und ihre professoralen Vertreter: „Gib ihm die Macht, und er wird sofort ein unerträglicher Tyrann“ (Staatlichkeit und Anarchie, S. 176). Zudem „(ist) nichts so schädlich und unfruchtbar als patentierte und privilegierte Intelligenz“ (Bakunin, M.: Revolutionärer Katechismus, S. 15). Er sieht in der monopolisierten Elite-Wissenschaft einerseits und der produktivistischen Auszehrung der schuftenden Massen ein Paradebeispiel der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit; stattdessen muss Arbeit und Denken „in einer neuen Synthese vereint“ (ebd.) werden.
Nach Bakunin „(ist) der moderne Staat seinem Wesen und seinen selbstgesteckten Zielen nach notwendig ein Militärstaat, und ein Militärstaat ist obligatorisch zum Erobererstaat bestimmt“ (Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S. 15). Er richtet seine Ablehnung aber nicht nur gegen eine besonders despotische oder militaristische Staatsform, sondern prinzipiell gegen jede. Der demokratisch-parlamentarisch gekleideten Staatsform erteilt er ebenso eine eindeutige Absage: „Aber nur um das Volk besser täuschen und die eigenen Ansprüche verwirklichen zu können, besteht das Bürgertum darauf, dass die Diktatur eine parlamentarischen Anstrich hat. Dann ist es ihm möglich, das Volk im Namen des Volkes auszubeuten“ (ebd., S.151). An einer anderen Stelle wird er noch deutlicher: „Ein republikanischer Staat, der auf dem allgemeinen Wahlrecht beruht, kann sehr despotisch sein, despotischer sogar als der monarchistische Staat, wenn er unter dem Vorwand, den Willen aller zu repräsentieren, seine kollektive Macht einsetzt, um den Willen und die Bewegungsfreiheit jedes einer Angehörigen zu unterdrücken (Bakunin, M.: Die revolutionäre Frage. Föderalismus – Sozialismus – Antitheologismus, S. 121). Auch lässt er während bzw. nach einem revolutionären Prozess keine staatliche Übergangsphase (bspw. Diktatur des Proletariats) gelten, denn „die Theorie des Staates und die der so genannten revolutionären Diktatur basieren gleichermaßen auf der Fiktion der Pseudo-Volksvertretung und auf der Tatsache, dass die Volksmassen von einer Handvoll von (...) Privilegierten regiert werden (...) Zwischen einer revolutionären Diktatur und der etatistischen Zentralgewalt ist der Unterschied rein äußerlich. Beide sind Ausdruck einer Regierungsform, bei der die Mehrheit durch eine Minderheit unter dem Vorwand der Dummheit der ersteren und der Intelligenz der zweiten unterdrückt wird“ (Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S. 179).
Anti-Theologismus, Anti-Staatlichkeit und die Ablehnung eines Wissenschaftsdogmatismus verbünden sich in seiner Forderung nach einer egalitären, libertären und kollektivistischen Gesellschaftsform: „Die Zeit wird kommen, da es keine Staaten mehr gibt. Die revolutionäre sozialistische Partei versucht mit allen Kräften sie in Europa zu zerstören; dann wird auf den Ruinen der politischen Staaten die freie und brüderliche Allianz in Freiheit gegründet , von unten nach oben organisiert, aus freien Produktionsgemeinschaften, Kommunen und regionalen Föderationen gebildet, die ohne Unterschied alle Menschen aller Sprachen und jeder Nationalität umfassen“ (ebd. S.119). Das kollektivistisch-anarchistische Motto dieses gesellschaftlichen Zustandes lautet: „Jedem der volle Ertrag seiner Arbeit“ (zit. nach Grosche, M.: Anarchismus und Revolution, S. 41). Er sieht ein solches gesellschaftliches Ideal nicht in einigen wenigen Jahren realisiert, im Gegenteil, „die vollständige Verwirklichung dieser Aufgabe wird natürlich Jahrhunderte in Anspruch nehmen“ (Bakunin, M.: Die revolutionäre Frage. Föderalismus – Sozialismus – Antitheologismus, S. 59).
Für Bakunin sind Institutionen wie Staat, Kirche und herrschende Justiz nur vorübergehende gesellschaftliche Erscheinungsformen, die einer niederen geschichtlichen Entwicklungsstufe entsprechen. Er folgt einem (vulgär-)materialistisch-naturgesetzlichen Ansatz, wonach als Endpunkt der „endliche Triumph der Menschheit auf Erden“ (zit. nach Grosche, M.: Anarchismus und Revolution, S. 39) steht. Bakunin würde aber missverstanden werden, wenn daraus ein deterministischer Evolutionismus abgeleitet wird, es kommt in dieser Aussage in erster Linie eine geschichtsoptimistische Haltung zum Ausdruck, die durch eine organisierte soziale Revolution untermauert werden muss.
Staat und soziale Revolution sind nach Bakunin „die beiden Pole, deren Antagonismus das gegenwärtige soziale Leben auf dem europäischen Kontinent bestimmt“ (Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S. 25). „Es ist ein Krieg auf Leben und Tod (...) und dieser Krieg kann nur mit dem endgültigen Sieg der einen Partei und der vollständigen Niederlage der anderen enden. Entweder wird die gebildete bürgerliche Welt die entfesselte Kraft des revolutionären Volkes bezwingen (...) oder aber die Arbeitermassen werden endgültig das Jahrhundertealte verhasste Joch abschütteln, die bürgerliche Ausbeutung und die darauf errichtete Kultur restlos zerstören – und das wird den Sieg der sozialen Revolution bedeuten, die Abschaffung all dessen, was sich Staat nennt“ (ebd., S. 24-25).
Es ist nach den bisherigen Bakunin-Zitaten offensichtlich, dass er sich nicht der Illusion hingibt. Eine Revolution könnte ein friedvolles Unterfangen sein, bei dem die Gegenseite ihr ausbeuterisches und unterdrückerisches Tun einsieht, abstellt, die Sachen packt und verschwindet. Des weiteren kann es infolge des angestauten Hasses und der Aggressionen zu unkontrollierten Handlungen auf Seiten er Aufbegehrenden kommen: „Blutige Revolutionen sind dank der menschlichen Dummheit manchmal notwendig, doch sind sie immer ein Übel (...) nicht nur in Anbetracht der Opfer, sondern auch um der Reinheit und Vollkommenheit des Zieles wegen, in dessen Namen sie stattfinden“ (zit. nach Grosche, M.: Anarchismus und Revolution, S. 50). Bakunin war aber auch nicht ganz frei von einer Portion Revolutionskitsch: „Ich warte auf meine (...) Braut, die Revolution. Wir werden erst ganz wir selbst sein, wenn die Welt um uns herum in Flammen steht“ (zit. Nach Diefenbacher, H.: Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, S. 108).
Eine Revolution konnte im Sinne Bakunins nur eine gleichzeitig politisch und soziale sein. Solange nicht beide „Revolutionsebenen“ zusammenfallen, bleibt der Prozess unvollständig und droht in die Resuaration abzurutschen: „Eine politische und nationale Revolution kann also nur siegen, wenn nicht die politische Revolution zur sozialen und die nationale Revolution eben durch ihren von Grund auf sozialistischen und staatszerstörenden Charakter zur universellen Revolution wird“ (zit. Nach Grosche, M.:Anarchismus und Revolution, S.53). Regierungsumsturz und die Sozialisierung der Produktionsmittel müssen nach der Bakunin’schen Doktrin in einem Atemzug realisiert werden, da die zeitliche Verschiebung des einen oder anderen neue Einfallstore für autoritäre und bürokratische Strukturen schaffen würde. Nach Bakunin „(wird) keine Revolution in irgendeinem Land heutzutage Erfolg haben, wenn sie nicht gleichzeitig eine politische und soziale Revolution ist. Die Revolution muss nicht nur für das Volk, sondern durch das Volk gemacht werden“ (zit. nach ebd.).
Dies beiden Ziele einer „vollständigen Revolution“ sind auch mit der folgenden Aussage durch Bakunin fixiert: „Politisch ist es die Abschaffung des historischen Rechts, des Rechts der Eroberung (...)Es ist die vollständige Befreiung der Personen und Assoziationen vom Joch der göttlichen und menschlichen Autorität, – die absolute Zerstörung aller erzwungenen Vereinigungen und Zusammenfügungen von Gemeinden zu Provinzen, von Provinzen zu eroberten Ländern zum Staat. Es ist endlich die radikale Auflösung des zentralistischen (...) autoritären Staates mit allen militärischen (...) gerichtlichen und bürgerlichen Einrichtungen. Es ist mit einem Wort die Rückgabe der Freiheit an Alle (...) und die gegenseitige Garantie dieser Freiheit durch die Föderation.
Sozial ist es die Bekräftigung der politischen Gleichheit durch die ökonomische Gleichheit (...) soziale Gleichheit für jeden, d.h. der Mittel für Unterhalt, Erziehung und Unterricht für jedes Kind beider Geschlechter (...)“ (Bakunin, M: Revolutionärer Katechismus, S. 21).
Das Weltumspannende und Planetarische einer künftigen Revolution, die sich aus der nationalstaatlichen Enge befreit, liegt für Bakunin auf der Hand. Er betont: „dass es von jetzt ab in Europa wie auf der ganzen zivilisierten Welt nicht mehr Revolutionen gibt, sondern nur die universelle Revolution, so wie es nur noch eine einzige europäische und Weltreaktion gibt, dass folglich alle besonderen Interessen (...) heute verschmelzen müssen in dem einzigen gemeinsamen und universellen Interesse der Revolution, welche die Freiheit und die Unabhängigkeit jeder Nation durch die Solidarität aller Nationen sicher wird“ (ebd. S. 20). Um diese „heilige Allianz der Weltreaktion“ zu besiegen, ist nichts weniger erforderlich „als die gleichzeitige revolutionäre Allianz und Aktion aller Völker der zivilisierten Welt“ (ebd. S.21), denn „gegen diese Weltreaktion kann die isolierte Revolution keines Volkes Erfolg haben, sie wäre eine Torheit, folglich ein Fehler für dieses Volk selbst und ein Verrat, ein Verbrechen gegen alle anderen“ (ebd.). Bakunin vergisst selbstverständlich nicht, auf den unbedingten anti-religiösen Inhalt der Revolution hinzuweisen: „Die Revolution (muss) atheistisch sein: da die geschichtliche Erfahrung und die Logik zugleich bewiesen haben, dass ein einziger Herr im Himmel genügt, um Tausende auf der Erde zu schaffen“ (Bakunin, M.: Die revolutionäre Frage. Föderalismus – Sozialismus – Antitheologismus, S. 82).
Wir wollen jetzt der Frage etwas genauer nachgehen, welche gesellschaftlichen Gruppen denn einen revolutionären Prozess nach Bakunins Meinung tragen und welche organisatorischen Strukturen dafür notwendig sind.
Es gibt bei Bakunin keine präzise begriffliche und soziologische Bestimmung des „revolutionären Subjektes“ als Träger der gesamtgesellschaftlichen Umwälzung. Er spricht hauptsächlich von „Volk“, „Volksmassen“, synonym verwendet er aber auch die Begriffe „Arbeiterklasse“ oder „Proletariat“. Wir haben weiter oben ein Bakunin-Zitat angeführt wo vom pauperisierten und marginalisierten „schwarzen Volk“ des Landes und der Stadt die Rede ist, es ist „die arme Klasse, welche das eigentliche Volk bildet“ (zit. nach Grosche, M.: Anarchismus und Revolution, S. 43). Zu diesen (revoltierenden) Volksmassen gehört auch das bspw. Von Marx und Engels (vgl. Kapitel VII) argwöhnisch beäugte „Lumpenproletariat“. Bakunin schreibt recht euphorisch in Bezug auf die vermeintlich nahende soziale Revolution in Italien Anfang/Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts: „In Italien überwiegt jenes Lumpenproletariat, von dem die Herren Marx und Engels und in ihrem Gefolge die ganze Schule der deutschen Sozialdemokratie mit tiefster Verachtung sprechen und dies sehr zu Unrecht, denn einzig und allein in ihm und nicht in der verbürgerlichten Schicht der Arbeitermasse sind Geist und Kraft der kommenden sozialen Revolution vollständig vorhanden“ (Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S. 7).
Bei Bakunin ist bei der Definition des „revolutionären Subjektes“ nicht allein die „objektive Klassenlage“ ausschlaggebend, sondern ebenso das subjektive Bewusstsein der Menschen verschiedener Klassen. D.h. selbst Angehörige der Klein- oder Großbourgeoisie können aufgrund eines subjektiven emanzipatorischen Bewusstseins Teil des sozialrevolutionären Kampfes des „Volkes“ sein. „Nehmt unsere Jugend, die dem Adel oder der Bourgeoisie entsprungen ist (...), die von der Revolution träumt; aber wie kann man daraus etwas Lebendiges (...) machen? Das wird nur möglich sein, wenn sich diese Jugend mit dem Volk verbündet (...) Die besten Männer der bürgerlichen Welt, Bürger von Geburt und nicht aus Überzeugung oder Ehrgeiz, können nur unter der einen Bedingung nützlich sein, dass sie im Volk aufgehen, in der Sache, die nur das Volk betrifft; wenn sie dagegen weiter außerhalb des Volkes leben, werden sie nicht nur unbrauchbar, sondern schädlich“ (ebd. S. 241). Bakunin wäre nicht Materialist, wenn er die Bedeutung der „objektiven Klassenlage“ und der sozio-ökomoischen Bedingungen negieren würde. Bezüglich der traditionell „schwankenden“ Rolle des Kleinbürgertums schreibt er: „Die Initiative zur neuen Entwicklung wird nicht von ihm ausgehen, sondern vom Volk. Im Westen: von den Arbeitern der Fabriken und Städte; bei uns, (...) in den meisten slawischen Ländern: von den Bauern. Das Kleinbürgertum ist zu ängstlich (...), um irgendeine Initiative zu ergreifen. Es wird sich wohl mitreißen lassen, aber selbst niemanden mitreißen; denn es ist nicht nur arm an Ideen, es fehlt ihm zugleich an Glauben und Leidenschaft. Jene Leidenschaft, die alle Hindernisse beseitigt und neue Welten schafft, findet sich ausschließlich im Volk“ (Bakunin, M.: Die revolutionäre Frage. Föderalismus – Sozialismus – Antitheologismus, S. 57).
Das leidenschaftliche und opferbereite Motiv der Volksmassen bzw. das Massenelend reichen indes nicht aus, um einen breiten sozialen Aufstand einzuleiten. Dazu braucht es ein übergeordnetes Ideal und eine organisatorische Zusammenfassung von bereits bewussten RevolutionärInnen. Hinsichtlich dieses gesellschaftlichen Ideals schreibt Bakunin: „(...) für die Ergebung ganzer Volksmassen bedarf es eines Ideals, das in der Geschichte immer aus den Tiefen der Volksseele auftaucht, um dann durch eine Reihe von wichtigen Ereignissen, harten und bitteren Erfahrungen geformt, erweitert und begründet zu werden. Das Volk braucht eine allgemeine Vorstellung seines Rechtes (...) Wenn dieses Ideal und dieser Glaube im Volk vereint vorhanden sind neben dem Elend, das es in die Verzweiflung treibt, dann steht die soziale Revolution nahe bevor (...)“(Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S. 41).
Die Aufgabe der RevolutionärInnen ist es, „der Revolution, die überall das Werk des Volkes sein muss (...)dienen, sie (...) organisieren, und (...) beschleunigen, das allein ist die Aufgabe derjenigen, die den Ablauf der Entwicklung vorhersehen. Wir haben der neuen Zeit Hebammendienste zu leisen, die Geburt der Revolution zu befördern (zit. nach Grosche, M.: Anarchismus und Revolution, S. 45). Neben der Geburtshelferfunktion fällt den RevolutionärInnen die Bewusstseinsarbeit zu, dies bedeutet „unter der Massen Gedanken verbreiten, die den Masseninstinkten entsprechen“ (ebd.). Der Kreis von RevolutionärInnen soll die Organisierung der ArbeiterInnen in nicht-reformistische Bahnen befördern und zur Aktivität animieren: „Die Zeit gehört nicht mehr den Ideen, sondern den Taten. Worauf es heute vor allem ankommt, ist die Organisation der proletarischen Kräfte (...)“ (ebd. S. 46). Die revolutionäre Organisation bildet die Keimzelle der neun Gesellschaft, sie nimmt sie quasi im Kleinen vorweg: „Wir müssen dafür Sorge tragen, diese Organisation so dicht wie möglich unserem Ideal anzunähern. Wie könnte je eine egalitäre und frei Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgehen?“ (ebd.).
Bakunin erkennt die Notwendigkeit der klandestinen Organisierung der revolutionären „VordenkerInnen“ aufgrund der Repression, die unweigerlich bei einer solchen politischen Tätigkeit einsetzt: „(...) wenn diese (geheime Struktur, Anm. mg) öffentlich wäre, würde sie gegen die Initiateure der Verfolgungen der ganzen offiziellen (...) Welt hervorrufen, und würde zermalmt werden, noch bevor es ihr möglich gewesen wäre, die allergeringste Bewegung auszuüben“ (ebd. S. 48). Er spricht sich für eine klare Aufgabenteilung aus, d.h. Das sich innerhalb einer zu strukturierenden Massenorganisation eine „Geheimgesellschaft“ bilden muss, deren spezielle Aufgabe darin besteht, „dieser Masse eine wahrhaft revolutionäre Richtung zu geben“ (ebd.).
Diesem Prinzip folgend, gruppierte Bakunin innerhalb der erwähnten „Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie“ eine klandestine „brüderliche Allianz“ um sich (vgl. Diefenbacher, H.: Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, S. 115).
Bereits 1864 gründet Bakunin seine erste „Geheimgesellschaft“, die unter der Bezeichnung „Internationale Geheimgesellschaft zur Befreiung der Menschheit“, häufiger jedoch unter dem Titel „Internationale Bruderschaft“ firmiert. Anleihen holte sich Bakunin anfangs beim Freimaurertum und ihren klandestinen Traditionen, da er in den Logen ein Instrument zur Anzettelung politischer Verschwörungen sah. Wenig später erkannte er, dass die Freimaurerei keine revolutionäre Rolle in seinem Sinne spielen würde (vgl. Grawitz, M: Bakunin. Ein Leben für die Freiheit, S. 231-234).
Bakunin spricht entgegen so mancher Ausführung durch bekennende AnarchistInnen, von einer „Avantgarde“ im Zusammenhang mit der Aufklärungsarbeit durch die RevolutionärInnen; dort heißt es, dass „die aufgekärtesten Bauern mit der Avantgarde, den Revolutionären, die natürlich dem ländlichen russischen Leben entstammen, vereint werden (müssen)“ (Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S. 286).
Bakunin ist, wie wir weiter unten sehen werden, auch für die Vertreter verschiedener „Volkstümler-Richtungen“ zu einem Stichwortgeber geworden. Er ist neben anderen zu einem unmittelbaren Agitator für die Kampagne „ins Volk Gehen“ geworden, in der vor allem die städtische universitäre Jugend aufgerufen wurde, eine „Volksverbundenheit“ herzustellen. Bakunin ruft diesem Klientel emphatisch zu: „Freunde, verlasst also in Bälde diese der Vernichtung anheim fallende Welt! Verlasset diese Universitäten, diese Akademien (...), in denen man Euch nur vom Volke zu trennen gesucht hat. Geht unter das Volk!“ (Bakunin, M.: Einige Worte an meine jungen Brüder in Russland, S. 37). Bakunin macht klar, dass es hinsichtlich der Mobilisierung des russischen (Land-)Volkes keiner akademischer Abhandlungen bedarf, denn eines vorbildhaften Handelns: „Man kann bei ihnen nur etwas mit einer praktischen Aktion erreichen, überhaupt nicht durch Theorie“ (Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S. 266).
Für eine massenhafte Revolte sind die Bedingungen innerhalb des russischen Volkes nach Bakunin aufgrund des extremen sozialen Elends und der maßlosen Knechtschaft überaus günstig. Dem russischen Volk rechnet Bakunin drei wesentliche Charakterzüge zu, die das Substrat einer sozialen Revolution sind. Im russischen Volk existiert die grundsätzliche Überzeugung, dass ihnen der durch ihre Arbeitskraft bewirtschaftete Boden voll und ganz gehört. Das Nutzungsrecht des Bodens kann nicht einem privilegierten Individuum übertragen werden, sondern gehört der Landgemeinde, dem Mir. Des Weiteren konstatiert Bakunin aufgrund des tiefverwurzelten Selbstverständnisses der absoluten Autonomie der kommunalen Selbstverwaltung des Mir eine prinzipielle Gegnerschaft zum zentralistischen Staat im russischen Volk. Zwar werden diese emanzipatorischen Faktoren durch andere, wie die patriarchalische Struktur des Mir oder des Vertrauens in den Zaren, zum Teil überlagert, aber die Aufgabe der RevolutionärInnen ist es, die „instinktiven Gefühle“ und das „unartikulierte Verlangen“ (vgl. ebd. S. 271) nach einem sozialrevolutionären Prozess innerhalb der Volksmassen durch einen Anstoß wachzurufen.
Wir wollen zum Abschluss der Darstellung von Bakunins Positionen zu dem Themenkomplex „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution“ ein spezielles Kapitel aus seinem Leben anschneiden: die sog. Netschajew-Affäre. Sergej Netschajew (1847-1882), der im Unterschied zu vielen bekannten russischen (Exil-)RevolutionärInnen nicht dem Adel, sondern einer leibeigenen Familie entstammte, wurde neben Peter Tkatschew (1844-1886) zum Inbegriff einer russischen Ausprägung des „Blanquismus“. Netschajew machte 1869 im Schweizer Exil Bekanntschaft mit Bakunin, der sich schnell von dessen politischer Entschlossenheit und Selbstlosigkeit angezogen fühlte. Beide arbeiteten im folgenden zusammen, d.h. bis zur Trennung durch Bakunin, der sich u.a. aufgrund des wachsenden Fanatismus, der inhaltlichen Differenzen und der persönlichen Unaufrichtigkeit von ihm abwendete. Zum Beispiel wurde für Bakunin mehr und mehr klar, dass das von Netschajew groß angepriesene revolutionäre „Komitee“ in Russland faktisch ein imaginäres war und dieser die revolutionäre Schlagkraft dieses „Komitees“ ins Unermessliche phantasierte, um sich Bakunins Interesse und letztlich dessen Mitwirkung zu erschleichen. Bakunin entschloss sich aufgrund dessen zu einer schriftlichen Distanzierung von Netschajew (vgl. Bakunin, M.: „Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?“ Ein Brief von Michael Bakunin an Sergej Necaev, S. 53f.).
Aus der Zeit der gemeinsamen – vor allem publizistischen – Tätigkeit entstanden einige Schriften, deren Urheberschaft umstritten waren und Bakunin in die Nähe der AnhängerInnenschaft der „Propaganda der Tat“ rückte. Am bekanntesten ist dabei die Kontoverse um die Urheberschaft des „Katechismus des Revolutionärs“ von 1870 (nicht zu verwechseln mit dem oben erwähnten „Revolutionären Katechismus“ von 1866!), der „als eine Bibel für fast alle Spielarten des Terrorismus“ (Diefenbacher, H.: Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, S. 116) betrachtet wurde. Aufgrund eines Sprachenvergleichs und Hinweisen von Bakunin selbst konnte zweifelsfrei festgestellt werden, das der „Katechismus des Revolutionärs“ aus der Feder Netschajews stammt (vgl. u.a. Bakunin, M.: „Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?“ Ein Brief von Michael Bakunin an Sergej Necaev, S. 1f.). Darin wird unverblümt der pflichtbewusste, selbstlose, opferwillige und gnadenlos zerstörungswütige „Revolutionär“ herorisiert, der als Aktivist, eines verschwörerisch-geheimen Komitees im Sinne einer „Volksrevolution“ agiert. Zur Veranschaulichung wollen wir nur einige wenige Zitate aus diesem „Katechismus“ präsentieren: „Der Revolutionär ist ein Geweihter. Es gibt für ihn weder persönliche Interessen, noch (...) Gefühle, Bindungen, er besitzt nichts, nicht einmal einen Namen. Sein Geist wird völlig in Anspruch genommen von einem einzigen (...) Gedanken, einer einzigen Leidenschaft: der Revolution (...) Er kennt nur eine einzige Wissenschaft: die Zerstörung (...) Zwischen ihm und der Gesellschaft herrscht ein offener oder versteckter, aber nie ein nachlassender und immer unversöhnlicher Kampf auf Leben und Tod (...) Wir müssen uns der abenteuerlichen Welt der Räuber anschließen, die die wahren und einzigen Revolutionäre Russlands sind (...) (ebd. S. 117f.). Hinsichtlich der „Propaganda der Tat“ ruft Netschajew aus: „Die Vernichtung hochstehender Personen, in denen die Regierungsformen oder die Formen der ökonomischer Zersetzung sich verkörpern, muss mit Einzeltaten begonnen werden“ (Netschajew, S.: Worte an die Jugend, S. 18). Soweit einige Impressionen aus der Gedankenwelt eines Netschajews.
Bakunin befürwortet „eine gewaltsame, jeden Widerstand beseitigende Revolution des Volkes, welche unsichtbar gelenkt wird (...) durch die anonyme und gemeinschaftliche Diktatur von Anhängern der vollständigen Befreiung des Volkes von jeder Knechtschaft, die in einer geheimen Gesellschaft fest organisiert sind“ (Bakunin, M.: „Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?“ Ein Brief von Michael Bakunin an Sergej Necaev, S. 56). Er streitet auch explizit gegen eine „pazifistische, vorbereitende Aktion“ zugunsten des direkt organisierten „Generalaufstandes des Volkes“ (vgl. Bakunin, M.: Staatlichkeit und Anarchie, S. 282 und 266), aber er lehnt es ab, die „Propaganda der Tat“ zur ausschließlichen Maxime zu erheben. Vorrangig „(wird) die Revolution nicht gegen Menschen, sondern gegen Verhältnisse und Dinge wüten“ (zit. nach Grosche, M.: Anarchismus und Revolution, S. 47).
Peter Kropotkin (1842-1921), aus einem alten russischen Adelsgeschlecht kommend, wurde von Zar Nikolaus I. Persönlich für den Petersburger Pagenkorps ausgewählt. Ihm stand das Tor für eine hohe militärische Laufbahn weit offen, doch quittierte er 1866 unter dem Eindruck des autokratischen Zarismus den Dienst und widmete sich seinen wissenschaftlichen Studien. Aber auch den elitären Elfenbeinturm der Wissenschaft verließ er bald, denn er erkannte die Notwendigkeit einer grundlegenden praktischen Umgestaltung der russischen Gesellschaftsverhältnisse. 1872 reiste Kropotkin in die Schweiz und nahm zu den exilierten Oppositionskreisen Kontakt auf. Er schloss sich im selben Jahr dem anti-autoritären Flügel der I. Internationale an. Nach seiner Rückkehr nach Russland begann er mit der revolutionären Tätigkeit und wurde 1874 in die berüchtigte Peter-und-Paul-Festung eingekerkert. Er konnte zwei Jahre später fliehen und durchlief mehrere Exilstationen (einschließlich eines mehrjährigen Knastaufenthalts in Frankreich) bis er sich 1886 in England niederlassen konnte. Dort wirkte er vor allem publizistisch. Im Juni 1917 kehrte Kropotkin nach vierzigjährigem Exil ins revolutionäre Russland zurück.
Einen Posten in der provisorischen Regierung lehnte er als Gegner des Staatsprinzips ab. Die Oktoberrevolution begrüßte er, übte aber scharfe Kritik am „Zentralismus“ und der „Repression“ des „bolschewistischen Regimes“. Seit Sommer 1918 lebte er gesundheitlich sehr geschwächt zurückgezogen in der Nähe von Moskau, wo er am 8. Februar 1921 verstarb. Kropotkin gilt als der Begründer des kommunistischen Anarchismus, den er folgendermaßen definierte: „Man beginnt einzusehen, dass die einzig möglich Form des Kommunismus innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft die Form des kommunistischen Anarchismus ist. Da er seinem Wesen nach egalitär ist, bedeutet der Kommunismus die Verneinung jeder Autorität. Andererseits wäre eine anarchistische Gesellschaft von einer gewissen Größe nicht möglich, könnte sie nicht von vornherein für alle zumindest ein Minimum eines gemeinschaftlich erzeugten Wohlstandes garantieren. Kommunismus und Anarchismus sind zwei Konzeptionen, die sich notwendigerweise ergänzen“ (Kropotkin, P.: Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie, S. 96). Er prognostiziert eine gewisse Zwangsläufigkeit seines Gesellschaftsmodells, indem er feststellt, dass „die Anarchie zum Kommunismus (führt) und der Kommunismus zur Anarchie, das eine wie das Andere ist nur der Ausdruck einer in den modernen Gesellschaften vorherrschenden Tendenz: des Strebens nach der Gleichheit“ (Kropotkin, P.: Die Eroberung des Brotes, S. 19). Kropotkin setzte den von ihm propagierten „libertären Kommunismus“ in einen diametralen Gegensatz zu dem von ihm als „Staatskpitalismus“ bezeichneten Konzepts der „autoritären Kommunisten“ (vgl. Kropotkin, P.: Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie, S. 107). Der von Kropotkin interpretierte Anarchismus erwartet „von einer kommenden Revolution (...) nicht die Ersetzung der heutigen Kapitalisten durch den kapitalistischen Staat. Er sieht in ihr einen ersten Schritt in Richtung freier Kommunismus ohne Staat“ (ebd. S. 119). Die Quintessenz des anarchistischen Kommunismus gründet auf dem Prinzip „Recht auf Wohlstand, den Wohlstand für Alle“. Es hebt sich merklich von den kollektivistischen Prinzipien wie das „Recht auf Arbeit“ oder „Jedem der vollständige Ertrag seiner Arbeit“ ab. Kropotkin macht den revolutionären Charakter seines Ansatzes klar, wonach „der Wohlstand für Alle das Ziel (ist), die Expropriation das Mittel“ (Kropotkin, P.: Die Eroberung des Brotes, S. 13).
Kropotkin war derjenige unter den anarchistischen KlassikerInnen, der den Wesenszug der propagierten revolutionären Aktion sozusagen „verwissenschaftlichte“, wie er den gesamten Anarchismus u.a. naturwissenschaftlich herzuleiten versuchte. Viele kennen ihn vornehmlich von seinen Werken „Die Eroberung des Brotes“ oder „Gegenseitige Hilfe“, in denen er die Grundlage schuf, den theoretischen und analytischen Defiziten des Anarchismus beizukommen.
In seinem Text „Der Geist der Revolte“ stellt er sich die Grundfrage, wie der weite Abgrund zwischen einer mündlich ausgedrückten Unzufriedenheit und einer handfesten Revolte zu überwinden ist. Er fragt und gleitet anschließend in die Beantwortung über: „Wie kam es, dass Worte, die man so oft und so leichtfertig ausspricht, plötzlich zu Taten werden? Die Antwort ist leicht. Taten von Minderheiten, fortwährende Aktion, die unablässig sich erneuert, bringt diesen Umschwung herbei. Mut, Ergebenheit und Opfergeist sind so ansteckend wie Feigheit, Unterwerfung und Angst“ (Kropotkin: Der Geist der Revolte, S. 14). Kropotkin belässt es nicht bei der einfachen Erwähnung, dass die „fortwährende Aktion“ aus der Paralyse hilft, sondern benennt auch den Inhalt der Tat. Auf die selbstgestellte Frage nach der Richtung der Aktion, antwortet er: „Alle, wirklich die verschiedensten Richtungen und Formen, die sich aus den Umständen, den Veranlagungen und den zur Verfügung stehenden Mitteln ergeben. Manchmal tragisch, manchmal lustig, aber immer mutig, manchmal gemeinschaftlich, manchmal individualistisch, die Handlungspolitik wird keine Möglichkeit vergessen (...), um Mut und Revolutionsgeist zu erregen“ (ebd. S. 14). Diese Passagen werden von einigen Interpreten oft herangezogen, um Kropotkin als Anhänger der „Propaganda der Tat“ hinzustellen (vgl. Zenker, E.V.: Der Anarchismus, S. 128f.). Kropotkin liefert eine Beschreibung propagandistischer Aktionen während eines Revolutionsprozesses, so wie sie sich historisch dargestellt haben: „Wer immer die Geschichte kennt (...) weiß vollauf, dass eine theoretische Propaganda der Revolution sich auch notwendig in Thaten umsetzen muss, lange bevor die Theoretiker entschieden haben, dass nun die Stunde gekommen sei“ (zit. nach ebd. S. 129). Aber er jene Taten nicht als revolutionäre Kampfmittel, statt dessen verwendet er für „individuelle Terrorakte“ die als Schimpfwort gebrauchte Bezeichnung „Netschajewismus“ (vgl. Grosche, M.: Anarchismus und Revolution, S. 75).
Nach Krpotkin gehen allen Revolutionen Revolten voraus, die sozusagen die „Inkubationszeit“ der allgemeinen sozialen Umwälzung darstellen. D.h. Dass sich eine Revolution sukzessive aufbaut, erst revoltieren isolierte Individuen, dann durchbricht der Geist der Revolte bestimmte soziale Kreise bis er sich gesamtgesellschaftlich Bahn bricht: „Nicht eine, zwei oder zehn ähnliche Revolten, sondern Hunderte von Erhebungen gehen jeder Revolution voraus. Es gibt eine Grenze für jede Gedult“ (Kropotkin, P.: Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie, S. 116-117).
Zudem wird der Charakter einer Revolution von den ihr vorausgehenden Revolten bestimmt (vgl. ebd. S. 117). Und in diesen vorausgehenden Revolten muss ein „klares, reales Ziel“ (ebd. S. 63) gesetzt sein, denn „keine Zerstörung des Bestehenden ist möglich , ohne dass man sich bereits während der Periode der Zerstörung und der Kämpfe,welche diese Zerstörung herbeiführen, eine Vorstellung davon entwickelt, was an die Stelle dessen treten soll, was man zerstören will“ (ebd.). Für Kropotkin ist es durchaus denkbar, dass es auch ohne einen weit verbreiteten revolutionären Geist unter den Massen in einer objektiv revolutionären Situation möglich ist, mit Aktionen einer Minderheit diesen zu entfachen (vgl.: Kropotkin: Der Geist der Revolte, S. 15). Den propagandistischen Vorrang den Kropotkin der Tat gegenüber dem Wort gibt, wird in der Aussage deutlich, wonach „durch Aktionen, die die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die neue Idee in das Bewusstsein (sickert) und Anhänger (gewinnt). Eine solche Aktion kann innerhalb weniger tage mehr Propaganda machen als 1000 Flugblätter“ (ebd. S. 174).
Das, was einer revolutionären Eruption oft „als Klippe“ im Weg steht, „(ist) die Trägheit des Geistes, an der alle Revolutionen bis zum heutigen Tage gescheitert sind“ (Kropotkin, P.: Die Eroberung des Brotes, S. 173). Es mangelt insgesamt an der „Kühnheit der Initiative“ (ebd. S. 174).
Über das Ausmaß und die Brachialität eines revolutionären Ausbruchs, die in einem Wechselverhältnis zu dem Unterdrückungsgrad der Politik der Herrschenden stehen, lässt uns Kropotkin auch nicht im Unklaren: „Schließlich bricht die Revolution aus, und zwar um so schrecklicher, je bitterer die vorherigen Zustände waren“ (Kropotkin: Der Geist der Revolte, S. 17). Zumal Kropotkin festhält, „dass die soziale Revolution nicht durch Gesetze geschieht“ (Kropotkin, P.: Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie, S.95). Er schreibt uns ins Stammbuch, dass eine soziale Revolution nicht „auf pazifistischem Wege“ verlaufen wird, da „die Bourgeoisie ihre Macht nicht kampflos aufgeben (wird); sie wird sich nicht enteignen lassen, ohne Widerstand zu leisten (ebd. S. 115).
Die von Kropotkin angestrebte soziale Revolution wird nicht die einer jakobinischen Diktatur, oder die eines Konvents oder Parlaments, auch nicht die der Diktatur des Proletariats sein. Er schreibt: „Wir verstehen die Revolution als eine volksnahe Bewegung, welche sich in die Breite ausdehnt und in der das Volk in jeder Stadt, in jedem Dorf der aufständischen Regionen den Neuaufbau der gesellschaftlichen Organisation selbst in die Hand nimmt. Das Volk – die Bauern und die städtischen Arbeiter – muss die konstruktive, aufbauende Tätigkeit selbst beginnen, nach mehr oder weniger weitgefassten kommunistischen Prinzipien und ohne auf Befehle und Anordnungen von oben zu warten“ (ebd. S. 114). Kropotkin konstatiert kurz und knapp: „Alle Revolutionen sind vom Volke ausgegangen“ (ebd. S. 116). Er benennt auch die dringendsten Probleme, die es volkswirtschaftlich im Zuge einer sozialen Revolution zu lösen gilt: Neuorganisierung des Konsums, „so dass Wohnung, Nahrung und Kleidung für alle gesichert sind“(ebd. S. 119). Das entscheidende und oft vernachlässigte ist: „die Brotfrage“ (Kropotkin, P.: Die Eroberung des Brotes, S. 39).
Kropotkin erkennt die Dialektik eines revolutionären Prozesses hinsichtlich seiner polit- und sozioökonomischen Dimension. Er unterscheidet ebenso wie andere zwischen einer politischen und einer sozialen Revolution. Jede bisher bekannte Revolution war nur von „politischer Natur“. Kropotkin weist darauf hin, dass „ihr wahrhaft revolutionäres Werk nicht in der Inszenierung (liegt), in dem Kampf der ersten Tage, im Barrikadenbau usw. (...) Erst nach der Niederlage der alten Regierungen beginnt das eigentliche Werk der Revolution“ (ebd., S. 14).
Eine allumfassende Revolution erschöpft sich demnach selbstverständlich nicht darin, die Namensschilder auf einer Regierungsbank auszutauschen. Er betont folgendes: „Einer neuen ökonomischen Organisationsform muss notwendigerweise eine neue politische Organisationsform entsprechen (…) Jeder Schritt zur ökonomischen Befreiung, jeder wirkliche Sieg über das Kapital wird auch ein Sieg über die Autorität sein, ein Schritt in Richtung politischer Befreiung: das bedeutet die Befreiung vom Joch das Staates durch die freie Vereinbarung aller Beteiligten (…)“ (Kropotkin, P.: Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie, S. 95, S. 109). Eine soziale Revolution wird auch nicht vor den patriarchalischen Strukturen im Haushalt halt machen: „Eine durch die Revolution regenerierte Gesellschaft wird auch die Knechtschaft am Herde beseitigen – die letzte Form der Knechtschaft, die zäheste vielleicht, weil sie auch die älteste ist“ (Kropotkin, P.: Die Eroberung des Brotes, S. 92). Die TrägerInnen der sozialen Revolution sind demzufolge ausdrücklich auch die Frauen, die sich gegen jene patriarchale Zurichtung zur Wehr setzen. Auch bei Kropotkin finden wir als Kategorie des „revolutionären Subjekts“ das sich seiner Wege und Ziele gewahrwerdenden „Volkes“. Das „Volk“ gilt als jener Teil der Bevölkerung, der direkt oder indirekt von der Ausbeutung durch das Lohnsystem betroffen ist. Aber auch Mitglieder „gehobener“ Gesellschaftsschichten können sich subjektiv für den Kampf des „Volkes“ entscheiden: „Bald erkannte ich aber, dass keine Revolution, friedlicher oder gewaltsamer Natur, jemals stattgefunden hat; ohne dass die neuen Ideale sich auch unter den Angehörigen eben der Klasse, deren Vorrechten der Ansturm galt, zahlreiche Anhänger gewonnen hätten“ (zit. Nach: Grosche, M.: Anarchismus und Revolution, S. 73).
Kropotkin erwartet von dem Studium der Geschichtsschreibung der Revolutionen und der Analyse der Primärquellen Aufschluss über die Ursachen und Entwicklungen von epochalen Umwälzungen und des ihnen vorausgegangenen Geistes der Revolte (vgl.: Kropotkin, P.: Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie, S. 113). Diese Kropotkin’sche Maxime ist auch die unsere.
V. Die „Propaganda der Tat“ und die russischen Narodniki und Sozialrevolutionäre
Nach der Darstellung der aufstandstheoretischen Aspekte bei Babeuf und Blanqui und den Ausführungen zu Bakunin, Netschajew und Kropotkin wollen wir uns explizit mit den Formen der „Propaganda der Tat“ mit dem „individuellen Terror“, beschäftigen. Das verkürzte „blanquistische“ Aufstandsschema der klandestinen „verschwörerischen“ Gruppe, die mit einem Handstreich die zentralen Machtpositionen besetzen will, ist von der „Propaganda der Tat“ , die tatsächlich von einzelnen oder einer Gruppe, die sich diesem Konzept verschrieben hat, zu unterscheiden. Das vorrangige Ziel der „Propaganda der Tat“ ist die Liquidierung einer bestimmten Person, in der Regel eine, die Unterjochung und Ausbeutung direkt aufgrund ihrer Funktion repräsentiert. Der „Tyrannenmord“ , sozusagen die antike Ausprägung der „Propaganda der Tat“, wurde auch von Plato und Aristoteles als ein legitimes Widerstandsmittel gegen einen Gewaltherrscher betrachtet.
D.h. wir sprechen hier von einer Aktionsform, die nicht irgendeiner „pathologischen“ Neigung entspringt, sondern Ausdruck einer Handlungsweise ist, die sich gegen eine personalisierbare Unterdrückung und Ausbeutung richtet. Es handelt sich hierbei um keine gegen anonyme Kartelle oder abstrakte gesellschaftliche Strukturen gerichteten Angriffe, sondern um bekannte öffentliche Persönlichkeiten mit einem hohen Status in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft. In klassischen anarchistischen Abhandlungen wird oft darauf verwiesen, dass die Verwirklichung der anarchistischen Vorstellung eines herrschafts- und unterdrückungsfreiem Gesellschaftsideals die „Propaganda der Tat“ überflüssig macht. Die Ursachen dieses Kampfmittels werden in der Politik des staatlichen (Repressions-)Apparates und dem hierarchischen Gesellschaftskonzept gesehen (vgl.: Paul Koschemann. Das Attentat auf den Polizei-Oberst Krause in Berlin, S. 14).
Der Ausruf „Propaganda der Tat“ soll von dem französischen Arzt, Anarchisten und Mitkämpfer Bakunins, Paul Brousse, stammen, der ihn 1876zum ersten Mal in einer von ihm gegründeten und herausgegebenen Zeitung verwendet haben soll (Hoffmann, B.:Terrorismus. Der unerklärte Krieg, S. 286). Brousse wird mit den Worten zitiert, dass „der Weg der Revolution durch eine königliche Brust (führt)“ (Schröder, D. (Hg.): Terrorismus. Gewalt mit politischem Motiv, S.19). Ein anderer Autor zitiert Brousse mit einem Satz, der die Quintessenz dieser Taktik beschreibt: „Thaten werden allseitig besprochen, nach der Ursache der Thaten fragen die indifferenten Massen, sie werden aufmerksam auf die neue Lehre und discutieren sie. Sind die Menschen erst einmal soweit, so ist es sicher nicht schwer, viele von ihnen zu gewinnen“ (Zenker, E.V.: Der Anarchismus, S. 114). Für Brousse geht es zunächst um das Attentat und den Aufruhr als Mittel der Propaganda und weniger um die Beseitigung der herrschenden Ordnung (ebd., S. 114).
Die eigentliche theoretische Unterfütterung der „Propaganda der Tat“ bzw. Prägung dieses Ausrufes soll von dem radikalen italienischen Republikaner und Föderalisten Carlo Pisacane stammen. Pisacane ging davon aus, dass der didaktische Zweck der Gewalt niemals von schriftlich formulierten Ideen ersetzt werden könne; „Ideen gehen aus Taten hervor und nicht umgekehrt, und das Volk wird nicht frei durch Bildung, sondern gebildet in der Freiheit“ (zit. Nach: Hoffmann, B.: Terrorismus. Der unerklärte Krieg, S. 19).
Johann Most (1846-1906) wird oft als ein Prototyp der „Propaganda der Tat“ bezeichnet. Dabei wird allerdings ein bedeutender Teil seiner Biographie und seines politischen und agitatorischen Wirkens in der frühen deutschen Sozialdemokratie ausgeklammert. Entgegen der weit verbreiteten Annahme begann Most seine politische Tätigkeit nicht als Anarchist, wie dies bspw. Der Anarchosyndikalist Rudolf Rocker in seiner Biographie „Johann Most. Das Leben eines Rebellen“ von 1924 zu vermitteln versucht, in der er unter anderem Mosts prinzipielle Gegnerschaft zum Kirchenapparat und –mitgliedschaft herausstreicht (wobei diese Position zum damaligen „guten Ton“ von Sozialdemokraten gehörte und keinen besonderen anarchistischen Bezug Mosts darstellt). Stattdessen fungierte Most als sozialdemokratischer Agitator in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) von August Bebel und Wilhelm Liebknecht (den sog. Eisenachern), die sich 1869 vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) Ferdinand Lassalles abgelöst und mit ihm 1875 wieder zusammengeschlossen hatten, ohne allerdings die inhaltlichen Trennungslinien tatsächlich zu überwinden (näheres dazu weiter unten). In diesem Zusammenhang fallen verschiedene Aussagen Mosts, die ihn als erklärten Gegner des Anarchismus ausweisen (wir kommen später darauf zurück).
Diese politische Lebensphase dauerte von 1871-1878, dem Beginn der sog. Sozialistengesetze (auch dazu weiter unten mehr). In dieser Zeit war er vor allem leitender Redakteur verschiedener sozialdemokratischer Zeitungen und Abgeordneter des Reichstages. Aufgrund dieser Funktionen als Publizist und Mandatsträger (er wurde 1877 jeweils im Wahlkreis Chemnitz/Sachsen gewählt) gehörte er zum meinungsbildenden Zirkel innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Wie alle führenden und viele weniger führenden Sozialdemokraten dieser Epoche machte auch Most mehrfach, z.T. mehrjährig, eine Zwischenstation in den Kerkern des kaiserlichen Wilhelminismus. Dieser ersten Phase seiner politischen Betätigung schloss sich gewissermaßen eine „Übergangsphase“ von 1878-1882 in seinem Londoner Exil an, in der sich Most bzw. die deutsche Sozialdemokratie immer weiter voneinander entfernten. Most kritisierte vor allem die zurückhaltende Politik Bebels und Liebknecht nach dem sog. Sozialistengesetzten, die er pauschal als „Verrat an der Würde der Arbeiterbewegung“ klassifizierte. Liebknecht verstieg sich zu folgender (taktischer) Aussage, die vor dem Hintergrund der massiven Einschränkung eben dieses „Sozialistengesetzes“ zu interpretieren ist: „Ich leugne aufs emphatischste, dass unsere Bestrebungen auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtet seien“ (zit. nach: Diefenbacher, H. (Hg.): Anarchismus, S.152). Diese Innerparteilichen Differenzen führten letztlich 1880 zum Parteiausschluss Mosts und Hasselmanns wegen eines angeblichen Spaltungsversuchs: „Neben den opportunistischen Kräften erwuchs der Partei Ende 1878/Anfangs 1879 mit den sich um Wilhelm Hasselmann und Johann Most sammelnden anarchistischen Sektierern eine Gefahr für die notwendige Orientierung der Mitglieder unter den Bedingungen des Ausnahmegesetzes. In ihrem in London erscheinenden Organ „Die Freiheit“ sprachen sich die anarchistischen Führer gegen jegliche parlamentarische Tätigkeit aus und propagierten die Abschaffung des Ausbeuterstaates mit Hilfe von Gewaltakten und individuellem Terror. Besonders seit Anfang 1880 (…) arbeiten sie der preußisch – deutschen Reaktion direkt in die Hände“ (Autorenkollektiv: Dieses System keinen Mann und keinen Groschen. Militärpolitik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1830 bis 1917, S.155) In seiner Londoner „Übergangsphase“ nah er nach der ideologischen und erzwungenen organisatorischen Trennung von der Sozialdemokratie zunächst eine Position des „dritten Weges“ ein. Aufgrund seiner grundsätzlichen Ablehnung des Parlamentarismus plädiert er für eine geheime Propagandatätigkeit, die von einer aktiven revolutionären Minderheit betrieben werden müsse, da die Gewinnung einer gesellschaftlichen Majorität unter den Repressionsbedingungen des Wilhelminismus ist (vgl. Diefenbacher, H. (Hg.): Anarchismus, S. 153). Dieses „blanquistische“ Aufstandskonzept versuchen Most Haselmann und andere im kaiserlichen Deutschen Reich organisatorisch umzusetzen, wobei die Aktionsfähigkeit dieser angeblichen 40 „Untergrundzellen“ stark angezweifelt wird (vgl. ebd., S. 154). Die Revolutionstheorie der „Propaganda der Tat“, die 1877/78 Schweizer und deutsche Anarchisten aus Bern über italienische Anarchisten importiert haben, findet mehr und mehr in der Most’schen „Freiheit“ ihren publizistischen Niederschlag. Most lobt in Artikel die Attentate auf Kaiser Wilhelm I. von 1878 und die Liquidierung von Zar Alexander II. im März 1881. Diese veröffentlichten Artikel waren der Auslöser einer Verurteilung zu anderthalb Jahren Zwangsarbeit wegen der „Billigung der Tötung des Zaren“. Ein Exil in den USA wurde nun erforderlich (vgl. ebd., S. 155-156). Wenn wir die Periodisierung von Mosts politischem Wirken fortsetzen wollen, schließt sich 1882 mit der Übersiedelung in die USA seine „anarchistische Phase“ an, in der er seine in London gewonnenen anarchistischen Positionen konzipierte und zum sagenumwobenen Verfechter der „Propaganda der Tat“ avancierte. Most trat in der anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Szene der USA, die sich vornehmlich aus europäischen Polit-Exilanten zusammensetzte, vehement für eine generelle militärisch-technische Ausbildung ein:“ Deshalb ließ er sich unter falschem Namen bei einer Munitionsfabrik einstellen und schrieb dann eine „Einführung in die Kriegswissenschaft“ mit genauen Anleitungen für den Gebrauch von Nitroglyzerin, die Herstellung von Zündern und die Fertigung von Bomben“ (Hausmann, F.: Die Deutschen Anarchisten von Chicago, S. 74). Dieser von uns allen bekannte, aber wie wir gleich sehen werden sehr reduzierte Most verstarb am 17.März 1906 in Cincinnati/USA. An diesem periodisierbaren grundlegenden Positionswechsel in der Politik Mosts haben sich verschiedene Autoren individualpsychologisch abgearbeitet. Wir wollen uns nicht auf dieses Gebiet begeben, sondern lediglich anmerken, dass die politische Desillusionierung nach den sog. Sozialistengesetzen und die parteiinternen Ränkespiele mit Bebel und Liebknecht mitursächlich für Mosts Hinwendung zum Anarchismus sind. Zudem ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass es tendenziell schon immer eine Schnittmenge zwischen den Ansätzen des klassischen Liberalismus in Mosts sozialdemokratischer Periode und seiner anarchistischen Orientierung in den USA gegeben hat (vgl. zur Biografie Mosts: Szmula, V.: Johann Most, Dokumente eines sozialdemokratischen Agitators, Bd. I und IV).
Wir wollen nun einige inhaltliche Positionen Mosts aus seinen „verschiedenen politischen Phasen“ komprimiert anführen, die belegen werden, dass er gerade in seiner aktiven Zeit für die Sozialdemokratie einer Vorstellungswelt anhing, die von liberalen und evolutionisitischen Argumentationsmustern geprägt war, die mit seinem späteren „Hau-drauf-Image“ nur schwerlich in Einklang zu bringen sind. Mosts Haltung zum Anarchismus bis 1878 ist unzweideutig. Zum einen bedient er sich des unreflektierten Gebrauch der Begriffe „Anarchie“ und „anarchisch“, wenn er einen „chaotischen“ Zustand in verschiedenen Staatsapparaten (bspw. Gefängniswesen oder Paralamentsarbeit) konstatiert oder die Verschwendung von Arbeitskraft im Kapitalismus mit einer „anarchischen Produktionsweise“ in Verbindung bringt. Zum anderen verunglimpft er einzelne anarchistische Protagonisten wie Proudhon als „sozialen Quaksalber dritten Ranges“ und als „„enfant terrible“ (Schreckenskind) des Sozialismus“ (Szmula, V.: Johann Most. Dokumente eines sozialdemokratischen Agitators, Bd. III, S. 24) und sieht Nachahmungen bspw. In der Ideenwelt des weiter unten portraitierten Wilhelm Weitling. Des Weiteren spricht er sich gegen jeden von „den Massen“ entkoppelten Versuch der Gesellschaftsveränderung bzw. gegen den Putschismus aus: „Es ist eben nicht allein Unsinn, sondern es ist geradezu eine Beleidigung des Volkes, wenn man annimmt, einzelne Menschen klügelten ganze Gesellschaftssysteme aus, die dann einfach der Gesamtheit gleichsam aufgepfropft werden (…) Vorschläge, die ganz und gar außerhalb der Gedankensphäre des Volkes liegen, entpuppen sich in der Regel bald als Produkte einer überreizten Phantasie und machen daher auch Fiasko“ (ebd. S. 20).Im Zusammenhang mit den Verschwörungen Blanquis schreibt er, dass sie der Grund sind, dass „den Sozialisten im allgemeinen der Vorwurf des Putschmachens an den Kopf geworfen wird, was ohne die fraglichen Vorkommnisse nicht leicht geschehen könnte“ (ebd. S. 25).Most argumentiert gegen eine voluntaristische Revolutionstheorie, wonach ein politischer Aufstand „gemacht“ werden könnte, „allein das waren keine Revolutionen, sondern einfältige Putsche (…) Der wahre Revolutionär kann kein Putschmacher sein (ebd. Bd. II, S. 41-42). Für einen „modernen Revolutionär“, so weiß Most, ist „die Zeit der Putsche, der Verschwörungen und Illusionen (ebd. Bd. IV, S. 107) vorbei.
Auch hinsichtlich der Anwendung von Gewaltmitteln in politischen Auseinandersetzungen und in der Kontroverse Reform oder Revolution hat Most in seiner sozialdemokratischen Agitationszeit eine klare Einstellung. Aus den Ausführungen Mosts zu dieser Zeit lässt sich herausfiltern, dass er Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Zielvorstellungen ablehnt und nur als Reaktion auf vorangegangene Repression seitens des wilhelminischen Staates legitimiert. Vor allem erkennt er in der Gesetzgebung der kapitalistischen Klassengesellschaft „Akte der Gewalt“ und führt aus, dass „durch diese Gesetze das Volk beherrscht (wird)“ (ebd. Bd. I, S. 115). Darüber hinaus fürchtet er aber, dass von den Sozialisten angewendete Gewalt gesamtgesellschaftlich polarisierend wirkt und die für die Einführung des Sozialismus erforderliche Verständigung mit anderen sozialen Sektoren (Bauer, Handwerk, Kleingewerbe) blockiert. Folgerichtig verurteilt er die beiden Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Jahre 1878, die von Bismarck als Vorwand für die sog. Sozialistengesetze instrumentalisiert wurden, und sah in den Attentätern verwirrte Einzelpersonen, die nichts mit der sozialdemokratischen Bewegung gemein hätten. Most sieht nicht in der Anwendung physischer Gewalt einen Durchbruch zur gesellschaftlichen Umwälzung, sondern seiner damaligen Meinung nach „es gibt eine Gewalt, die sich nicht durch drohende erhobene Mordgerätschaften offenbart und doch unbesiegbar ist. Das ist die „Gewalt der öffentlichen Meinung“ (ebd., Bd. II, S.40) Hierin wird Mosts „volksaufklärerischer“, idealistischer und evolutionistischer Ansatzdeutlich, bei dem es um langfristige Überzeugungsarbeit für den Sozialismus geht, denn der Kampf wird „auf geistigem Gebiet ausgefochten“ und es geht vorrangig um „die Revolutionierung der Geister“ (ebd., Bd., IV, S. 108). Zudem erkennt Most eine Wechselwirkung zwischen der sich bahnbrechenden „revolutionäreren Idee“ und ihrer Materialisierung in der organisierten Arbeiterbewegung: „Eines fördert das andere wechselseitig. Veranlasst der revolutionäre Gedanke die Arbeiter, sich zu organisieren, so trägt ihre Organisation die revolutionäre Idee in immer weitere Kreise“ und „ist die Revolution der Geister einmal Tatsache geworden, dann vollzieht sich auch die Revolution der Dinge (…) Dies ist ein logisches Naturgesetz“ (ebd., Bd., II, S. 37).
Most stützt sich bei seiner Definition des Verhältnisses von „Reform und Revolution“ einerseits auf Lassalle, der als Revolution eine Umwälzung betrachtet, die auf friedlichen oder gewalttätigen Weg gesehen kann. Entscheidend ist dabei, ob sich ein „neues Prinzip“ durchsetzt oder nicht. Im zweiten Fall handelt es sich lediglich um eine Reform, die ihrerseits friedliche oder gewalttätige Züge annehmen kann (mehr dazu, wenn es konkret um Lassalle geht). Andererseits befürwortet er auch die „enge“ Definition von „Reform und Revolution“, wonach erstere friedlich und zweitere gewaltsam verläuft. Von dieser definitorischen Basis aus, entwickelt Most eine eigenständige Interpretation von „Reform und Revolution“. Hier kommt Mosts Evolutionismus zum Vorschein, denn seiner Auffassung nach verstehen Sozialdemokraten „unter Reform nicht bloß eine Abänderung der bestehenden Zustände, sondern damit den friedlichen Durchbruch der sozialen Revolution“ (ebd. S. 30). Most betont mehrfach, da Sozialdemokraten die (langfristige) Durchsetzung eines „neuen Prinzips“ fordern, dass sie Revolutionäre seien; im selben Atemzug verweist er darauf, dass die sozialdemokratische Bewegung diese totale Umgestaltung von Staat und Gesellschaft nicht mit einem Hieb durchfechten will (vgl. ebd., Bd. IV, S. 108 und 125). In einem Prozess der gesellschaftlichen Mehrheitsgewinnung durch eine reformistische Strategie wird der Weg für eine soziale Revolution geebnet. Dieser unaufhörliche Fortgang hin zum Sozialismus kann nur in einen gewaltsamen umschlagen, wenn die Kräfte der Reaktion den herrschenden Zustand mit Zähnen und Klauen zu konservieren versuchen. D.h., dass „der Fall einer gewaltsamen Revolution keineswegs absolut ausgeschlossen“ (ebd. Bd. II, S. 41) ist, dass diese aber von der Sozialdemokratie nicht angestrebt wird. Nach Most gibt es „unverjährbare Menschenrechte“, welche die Völker berechtigen, das Bestehende umzugestalten (vgl. ebd. Bd. II, S. 31). Most stellt in seiner Sozialismus-Konzeption Louis Blanc, Marx, Lasalle und den blinden Berliner Professor Dühring, der insbesondere von Engels ideologisch bekämpft wurde, gleichberechtigt nebeneinander. Diese plurale theoretische Grundlage ist Ausdruck davon, dass sich die Position von Marx und Engels in der deutschen ArbeiterInnenbewegung zum damaligen Zeitpunkt noch nicht durchgesetzt hatte und schlicht eine von mehreren war. Diesen „Anti-Dogmatismus“ beschreibt Most wie folgt: „Es liegt ja in der Natur der Sache, dass der moderne Sozialismus jede schablonenartige Prinzipienreiterei und jede einseitige Ideenverknöcherung geradezu ausschließt“ (ebd. Bd. III, S. 27). Most liefert eine recht simple Definition von Sozialismus, er fragt „Was versteht man denn eigentlich unter Sozialismus? Einfach das Bestreben, die gesellschaftlichen Zustände so zu verbessern, dass alle Menschen ihre Kräfte und Fähigkeiten gehörig entfalten und ihre Bedürfnisse möglichst vollständig befriedigen können“ (ebd. Bd. II, S. 45). Kompatibel mit dieser Ausführung ist, dass sich Most vehement für das „Volksstaat“-Theorem der frühen Sozialdemokratie, das von Marx und Engels grundsätzlich abgelehnt wurde (unten mehr dazu), einsetzt und hier seine klassisch liberalen Theorie-Fragmente (bspw. Bezug zum Nützlichkeitsprinzip, Anlehnung an Rousseau etc.) einweben kann.
Ganz im Sinne dieses Theorems „(ist) der demokratische Staat, die reine Volksherrschaft Vorbedingung des Sozialismus“ und „(jeder) Sozialist muss (...) zugleich Demokrat sein“ (ebd. Bd. IV, S. 115) Der kapitalistische Staat der Bourgeoisie soll reformatorisch in einen Staat „des ganzen arbeitenden Volkes“ (ebd. S. 114) übergehen und „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit werden erst im wahren Staate, erst in dem Gemeinwesen sein, das wir anstreben – in der sozialdemokratischen Republik“ (ebd. Bd. I, S. 116). Analog zu anderen sozialistischen Theoretikern stellt auch Most den Industriearbeiter als Inbegriff des Arbeiters dar und weist im eine Avantgardefunktion im sozialen Prozess zu. Da es Most hinsichtlich der Einführung des Sozialismus um die Gewinnung der gesellschaftlichen Mehrheit geht, müssen im Zuge von Propaganda und Agitation weitere gesellschaftliche Sektoren für den Sozialismus sensibilisiert werden (Bauern, Handwerker, Kleinbürger). Ziel war es, diesen deutlich zu machen, dass sich ihre Unterdrückung zwar graduell, nicht aber prinzipiell von jener der Industriearbeiterschaft unterscheidet.
Für Most stellt die Arbeiterbewegung ein soziales Phänomen dar, das nicht mit anderen früheren gesellschaftlichen Aufbrüchen nahtlos in eine Kontinuitätslinie gepackt werden kann. Frühere Bewegungen können keineswegs „förmlich zu Vorläufern oder gar zu älteren Seitenstücken der heutigen Arbeiterbewegung“ (ebd. Bd. III, S.26) erklärt werden, denn diese „ist total originell“ (ebd.) (und dieses „Originelle“ veranlasste Most dazu von der „alten“ Barrikaden- und Putschtaktik Abstand zu nehmen). Der Sozialismus erhebt nach Most den Anspruch, eine Veränderung für die gesamte Menschheit zu bewirken und nicht nur einen sozialen Teilausschnitt im Auge zu haben:“ Gegenwärtig, wo er seine Anziehungskraft noch auf jene Teile der arbeitenden Klasse beschränkt, welche vom Klassenbewusstsein beseelt sind, da muss er diese Teile, die sich vorläufig als Partei gerieren, mit seinem Namen decken. Späterhin, wo es diese Partei durch ihn fertig gebracht haben wird, die ganze Arbeiterklasse in sich zu bergen, also selbst sich zur Klasse erweitert zu haben, da ist der Sozialismus Klassengeist. Hat endlich dieser Geist sich zum maßgebenden gemacht, sind seine Widersacher besiegt, dann hört der Sozialismus überhaupt auch auf, Klassensache zu sein, und wird Gemeingut der Menschheit oder gesellschaftliches Grundprinzip“(ebd. Bd. IV. S. 133). Most betont zwar, dass die Emanzipation der Frauen innerhalb des sozialistischen Lösungswegs vorgesehen ist, aber darüber hinaus realisiert werden muss, da sonst die Gefahr besteht, dass die Männer aufgrund ihrer Ernährerfunktion „an die Stelle der Herrschaft der besitzenden Klassen die des männlichen Geschlechts“ (ebd. Bd. I, S. 91) setzen.
Die Parlamentsarbeit bzw. das parlamentarische System sollten für die sozialdemokratischen Zwecke funktionalisiert werden. Die hohen Stimmenzuwächse bei Wahlen in den 70er Jahren des 19 Jh. ließen derartige Gedanken aufkommen. Das Parlament sollte quasi zur Propagandabühne des Proletariats umfunktioniert werden. Die Taktik war deshalb „eine negative, protestierende“ (ebd. Bd. II, S. 64), denn die ausgehandelten Gesetze waren aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Sinne der bestehenden Ordnung. Gerade deshalb sollte nicht dem parlamentarischen Treiben des Bourgeoisie aus der Distanz zugeschaut werden, sondern der Parlamentarismus als propagandistische Plattform genutzt werden, die momentanen Zustände fundamental zu kritisieren und die sozialdemokratischen Alternativen der Öffentlichkeit zu vermitteln. Most argumentiert gegen die Institutionalisierung des Militärs als stehendes Heer, da dies eine wesentliche innenpolitische Herrschaftsstütze und ein Instrument für auswärtige Eroberungspolitik ist. Er fordert der sozialdemokratischen Programmatik entsprechend die allgemeine Volksbewaffnung einzuführen, denn „man sagt nicht zuviel, wenn man behauptet, das ganze bewaffnete sei stets unbesiegbar.“ (ebd. Bd. IV, S. 121). Die allgemeine Volksbewaffnung ist der Garant gegen den preußisch-deutschen Militarismus (vgl. ebd. Bd III, S.44). In der Ausweitung des Militärdienstes und in der Tätigkeit von Sozialdemokraten im Heer sieht Most ein wichtiges Moment der gesellschaftlichen Umgestaltung, denn „der moderne Staat glaubt für seine Selbsterhaltung zu sorgen, wenn er seine Heere so viel wie möglich vergrößert, bewirkt aber dadurch nur , dass diese Heere mehr und mehr volksfreundlichen Charakters, also zu volksfeindlichen Zwecken immer weniger tauglich werden“ (ebd. Bd. II, S. 41). Dieses zwangsläufige „Einsickern“ von Sozialdemokraten in den militärischen Dienst, wobei er davon ausgeht, das jene dort weiterhin ihrer sozialdemokratischen Gesinnung treu bleiben, ist eine Voraussetzung, dass eine „reformatorische Revolution nicht als Unmöglichkeit angesehen werden darf“ (ebd.).
Die Ausführungen Mosts liegen ganz auf der Linie der damaligen sozialdemokratischen Programmatik, zuweilen gewinnt man den Eindruck, dass er um einige Nuancen moderater und „taktischer“ operiert als bspw. Wilhelm Liebknecht (vgl. weiter unten). Als Kontrastprogramm wollen wir seine spätere anarchistische Linie, insbesondere seine Befürwortung der „Propaganda der Tat“ schlaglichtartig beleuchten. Aufgrund des eben von Most als O-Ton Dargestellten, werden uns die aus seiner Londoner bzw. amerikanischen Exilzeit stammenden Aussagen als relativ brachial und zum Teil sehr impulsiv vorkommen.
Am eindruckvollsten läst sich die „Propaganda der Tat“ bei Most in seinen Werken „Revolutionäre Kriegswissenschaft“, „August Reinsdorf und die Propaganda der Tat“ und „Die Eigentumsbestie“ illustrieren. Alle drei Schriften sind in seiner US-amerikanischen Wirkungszeit entstanden. Die Schrift „Revolutionäre Kriegswissenschaft“ ist weniger eine (historische) Abhandlung der gewaltsamen Konfrontation zwischen unterdrückten und Unterdrückern als mehr ein Anleitungsbuch für „täglich praktischen Gebrauch“. Hier finden sich detaillierte Beschreibungen einzelner Sprengstoffe, Säuren, Zündvorrichtungen und Wirkungsweisen der eingesetzten Mittel der „Propaganda der Tat“. Most liefert im wahrsten Sinne des Wortes das technische kow how für die revolutionären AktivistInnen. Wobei wir nicht unerwähnt lassen wollen, dass es uns nicht ratsam erscheint, den von Most dargestellten und vorgeschlagenen Einsatzmittel experimentell nachzueifern, davon abgesehen, dass viele Ingredienzien, die Most anführt, heutzutage kaum oder gar nicht zu beziehen sind. Eine kleine Kostprobe macht das, was wir meinen vielleicht etwas plastischer: „Von ganz vorzüglicher Explosivkraft ist Knallquecksilber. Dasselbe besteht zu drei gleichen Gewichtsteilen aus Quecksilber, Salpetersäure und Alkohol (…) Um Knallquecksilber, das sehr leicht zur Explosion zu bringen ist, gefahrlos aufheben zu können, mischt man es mit Pottasche (…) Bomben, mit diesem Sprengstoff geladen, gehen ohne jeden Zünder, durch den bloßen Wurf, los!“ (Most, J.: Revolutionäre Kriegswissenschaft, S. 42f.). Na dann volle Deckung!!
Neben diesen etwas kurios anmutenden Passagen finden sich in dieser Schrift Aussagen, die für den inhaltlichen Hintergrund der „Propaganda der Tat“ repräsentativ sind. Most geht in dieser Schrift von folgender Prämisse aus: „Über die Bedeutung, welche die modernen Sprengstoffe für die soziale Revolution in Gegenwart und Zukunft haben, braucht heutzutage nichts mehr gesagt werden. Es liegt auf der Hand, dass dieselben im nächsten Abschnitt der Weltgeschichte den ausschlaggebenden Faktor bilden. Nichts ist daher natürlicher, als das sich die Revolutionäre aller Länder mehr und mehr bemühen, sich solche zu beschaffen, und die Kunst, sie praktisch anzuwenden, zu erlernen.“ (ebd., S. 3).
Most plädiert auch während seiner sozialdemokratischen Aktivenzeit für die allgemeine Volksbewaffnung, die hier allerdings die einzige Funktion hat „förmlich für den kommenden sozialen Krieg mobil zu machen“ (ebd. S. 53). Most führt in diesem Zusammenhang an, dass es hinsichtlich einer Bewaffnung nicht einen Weg gibt, sondern sich die darbietenden Umstände in den verschiedenen Ländern ausgeschöpft werden müssen (z.B. in der Schweiz, wo traditionell die Bevölkerung bewaffnet ist). Most sieht, dass sein Idealbild einer komplett bewaffnet organisierten Arbeiterschaft irreal ist u.a. aufgrund von gesetzlichen Vorschriften. Er resümiert, dass „einer militärischen Massenbewaffnung des Proletariats hingegen jede Möglichkeit benommen (ist)“ (ebd. S. 54). Dennoch ruft er leidenschaftlich dazu auf, die Lücken in den verschiedenen Ländern (z.B. Amerika) in Sachen Bewaffnung (noch) existieren, zu nutzen. Er maßregelt in dieser Frage jede Unentschlossenheit: „Mancher spricht von Bewaffnung; aber immer verlässt sich einer auf den anderen, und die Sache kommt nicht vom Fleck (…) Also weg mit den faulen Ausreden!“ (ebd., S. 56).
Most konzentriert sich in der Bewaffnungsfrage auf jene Proletarier, die sich dazu konkret entschlossen haben. Eine quasi zwangsweise „korporationsweise Bewaffnung“ lehnt er ab, da es dem „anarchistischen Prinzip“ zuwiderlaufe (vgl. ebd. S.57). Die, die sich bewaffnet haben „mögen sich dann spezieller gruppieren“ (ebd.). Most bevorzugt in einer bewaffneten Auseinandersetzung zwar den Einsatz von Gewehren, „um mittels kühner Handstreiche den Feind zu überraschen, dessen Hauptträger bei Nacht und Nebel aufzuheben und die wichtigsten Positionen zu besetzen“ (ebd. S. 58), erkennt aber den „hohen Wert“ anderer Waffengattungen:“ Gute Revolver, Dolche, Gifte und Brandsätze sind berufen, im Augenblicke der Rebellion ganz Bedeutendes zu leisen, schon deshalb, weil Diejenigen, welche solche Dinge mit sich führen, nicht äußerlich als Bewaffnete erkann und gemieden werden können, sondern den Feind in dessen privatesten Schlupfwinkeln aufzuspüren und abzutun vermögen“ (ebd.). Weitere Mittel, die sich leicht in der Kleidung verbergen lassen, sind die von Most favorisierten „modernen Sprengstoffe“, denn „diese Waffen sind geeignet, dem kämpfenden Proletariat die Artillerie zu ersetzen und Überraschung, Verwirrung und Panik in den Reihen seiner Feinde zu erzeugen“ (ebd.). Most lässt sich zu dem pathetischen Ausruf hinreißen: „Proletarier aller Länder, bewaffnet Euch! Bewaffnet Euch, wie es auch immer gehen mag; die Stunde des Kampfes ist nahe!“( ebd. S. 59).
Most gibt auch verschiedene Hinweise für konspiratives Verhalten (Deckadresse und -namen, keine Schwätzerei, kein Umgang mit Kompromittierten), „wer heutzutage voll und ganz für die soziale Revolution und den Anarchismus in die Schranken tritt, muss sich stets bewusst sein, dass er rings von Feinden umgeben ist“ (ebd.). Auch in Bezug auf eine Festnahmesituation oder einen politischen Prozess unterbreitet Most Handlungsvorschläge. Wenn eine Festnahme nicht nur auf wagen Verdachtsmomenten beruht, sondern es sich um eine existenzielle „Leben oder Tod-Situation“ handelt, „ist ein gewalttätiger Widerstand oder Selbstmord oder beides ratsam“ (ebd. S. 62). Ist ein einem Prozess die „Beweislast“ derart groß, dass die Justiz zu einem drakonischen Urteil kommen wird, sind die eigenen Handlungen „vom revolutionär-anarchistischen Standpunkt aus zu verteidigen und die Anklagebank in eine Rednertribüne zu verwandeln (…) ist man ersichtlich verloren, so benütze man die gegebne Spanne Zeit (Galgenfrist) dazu, dieselbe so propagandistisch, als nur irgend möglich zu verwerten“ (ebd. S. 62-63). Most lässt uns auch nicht hinsichtlich seiner Motivation für diese recht ausführlichen Hinweise im Unklaren: „wir (mussten) leider immer und immer wieder bemerken, dass selbst Leute, die keine Neulinge mehr in der revolutionären Bewegung sind, gegen diese eigentlich ganz selbstverständliche Dinge verstoßen“ (ebd. S. 63).
Most verarbeitet seinen Ansatz der „Propaganda der Tat“ in der Biographie über seinen politischen Weggefährten August Reinsdorf, der wegen der Organisierung eines Attentatsversuchs auf Kaiser Wilhelm I., Bismarck und andere 1885 hingerichtet wurde. Reinsdorf war Most zufolge auch der ideologische Instrukteur de beiden Attentäter Hödel und Nobiling, die im Mai bzw. Juni 1878 Schüsse auf Wilhelm I abfeuerten, die allerdings jeweils ihr Ziel, sprich die Liquidation Wilhelms, verfehlten. Reinsdorf orientierte sich ausdrücklich an dem „Revolutionären Katechismus“ von Netschajew und entsprach ganz der Linie der „Propaganda der Tat“, die 1881 auf einer anarchistischen Konferenz in London ausgegeben wurde. Die Illegalität und die individuelle Initiative innerhalb des revolutionären Prozesses wurden nun „offiziell“ zur Marschroute eines Teils der AnarchistInnen. In einer Zeit der modernen Kriegsführung der loyalen stehenden Heere in den sich industrialisierenden Ländern galt ihnen der Barrikadenkampf als obsolet. Stattdessen sollte ein sozialer Umbruch mit dem Mittel des „individuellen Terrors“, dem klassischen Tyrannenmord, unterstützt werden, in dem man mit der Liquidierung von Personen aus dem ersten Führungszirkel des Staates dessen Verwundbarkeit dokumentierte und somit hoffte, ein Zeichen des revolutionären Aufbruchs für die Arbeiterklasse setzen zu können. Most schreibt in Bezug auf Reinsdorf: „Reinsdorf (gewann) immer entschiedener die Überzeugung, das die revolutionäre Sache nur dann gefördert werden können, wenn die deutschen Arbeiter durch außerordentliche Ereignisse dem lähmenden Einfluss einer sich immer korrupter gebärdenden „sozialdemokratischen“ Bürokratie entrissen würden. Als Hauptmittel zu diesem Zweck betrachtete er die Propaganda des Tat“ (Most, J.: August Reinsdorf und die Propaganda der Tat, Bd. I, S. 42). Diese Position, die Most Reinsdorf hinsichtlich des zu führenden revolutionären Kampfes zuschreibt, darf auch als eine gelten, die für ihn selbst in seiner Zeit als Redakteur der „Freiheit“ in London bzw. im US-amerikanischen Exil charakteristisch war.
Most bezog auch zu der sich verstärkenden staatlichen Repression und ihren „positiven“ Auswirkungen für die revolutionäre Bewegung klar Stellung: „Solche Maßregeln haben in der revolutionären Bewegung stets einen guten Erfolg gehabt. Wankelmütige Geister drücken sie nieder und bewirken so deren Verschwinden, was natürlich von Vorteil ist, weil mit derartigen Leuten in ernsteren Momenten ja doch nichts anzufangen wäre. Gesunde Rebellennaturen aber werden durch die Schläge der Reaktion nur zu umso hartnäckigerem Kampfe angestachelt“ (ebd. S. 28). In dieser Schrift erreicht die Plakativität der Most’schen Ausführungen seinen Höhepunkt; er lässt keinen pathetischen Ausruf aus, um an das Erbe Reinsdorf zu erinnern: „Schwingen wir uns auf zur Höhe eines August Reinsdorf! Vollenden wir das Werk, das so kühn begonnen! Nur so allein können wir uns rächen; so allein können wir uns seiner würdig zeigen; so allein können wir siegen“ (ebd. Bd. II, S. 82). Most fordert alles Sentimentale im Kampf beiseite zu lassen und mahnt: „Vergessen wir niemals, dass die Revolutionäre der Neuzeit nur über Schutt und Asche, über Blut und Leichen ihren Einzug halten können in einer Gesellschaft von Freien und Gleichen“ (ebd.). Most proklamiert geradezu die – wie er selbst sagt – „Lynchjustiz“, die die Armen und Elenden hoffen lassen würde und endet in dieser Schrift mit dem Schlachtruf: „Der Brennstoff ist gehäuft. Proletarier, werft den zündenden Funken hinein! Hoch die Gewalt! Hoch lebe die soziale Revolution!“ (ebd. S. 83). In seiner Schrift „Die Eigentumsbestie“, die im US-amerikanischen Exil 1887 veröffentlicht wurde, erklärt er eben dieser „den unerbittlichen, unbarmherzigen und vollständigen Vernichtungskrieg“ (ebd. S. 36). Nach Most, der keinen Kraftausdruck auslässt, ist es reine Idiotie, wenn das Proletariat „seinen Todfeinden mit Petitionen, Abstimmungen u.dgl. Harmlosigkeiten Respekt einflößen“ (ebd. S. 36-37) will. Also keinerlei Rede mehr von einem Ausnutzen der repräsentativen Organe des Staates wie zu Zeiten als sozialdemokratischer Abgeordneter. Auch das babouvistische Motiv findet sich in den Aussprüchen Mosts wieder: „Die Revolution des Proletariats, der Krieg der Armen gegen die Reichen, ist der einzige Weg, der zur Erlösung führen kann“ (ebd. S. 39). Most sieht die kapitalistische Entwicklung an eine Grenze gekommen, danach „ist Alles für den Kommunismus reif“ (ebd. S. 43). Das, was nur noch fehlt, ist die Beseitigung der Gegner des Kommunismus, „die Kapitalisten und ihre Helfershelfer“ (ebd.).
Wir haben uns etwas ausführlicher mit Johann Mosts Werdegang befasst, da sich hier doch einige markante Brüche von einem moderaten sozialdemokratischen Agitator hin zu einem leidenschaftlichen Verfechter der „Propaganda der Tat“ nachzeichnen lassen. Uns ging es darum, fernab von irgendwelchen penetranten individualpsychologischen Spekulationen das oft sehr rudimentäre Bild von Most etwas zu vervollständigen. Er ist und bleibt eine der zugleich widersprüchlichsten und „schillerndsten“ Persönlichkeiten der sozialdemokratischen und anarchistischen Geschichte.
Die ersten, die die „Propaganda der Tat“ in einer Organisation zum Programm erhoben, waren die Narodniki (Volksfreunde, -tümler) im zaristischen Russland Ende des 19. Jahrhunderts. Das Problem, das sich bei der Darstellung der Narodniki zeigt, ist, dass es offensichtlich keine zusammenhängende Studie über diese revolutionäre Bewegung, die verschiedene Strömungen und konzeptionelle Ausrichtungen in sich vereinigt, gibt. Wir mussten demnach aus unterschiedlichen Quellen Fragmente über die legendenumwobenen Narodniki herausfiltern und diese (hoffentlich historisch korrekt) zusammenfügen. Grundsätzlich müssen zwei „Epochen“ der Narodniki deutlich voneinander unterschieden werden. Die erste Epoche umfasste den Zeitraum der 40er bis 60 er Jahre der 19. Jahrhunderts, in dem die Leibeigenschaft der Bauern, die formal erst 1861 aufgehoben wurde, und der Absolutismus des Zarismus zentrale Punkte des Aufbegehrens waren. Die wichtigsten Vertreter (Herzen, Belinski, Tschernyschewski, Dobroljubow) dieses revolutionären Demokratismus waren die Begründer einer materialistischen Geschichts- und Philosophieauffassung und opponierten gegen die idealisitschen und utopisch-sozialistischen Vorstellungen der damaligen Zeit. Diese Strömung „revolutionärer Demokratismus“ ist von Plechanow und Lenin als Vorläufer der marxistischen Bewegung in Russland anerkannt und gewürdigt worden, wobei faktisch alle revolutionären Spektren einen (Teil-)Anspruch auf das „Erbe“ von Herzen, Tschernyschewski und Co. erheben.
Die zweite Epoche der Narodniki mit ihren Vertretern Lawrow, Tkatschow, Michailowski setzte mit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ein, die ein idealistisches und slawophiles Gesellschaftsbild von Russland zeichneten und trotz des sich in Russland herausbildenden Kapitalismus (im Gegensatz zu den 40er-60er Jahren in Russland) meinten, die Phase des Kapitalismus überspringen zu können und umgehend einen „originären russischen Sozialismus“ auf Basis der traditionellen bäuerlichen Dorfgemeinschaft aufbauen zu können. In diesem zweiten Strang der Narodniki bildete sich eine „liberale“ und eine „individualterrorisitsche“ Linie heraus, die nach der fehlgeschlagenen weiter unten näher beschriebenen „geht-ins-Volk“-Kampagne organisatorische Formen annahm.
Dieser „individualterroristische“ Strang der Narodniki-Bewegung war zweifelsohne stark von den jakobinisch-blanquistischen Revolutionsvorstellungen Netschajews, Tkatschows und vor allem Bakunins beeinflusst, doch nahmen diese aufgrund ihres hohen Alters und Erkrankungen keinen direkten und persönlichen Einfluss auf die Praxis der Narodniki. Ein weiterer Umstand, warum die Narodniki-Bewegung nicht einfach als „bakunistisch“ spezifiziert werden kann, liegt in deren Praxis begründet. Die „Propaganda der Tat“ ist nicht deckungsgleich mit dem blanquistischen Ansatz des Aufstandes einer klandestinen Gruppe. Denn auch aus den diversen, fehlgeschlagenen Aufstandsversuchen ist es zu einem Paradigmenwechsel in der revolutionären Taktik gekommen. Die „Propaganda der Tat“ bzw. der „individuelle Terror“ wurden jetzt zum hauptsächlichen praktischen Mittel der RevolutionärInnen. Die Narodniki-Bewegung stützt sich zwar auf benennbare theoretisch Ansätze (Nihilismus) und aktivistische Vorläufer bzw. Stichwortgeber (Bakunin), sie weist aber dennoch eine eigene Spezifik und verschiedene „Flügel“ auf.
Das Wort „Narodniki“ ist dem russischen „w narod“, dem „ins Volk gehen“ entlehnt. Herzen (1812-1870), den Lenin als den Begründer des „russischen Sozialismus, der „Volkstümler“-Richtung (vgl.: Dem Gedächtnis Herzens, Vorwort in: Herzen, A.: Ausgewählte Philosophische Schriften, S. 9) ansah, hat 1861 in seinem von 1857 bis 1867 erscheinenden und einflussreichen Wochenblatt „Die Glocke“ („Kolokol“) einen Aufruf an von der Universität verwiesene Studenten gerichtet, der dieses „ins Volk gehen“ emphatisch fordert: „(…) dort ist euer Platz, ihr Vertriebenen der Wissenschaft, zeigt (…), dass ihr Kämpfer seid, aber nicht heimatlose Söldlinge, sondern Kämpfer des russischen Volkes!“ (zit. nach: Stökl, G.: Russische Geschichte, S. 574). Bakunin hat sich 1869 mit einem ähnlichen Appell an die Studenten gewandt (vgl. ebd. S. 574). Diese zum Teil stark patriotisch und slawophil angereicherten Appelle von den revolutionären russischen Emigranten wurden in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts nur vereinzelt befolgt. Die ideologischen Wurzeln des „Narodnitschestwo“ (des „ins Volk gehen“) lagen zum einen in der Romantisierung der regelmäßigen bäuerlichen Aufstände, so dass das Bauerntum als eine kommende revolutionäre Kraft beurteilt wurde und zum anderen in einer Idealisierung der bäuerlichen Dorfgemeinschaft, der „Mir“, die als ein Synonym für ein urkommunistisches egalitäres Gemeindeleben galt.
Diese ideologischen Wurzeln eines praktisch umgesetzten Agrarsozialismus gepaart mit der revolutionären Leidenschaft gegen alles Autoritäre wie es in Bakunins Schrift „Staatlichkeit und Anarchie“ zum Ausdruck kommt, bildeten das Fundament des „Narodnitschestwo“. Der idealisierende Blick Herzens auf die bäuerliche Gemeinschaftsstruktur in den russischen Weiten kommt exemplarisch in folgender Aussage zum Ausdruck: „Der russische Bauer kennt nur die Sittlichkeit, die sich instinktiv, natürlich aus seinem Kommunismus ergibt; diese Sittlichkeit ist tief im Volk verwurzelt“ (Herzen, A. I.: Ausg. Philosoph. Schriften, S. 506). Herzens Überlegungen kulminieren in dem revolutionären Ausspruch, dass „Die Befreiung der Bauern mit einer Befreiung des Bodens (verbunden ist); dass die Befreiung des Bodens ihrerseits den Beginn einer sozialen Revolution darstellt, die Verkündigung des Dorfkommunismus“ (ebd., S. 509). Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass Herzen diese positive Bezugnahme auf „das russische Dorf“ vor dem sozio-ökonomischen Hintergrund der Leibeigenschaft, des Absolutismus und des nicht einmal embryonal existierenden Kapitalismus machte. Dies unterschied ihn von den rückwärtsgewandten Positionen der „zweiten Epoche“ der Narodniki, die den idealisierten „Mir“ in der Phase des unaufhörlichen Einzugs kapitalistischer Verhältnisse zu konservieren versuchten.
Auch die anderen bekannten „revolutionären Demokraten“ der ersten und zweiten Stunde, die bereits oben kurz erwähnten Belinski (1811-1844), Tschernyschewski (1828-1889) und Dobroljubow (1836-1861), galten den Bolschewiki als Verfechter einer demokratischen Revolution und Begründer einer russischen Schule der materialistischen Philosophie, die sich den Kampf gegen den zaristischen Absolutismus und die Leibeigenschaft der Bauern auf ihre Fahne geschrieben hatte. Dennoch wird von Plechanow, Lenin und anderen nicht unterschlagen, dass die Angehörigen der Generation der „revolutionären Demokraten“ alle verschlungene ideologisch-biographische Pfade betreten haben und so mancher „Rest“ an idealistischen, utopisch-sozialistischen (sog. russischer Bauernsozialismus) Elemente in ihren Schriften zu finden ist. Dies erklärt sich schlicht aus der Tasache, dass der „revolutionäre Demokratismus“ eine Etappe auf dem Weg zum „wissenschaftlichen Sozialismus“ und nicht dieser selbst ist. Der „revolutionäre Demokratismus“ der 40er bis 60er des 19. Jahrhunderts wurde primär von Intellektuellen getragen, die einen ausgeprägten Bezug zu den pauperisierten Volksmassen Russland theoretisch und praktisch herstellten und in einer aufgewühlten sozialen Situation agierten. Sie unterschieden sich in diesen Punkten von der ersten rebellischen Erhebung des 19.Jahrhunderts in Russland, der sog. Dekabristen-Revolte von 1825 (einfach nach dem Aufstandsdatum vom 14. Dezember benannt). Die Dekabristen rekrutierten sich vor adligen Offizieren mittlerer Ränge, waren ohne „Volksbezug“ und votierten in relativ entspannten gesellschaftlichen Umständen über das Mittel des Militärputsches für eine Art konstitutionelle Monarchie.
Die Vertreter des „revolutionären Demokratismus“ bedienten sich vor allem der damals prädestinierten Transportmittel für oppositionelle Anschauungen, der Publizistik und Literaturkritik. Das heißt nicht, dass sie ihre Gedankengänge intellektuell verklausulierten; Belinski, der im Gegensatz zu Herzen frei von jeglichen slawophilen Anflügen und von den frühen Marx/Engels Schriften beeinflusst war, erkannte eine direkte Verbindung zwischen der „Idee des Sozialismus“, der „Idee der Ideen“ (Belinski, W.G.: Ausg. Philosophische Schriften, S. 181) und einer gewaltsamen sozialen Umgestaltung. Er schreibt hinsichtlich des Ereichens des Sozialismus, dass „es jedoch lächerlich (ist), auch nur daran zu denken, dass das von selbst geschehen könnte, mit der Zeit, ohne gewaltsame Umwälzung, ohne Blutvergießen.“ (ebd. S. 188). Ebenso in den Schriften der Schüler und Nachfolger von Belinski und Herzen – Dobroljubow und Tschernyschewski – spiegelt sich ihre fundamentaloppositionelle Grundhaltung gegenüber dem damaligen erdrückenden gesellschaftlichen Ist-Zustand wider. Dobroljubow, der im Gegensatz den anderen Vertretern des „revolutionären Demokratismus“ die Möglichkeit, über das kapitalistische Stadium zum Sozialismus zu kommen nicht ausschloss, wandte sich entschieden gegen ein sklavisches Dasein. Er ruft pathetisch aus: „Wir brauchen Helden und Befreier (…) wir sind ein Herrscher-, kein Sklavenvolk“ (Dobroljubow, N. A.: Ausg. Philosoph. Schriften, S. 503). In diesem Kontext verweist er auf die unterdrückerische Rolle des „inneren Feindes“: „Ja, nach außen sind wir geschützt, und wenn auch ein Kampf von außen her kommen sollte, können wir ruhig sein (…) Aber haben wir denn wenige innere Feinde? Bedarf es etwa nicht des Kampfes gegen diese Feinde, und ist für diesen Kampf kein Heldenmut erforderlich? (…) Wo aber sind bei uns Menschen, die zu Taten fähig sind? (…) entweder dieser Idee zum Siege verhelfen oder sterben?“ (ebd.). Weiter konkretisiert er, dass „der auswärtige Feind, der privilegierte Unterdrücker, viel leichter überrumpelt und besiegt werden (kann) als der innere Feind, der in tausend Gestalten überall verbreitet ist, unauffindbar und unverletzlich, der (…) uns keine Möglichkeit gibt, im Kampfe Atem zu holen und Umsicht zu üben. Diesem inneren Feind gegenüber kann man mit den gewöhnlichen Waffen nichts ausrichten, man kann sich von ihm nur befreien, wenn man die feuchte, neblige Atmosphäre unseres Lebens, in der er gekeimt, aufgewachsen und stark geworden ist, verändert und sich mit einer Luft umgibt, in der er nicht mehr atmen kann“ (ebd. S. 504). Hier handelt es sich doch um einen schönen, poetischen Aufruf zur Revolution.
Ähnliche Aussagen finden wir auch bei Tschernyschewski, der aufgrund seiner Lebensdauer und publizistischen Tätigkeit als der ideologisch ausgereifteste „revolutionäre Demokrat“ gilt, der den „Höhepunkt der vormarxistischen materialistischen Philosophie“ (Vorort, Tschernyschewski, N.G.: Ausg. Philosoph. Schriften, S. 47) bildet, und dessen Werke, wie Lenin sagt, „den Geist des Klassenkampf atmen“ (zit. nach ebd. S. 52). Dieser Klassenkampfgedanke bei Tschernyschewski kommt sehr gut in folgender Passage zum Vorschein: „Soll es ruhig zur Unterdrückung einer Klasse durch die andere kommen, dann gibt es Kampf, dann begreifen die unterdrückten, dass sie bei der bestehenden Ordnung der Dinge unterdrückt sind, dass es aber eine andere Ordnung der Dinge geben kann, bei der sie nicht unterdrückt sein würden; sie werden begreifen, dass nicht Gott sie unterdrückt, sondern Menschen; dass sie weder auf Gerechtigkeit noch auf sonst etwas zu hoffen haben und des es unter ihren Unterdrückern niemanden gibt, der für sie eintritt“ (ebd. S. 21).
Aufgrund des romantizistischen und agrarsozialistisch-bäuerlichen Bezugs stand die sich in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts „anarchisierende“ Narodnikibewegung in einem ideologischen Gegensatz zu dem sich auf das aufkommende Industrieproletariat als künftige treibende Kraft der Revolution beziehenden Marxismus. Dieser sich organisatorisch formierende Marxismus fand in der Gründung der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ von Georgi Plechanow (1856-1918) 1883 seinen Ausdruck. Ein weiterer Meilenstein neben dieser Organisation von sozialdemokratischen russischen Exilanten bildete im Jahre 1895 die Verschmelzung verschiedener marxistischer Arbeiterzirkel zum „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“ in St. Petersburg unter der Ägide Lenins. Diese organisatorischen Zusammenhänge stellten den Kern der 1898 gegründeten sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, der späteren KPdSU (B), dar.
Plechanow, wie alle Gründungsmitglieder der Gruppe „Befreiung der Arbeit“, kam aus der Narodniki-Bewegung, distanzierte sich aber im Laufe seiner politischen Laufbahn von jener und wurde ihr erster bedeutender marxistischer Kritiker. Plechanow verwarf sowohl die Taktik „blanquistischer“ Verschwörungen als auch die „Propaganda der Tat“ mit deutlichen Worten. Beiden von anarchistischen Kreisen bevorzugten Taktiken stellte er die Marx’sche Lehre vom revolutionären Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie entgegen: „Wir glauben nicht…“ schrieb Plechanow, „an jene eigenartige Theorie, nach der die Sache einer gewissen Klasse „in größerem oder kleinerem Maße“ durch einen Zirkel vollbracht werden kann“. „die Befreiung der Klasse muss ihre eigene Angelegenheit sein, und (…) sie muss zur Durchführung dieser Sache eine politische Erziehung erlangen, die Ideen des Sozialismus begreifen und sich zu eigen machen“ (zit. nach: Fomina, W:A:: Die philosophischen Anschauungen G:W. Plechanows, S. 60). In dem „individuellen Terror“ sieht er vor allem eine Überhöhung der heroischen Taten einzelner und eine Geringschätzung bzw. Negierung der Handlungen der Volksmassen: „Wer hat die Bastille zerstört? Wer kämpfte auf den Barrikaden im Juli 1830 und im Februar 1848? (…) Das Volk, das Volk und nochmals das Volk, das heißt die ärmste, werktätige klasse, das heißt vor allem die Arbeiter (…)“ (ebd. S. 78). In den Akten der „Propaganda der Tat“ konnte er im Grunde nur eine Dienstleistung an die Reaktion erkennen, die sich der „Ruhe und Ordnung“ wegen noch repressiver zeigen konnte: „Es braucht nicht erst gesagt zu werden, dass die Bourgeoisieregierungen, so scharf sie auch mit den Verübern der Attentate verfahren mögen, sich ob deren Taktik nur gratulieren könne. „Die Gesellschaft ist in Gefahr!“ Und die Polizei-“Konsuln“ handeln, während die öffentliche Meinung allen reaktionären Maßregeln, die die Minister behufs Rettung der Gesellschaft aushecken, Beifall klatscht“ (Plechanow, G: Anarchismus und Sozialismus, S. 76-77):
Die narodnikische „geht ins Volk“- Kampagne wurde erst im sog. „verrückten Sommer“ 1873 massenhaft unterstützt. Die Initiative ging von einigen bestehenden revolutionären Gruppierungen innerhalb und außerhalb der Universitäten aus, aber eine Gesamtorganisation, die diese Kampagne koordinierte, gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Bis auf die Formel „geht ins Volk“, um dort zu agitieren und unter des (bäuerlichen) Bevölkerung ein revolutionäres Bewusstsein nach und nach auszubilden, bleiben die Methoden des politischen Kampfes und die programmatischen Zielsetzungen uneinheitlich. Viele Emigranten unterschiedlicher politischer Couleur kehrten aus der Schweiz, wo aufgrund der „revolutionären Umtriebe“ das Auslandstudium verboten wurde, nach Russland zurück und machten sich sofort auf den Weg zur Bauernschaft (einschließlich Kropotkin) (vgl. Stökl, G.: Russische Geschichte, S. 574f.).
Die unterschiedlichen theoretischen und praktischen Ansätze, die sich innerhalb der sich strukturierenden Narodniki-Bewegung sammelten, führten sehr bald zu einem Grundsatzkonflikt zwischen den AnhänderInnen Bakunins, den „Aufrührern“, und den AnhängerInnen Lawrows, den „Vorbereitern“. Lawrow (1823-1900), der im Gegensatz zu Bakunin direkten Einfluss auf die Ausrichtung der Narodniki nehmen konnte und zu derem liberalen Flügel zählte, war ein vehementer Befürworter der langandauernden Überzeugungs- und Bildungsarbeit unter den pauperisierten Massen. Er wendete sich gegen die flammenden Revolutionsaufrufe im Stile Bakunins. Der revolutionäre Akteur, so forderte Lawrow, „muss die veraltete Auffassung hinter sich lassen, dass dem Volk die revolutionären Ideen aufgezwungen werden können, die eine kleine Gruppe der weiter entwickelten Minderheit ausgearbeitet hat“ (zit. nach ebd. S. 577). Zudem betonte Lawrow mit Nachdruck, das nicht ein Austausch der Machteliten das Ziel sein kann, und sich die Revolutionäre ausschließlich als Vollstrecker der Volksinteressen zu begreifen hätten (vgl. ebd, S. 577).
Dieser Lawrow’sche Ansatz war zunächst die Leitlinie der 1876 gegründeten Narodniki-Organisation „Semija i Wolja“ („Land und Freiheit“) (bereits Anfang der 60er Jahre soll eine Gruppe mit diesem Namen existiert haben, deren genaue ideologische Ausrichtung und Zusammensetzung aber weitgehend unklar ist, vgl. Wood, A.: Die Vorgeschichte der Russischen Revolution, S. 32). In dieser Zeit wurden zwar Attentate gegen Spitzel und besonders repressive Bullen durchgeführt, aber diese Aktionen hatten mehr den Charakter des unmittelbaren Selbstschutzes, um überhaupt die breit gefächerte Agitationsarbeit gewährleisten zu können, als das der „individuelle Terror“ zu einem revolutionären Prinzip erhoben worden wäre. In den Jahren 1877 und 1878 kam es zu vielen Verhaftungen von vermeintlichen Narodniki-AktivistInnen und zu Massenprozessen. Die hohe Zahl der Verhaftungen schwächten einerseits die Struktur, andererseits boten die Prozesse eine öffentliche Plattform, um an die Bevölkerung zu appellieren.
Der bedeutendste Prozess war der gegen Wera Sassulitsch im April 1878. Sie hatte bei einem Attentatsversuch den Petersburger Stadtkommandanten, der wegen seiner Repressionsmethoden berüchtigt war, verletzt. Diese Aktion gilt als der Auftakt des „individuellen Terrors“ der russischen Narodniki (vgl. Schröder, D.: Terrorismus. Gewalt mit politischem Motiv, S. 32). Entscheidend in diesem Prozess war, dass dieser nicht wie die anderen vor einem Sondergerichtshof, sondern vor einem Geschworenengericht in öffentlicher Verhandlung geführt wurde. Noch erstaunlicher war die Tatsache des Freispruchs für Wera Sassulitsch, nachdem die Einzelheiten der zaristischen Repression u.a. in den Gefängnissen allen Prozessbeteiligten vor Augen geführt wurden. Die Narodniki wurden durch diesen Prozessausgang in den Eindruck bestärkt, dass ein Großteil der Gesellschaft hinter ihnen stehen würde (Stökl, G.: Russische Geschichte, S. 578-579).
Hierdurch gestärkt wurden Angriffe gegen die neuerlichen Repressalien intensiviert und es wurde die Illusion genährt, dass die Beseitigung des Autokraten ausreichen würde, um die Revolution zu vollbringen. Es zeigte sich allerdings, dass die Narodniki ein ideologisch und klassenspezifisch äußerst heterogenes und fragiles Gebilde waren. Die internen Spannungen über die Frage des Einsatzes und Ausmaßes der „Propaganda der Tat“ nahmen im Verlauf des Jahres 1879 derart zu, dass es zu einer Spaltung kam und aus der „Smeija i Wolja“ die „Narodnaja Wolja“ („Volkswille“) hervorgegangen ist. In ihr organisierten sich die radikalsten >Verfechter der Idee der „Propaganda der Tat“. Die „Narodnaja Wolja“ verständigte sich zwar auf ein gemeinsames Aktionsprogramm gegen die Autokratie, wie aber konkret eine Gesellschaft zu revolutionieren sei, blieb völlig unterbelichtet. Dazu kam, dass mit der Vereinheitlichung der Aktionsmethode nicht eine größere Homogenität bezüglich der Klassenherkunft und der ideologischen Positionen zustande kam. Es lag eine zum Teil große Diskrepanz zwischen der Aktionsmethode und den kaum artikulierten gesellschaftspolitischen Forderungen vor, so dass die Narodniki oft als „Liberale mit Bombe“ karikiert wurden. Diejenigen, die diese Konzentrierung auf die „Propaganda der Tat“ ablehnten und weiterhin an den bisherigen Methoden der Bildung und Aufklärung festhielten, nannten sich „Tscherni Peredel“ („Schwarze Umfellung“) (vg. Ebd. S. 579).
Der spektakulärste Erfolg der „Narodnaja Wolja“ war das tödliche Attentat gegen Zar Alexander II. am 13. März 1881, der zuvor drei Attentatsversuchen aus den Jahren 1879 und 1880 entgangen war. Mal schlug ein Revolverattentat fehl, mal versagte die Zündung einer Mine und ein weiteres Mal explodierten 50 Kilogramm Dynamit in seiner Abwesenheit unter seinem Bett (vgl. Uthmann, J. v.: Attentat. Mord aus gutem Gewissen, S.99-100). Das Attentat von 1881 fiel eigentlich in die Phase des Niedergangs der „Narodnaja Wolja“, die vor allem durch Verhaftungen und Repression, aber auch durch verstärkte „Liberalisierungsbemühungen“ der Autokratie an Boden verlor. In einem Anschlagsmanifest wurde die Tat zum einen damit begründet, dass Zr Alexander II. die Not der pauperisierten Volksmassen ignorierte und zum anderen seiner moderierenden Führungsfunktion nicht gerecht wurde. In dem Text heißt es folgendermaßen: „Der Tyrann Alexander wurde von uns, den Sozialisten beseitigt. Er musste sterben, weil ihm sein Volk gleichgültig war. Er erdrosselte es mit Steuern. Dem Bauern stahl er das Land; die Arbeiter überließ er Plünderern und Ausbeutern. Die Tränen des Volkes ließen ihn kalt. Er interessierte sich nur für die Reichen. Ein Zar sollte ein guter Hirte sein, der sich um seine Herde kümmert. Alexander II war ein reißender Wolf (…)“ (zit. in: ebd. S. 101). Bei der Liquidation kam einer der Bombenwerfer ums Leben, die anderen fünf Tatbeteiligten wurden mit Ausnahme einer schwangeren jüdischen Aktivistin hingerichtet. Sie starb während der Geburt im Knast. Ihre Beteiligung wurde u.a. für die einsetzende, antisemitische Pogromwelle instrumentalisiert, die von der Politik des neuen Zaren Alexander III gedeckt, wenn nicht gar befördert wurde (vgl. Stökl, G.: Russische Geschichte, S. 581). Unter den hingerichteten für das Attentat gegen Zar Alexander II. befand sich auch die Tochter des Generalgouverneurs von St. Petersburg, die nach der Festnahme eines anderen führenden Narodniki zur Kommandantin des Anschlags wurde (vgl. Uthmann, J. v.: Attentat. Mord aus gutem Gewissen, S. 100-101). Dies verdeutlicht, dass die Narodniki-Bewegung bis in die autokratischen Spitzen hinein über SympatisantInnen und AktivistInnen verfügte. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass neben Zar Alexander II vier weitere der insgesamt 18 Zaren der Romanow-Dynastie eines nicht natürlichen Todes starben (vgl. ebd. S. 97).
Die „Narodnaja Wolja“ war nie eine Massenbewegung, die zu ihrer Hochzeit etwa 500 Mitglieder gehabt haben soll. Ihr organisatorischer Kern, das Exekutivkomitee soll aus 32 Frauen und Männern bestanden haben (vgl. ebd. S. 100). Der Niedergang der „Narodnaja Wolja“ fiel mit der organisatorischen Ausbildung des Marxismus in Russland zusammen: 1883 wurde von Plechanow, wie gesagt, die Organisation „Befreiung der Arbeit“ gegründet. Bereits ein Jahr nach dem Attentat auf Alexander II befand sich nur eine Angehörige des obersten Organs der „Narodnaja Wolja“, dem erwähnten Exekutivkomitee auf freiem Fuß. Sie wurde 1883 gefasst, und damit war die erste Generation der „Narodnaja Wolja“ völlig von der politischen Bildfläche verschwunden. Verschiedene Nachfolgegruppen versuchten an dieses Erbe unmittelbar anzuknüpfen, blieben aber bei weit weniger Resonanz (vgl.: Hoffmann, B.: Terrorismus. Der unerklärte Krieg, S. 21). Die letzten Restbestände narodnikistischer Strukturen versuchten 1887 Alexander III. dasselbe Schicksal widerfahren zu lassen wie seinem Vater. Das Attentat scheiterte und die „Verschwörer“ wurden hingerichtet. Unter den Hingerichteten befand sich auch Lenins älterer Bruder, der eine narodnikistische Studentengruppe an der Petersburger Universität angeleitet haben soll.
Mit der Gründung der Partei der Sozialrevolutionäre (PSR) in der Jahreswende 1901/1902(andere Quellen sprechen vom Gründungsjahr 1900 in der ukrainischen Stadt Charkow), in der sich verschiedene sozialrevolutionäre Gruppierungen vereinigten, sollte eine politische Organisation die politische Bühne betreten, in der sich nicht nur alte Narodniki sammelten, sondern auch die Methode des „individuellen Terrors“ ihre Renaissance erleben sollte (sog. Neo-Narodniki). Die Vereinheitlichung der sozialrevolutionären Vereinigungen erfolgte nicht auf der Basis eines Programms oder Manifestes, sondern unter der Losung „Zurück zu den 70ern!“. Mit diesem Bekenntnis wurde die Kontinuität zwischen den „Alt-Narodniki“ der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts und den modernisierten theoretischen Grundsätzen der „Neo-Narodniki“ versucht zu dokumentieren. Ein Programm gab sich die PSR erst beim ersten Parteitag Ende 1905/Anfang 1906 (vgl.: Striegnitz, S.: Bauernsozialistische Ideen in Russland: Viktor M. Tschernow, In: Vielfalt sozialistischen Denkens, Ausgabe 5, S. 12). Die programmatischen Grundlagen des „Neo-Narodnikismus“ wurden von ihrem fähigsten Kopf und Parteitheoretiker, Viktor M. Tschernow (1873-1940), formuliert, so auch die zentrale Aussage, dass die PSR „eine Abteilung der Armee des internationalen Sozialismus“ (zit. nach ebd. S. 7) sei. Die PSR war seit 1904 neben der SDAPR Mitglied der II. Internationale. Das sozialrevolutionäre Spektrum war trotz des Fusionsproduktes PSR fragmentiert. Die PSR musste im Herbst 1906 sowohl linke (Bund der Sozialrevolutionäre-Maximalisten) als auch rechte (Volkssozialistische Partei) Abspaltungen verkraften. Diese organisationsinterne und programmatisch-inhaltliche Fragilität begeleitete die PSR in ihrer Geschichte durchgängig. Nach der Oktoberrevolution im November 1917 kulminierten die Spannungen innerhalb der PSR in der organisatorischen Eigenständigkeit des linken Flügels zur Partei der linken Sozialrevolutionäre (PLSR) (vgl.: Hildermeier, M.: Die russische Revolution 1905-1921, S. 251).
Aber zurück zu Tschernow und der Positionierung der PSR: Die Partei der Sozialrevolutionäre hatte eine große AnhängerInnenschaft in der russischen Bauernschaft und nahm sich aufgrund dessen hauptsächlich der Agrarproblematik an. Analog zu den „alten“ Narodniki verstanden die Sozialrevolutionäre die soziale Revolution in einer besonderen sozio-kulturellen Weise. Der Sprung in die kapitalistische Barbarei könne Russland erspart bleiben, da dort die kollektive Verwaltung der Produktionsmittel durch die Tradition der dörflichen Selbstorganisierung verwurzelt sei. Die Sozialisierung des Bodens und die revolutionäre Aufhebung der Divergenz von Stadt und Land gehörten für die PSR zu den Grundsatzfragen eines revolutionären Prozesses unter potentieller Umgehung des Stadiums des Kapitalismus. In der sozialrevolutionären Theorie gab es keine feste Abfolge von gesellschaftlichen Stufen, die Russland zwangläufig zu durchlaufen hätte, um das Zeitalter des Sozialismus einläuten zu können. Tschernow erkannte zwar die sozio-ökonomischen Veränderungen Russlands seit der Hochphase der „alten“ Narodniki-Bewegung in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts an und übernahm Aspekte der Marx’schen ökonomischen Analyse und Klassentheorie. Er verneinte aber den geschichtlichen Selbstlauf der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und die alleinige „historische Mission“ des Proletariats. Tschernow orientierte sich vielmehr an der „subjektiven Soziologie“ von Lawrow, wonach der gesellschaftliche Motor der Veränderungswille des „schöpferischen Individuums“ sei, wie sehr dieses auch immer durch materielle und soziale Bedingungen stimuliert wurde (vgl. ebd. S. 37-38). Tschernow prägte in diesem Zusammenhang das Konstrukt der „dreieinigen Klasse“ (Proletariat – Bauernschaft – Intelligenz).
Dieser Klassenstandpunkt und die Verneinung hinsichtlich der dialektischen Abfolge von Gesellschaftsformationen führten zu einer Positionierung, die nach dem gewaltsamen Sturz der Autokratie einen evolutionären Weg zum Sozialismus programmatisch prognostizierte. Das Erreichen des Fernziels Sozialismus könne nach dem Nahziel der Zerschlagung der zaristischen Selbstherrschaft ohne eine weitere Umwälzung möglich sein. Der Aufbau einer egalitären, genossenschaftlichen Gesellschaft gestützt auf die Sozialisierung des Bodens und der tradierten emanzipatorischen Potenziale der bäuerlichen Obschtchina erschien der PSR als Option, ohne eine explizit sozialistische Revolution auf der sozio-ökonomischen Grundlage etablierter kapitalistischer Verhältnisse auszukommen (vgl. Striegnitz, S.: Bauernsozialistische Ideen in Russland: Viktor M. Tschernow, S. 16).
Die PSR übernahm von den „alten“ Narodniki die Kampfmethode des „individuellen Terrors“. Bis zum Jahr 1908 galten dieser Kampfmethode in organisatorischer und finanzieller Hinsicht die Hauptanstrengungen der Partei. Zu diesem Zweck wurde innerhalb der PSR eine „Kampforganisation“ gebildet, die für Attentate verantwortlich war und über einen autonomen Status verfügte, der soweit reichte, dass diese nicht einmal dem ZK der Partei rechenschaftspflichtig war. Tschernow hatte maßgeblich die Relevanz des „individuellen Terrors“ in dem Artikel „Das terroristische Element in unserem Programm“ betont und dafür gesorgt, dass das Bekenntnis zu dieser Kampfmethode zum Programm erhoben wurde (vgl. ebd. S. 19).
Als 1908 bekannt wurde, dass das ZK-Mirglied der PSR und Leiter der konspirativen „Kampforganisation“ J.F. Asef, langjähriger Agent der zaristischen Geheimpolizei Ochrana war, löste dies eine schwere Parteikrise aus, die Tschernow vorübergehend seinen ZK-Posten kostete (vgl. ebd. S. 21). Diese und andere Enttarnungen von Ochrana-Leuten in den Reihen bzw. höchsten Stellen der PSR machten es Kritikern des „individuellen Terrors“ leicht, nicht nur von einer von den Volksmassen losgelösten Methode zu sprechen, sondern von einer, die vom autokratischen Apparat kontrolliert wird. In der Literatur finden sich zwei markante Beispiele von sozialrevolutionären Attentätern, denen man gleichzeitig Ochrana-Agentenschaft nachweisen konnte. Sowohl Bogrow, der 1911 Stolypin liquidierte, als auch der erwänhte Asef, der 1904 für das Attentat auf Plehve verantwortlich war, sollen als Ochrana-Leute Teil eines (Geheimdienst-)Komplotts gewesen sein (vgl. Uthmann, J. v.: Attentat. Mord aus gutem Gewissen, S. 105-106).
Im Gegensatz zur alten „Narodnaja Wolja“ war die Politik der Sozialrevolutionäre, was die Gründung einer Partei bereits nahe legt, allerdings nicht auf die „Propaganda der Tat“ reduziert. Diese Aktionsmethode sollte andere (wie urbane Unruhen, Bauernrevolten, Demonstrationen) lediglich ergänzen und die Revolutionierung der Massen unterstützen. Auch die Sozialrevolutionäre stehen für eine Reihe von Attentaten gegen Angehörige der Autokratie und des zaristischen Militärs. Die spektakulärsten waren die gegen die Innenminister Siplagin 1902 und Plehve 1904, gegen den Generalgouverneur von Moskau Sergej 1905 sowie die Liquidation des ehemaligen langjährigen Ministerpräsidenten Stolypin 1911 (vgl. Schröder, D: Terrorismus. Gewalt mit politischem Motiv, S. 25). Bereits einige Wochen nach seinem Amtseintritt im Jahre 1906 wurde auf seine Datscha ein Bombenanschlag verübt, bei dem zwei seiner Kinder verletzt wurden. Stolypin repräsentierte die bekannte Janusköpfigkeit zwischen einem gewissen sozialpolitischen Liberalismus (rechtliche Gleichstellung von Bauern und Stadtbewohnern) und einer Effektivierung des Repressionsapparates (die Reihen der sozialrevolutionären AktivistInnen lichteten sich aufgrund der repressiven Maßnahmen erheblich) (vgl. Uthmann, J. v.: Attentat. Mord aus gutem Gewissen, S. 104).
Die dritte Phase des „individuellen Terrors“ entwickelte sich nach der Oktoberrevolution. In diesem Zeitraum waren die Machtbasen der Bolschewiki noch sehr dünn und die Sozialrevolutionäre verfügten bspw. Im ersten Allrussischen Kongress der Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten (Juni 1917) über satte Mehrheiten (von den 822 Abgeordneten, die über ein volles Stimmrecht verfügten, votierten 285 für die PSR, 248 für die Menschewiki und nur 105 für die Bolschewiki, der Rest verteilt sich auf AnhängerInnen kleiner Gruppierungen). Aber im Zuge der Stabilisierung, Machterweiterung und vor allem der politischen Anerkennung der Bolschewiki in der Bevölkerung kehrte sich das Machtverhältnis zwischen der Februarrevolution und der Oktoberrevolution von 1917 in den Sowjets zugunsten der Partei Lenins um. Die kooperierenden Sozialrevolutionäre und Menschewiki beteiligten sich neben ihrer Arbeit in den Sowjets auch aktiv in der zweiten provisorischen Regierung unter dem kadettischen Ministerpräsidenten Fürst Lwow. Insgesamt übernahmen Menschewiken und Sozialrevolutionäre verschiedener Organisationen sechs von fünfzehn Ressorts; Tschernow wurde Landwirtschaftsminister. Die letzte Provisorische Regierung vor der Oktoberrevolution der Bolschewiki bestand ausschließlich aus menschewistischen und sozialrevolutionären Kabinettsmitgliedern unter der kurzlebigen Regentschaft Kerenskis, der der gemäßigt-sozialrevolutionären Organisation Trudowik angehörte (hinsichtlich des gesamten Prozesses, der zur Oktoberrevolution führte vgl. Hildermeier, M: Die Russische Revolution 1905-1921).
In dieser Zeit des Kampfes um die Hegemonie in der jungen Sowjetunion fielen die sozialrevolutionären Attentate gegen zum Teil hohe Kader der Bolschewiki. Selbst Lenin wurde 1918 durch ein Revolverattentat der Sozialrevolutionärin Dora Kaplan schwer verletzt. Des Weiteren töteten sie am 6. Juli den deutschen Botschafter Graf Mirbach, um Lenins Bemühungen den I. Weltkrieg zu beenden (Friedensvertrag von Brest-Litowsk) zu torpedieren (vgl. Uthmann, J. v.: Attentat. Mord aus gutem Gewissen, S. 27). Das Attentat auf Graf Mirbach war als Fanal für den am6. und 7. Juli 1918 geprobten Aufstands- bzw. Putschversuch der linken Sozialrevolutionäre von der PLSR gedacht. Die linken Sozialrevolutionäre, die bis zu diesem Zeitpunkt mit den Bolschewiki in den Sowjets oder im Rat der Volkskommisare partnerschaftlich zusammenarbeiteten, wollten mit diesem „unbeholfenen Aufstand“ (Hildermeier, M: Die Russische Revolution 1905-1921, S. 286) gegen die Kriegsbeendigungspolitik Lenins und agrarpolitischen Maßnahmen der Bolschewiki opponieren. Dieser politisch und sozial isolierte „Aufstand“ fiel schnell in sich zusammen und war weniger bedrohlich, als die imperialistischen Interventionen oder die weißgardistischen Konterrevolutionäre um Denikin, Wrangel oder Kolschak. Aus Protest gegen diesen Umsturzversuch einiger Teile der PLSR spalteten sich von dieser zwei Gruppierungen (Volkstümler-Kommunisten und Revolutionäre Kommunisten) ab, die später in der bolschewistischen KPR(B) aufgingen (vgl. Lenin, Werke 28 S. 519).
VI. Aspekte einer kommunistischen Militärtheorie und -politik in den Schriften von Wilhelm Weitling, Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht und August Bebel
Die miliär- und revolutionstheoretischen Überlegungen der sich formierenden kommunistischen Kräfte begann natürlich nicht mit Marx und Engels. Wilhelm Weitling (1808-1871), der als Schneidergeselle einen proletarischen Hintergrund aufwies, verfasste 1838 die erste deutsche kommunistische Programmschrift unter dem Titel „Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte“. Er gilt als einer der einflussreichsten „vormarxistischen“ Agitatoren. Diese Programmschrift des Bundes der Gerechten (weiter unten mehr zu dieser Vereinigung und deren Vor- und Nachläufern) erschien vor den wichtigen Frühschriften von Marx und Engels und bildete neben der Weiling’schen Schrift „Garantien der Harmonie und Freiheit“, die Ende 1842 herausgegeben wurde, die theoretische Basis des sog. deutschen Arbeiterkommunismus. Dieser Arbeiterkommunismus „forderte die revolutionäre Beseitigung des Privateigentums und die Schaffung einer neuen, auf Gütergemeinschaft beruhenden kommunistischen Gesellschaft und orientierte die Arbeiter darauf sich aus eigner Kraft zu befreien“ (Autorenkollektiv: Diesem System keinen Mann und keinen Groschen. Militärpolitik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1830 bis 1917, S. 17). Mit seinem Hauptwerk „Garantien der Harmonie und Freiheit“ machte Weitling „einen entscheidenden Schritt vom bürgerlichen zum proletarischen Sozialismus, indem er erkannte, dass allein die Arbeiterklasse den Kapitalismus beseitigen und die sozialistische Gesellschaft errichten kann. Mit diesen proletarisch-revolutionären Ansichten ging er über die Lehren der englischen und französischen utopischen Sozialisten weit hinaus, wenn er auch im Grunde den Utopismus nie überwand und die Stufe der wissenschaftlichen Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklung nicht erreichte“ (Kaufhold, B.: Wilhelm Weiting, in: Hahn, M.: Vormarxistischer Sozialismus, S. 284-285).
Der Weitling’sche Ansatz des sog. Arbeiterkommunismus wird deshalb von vielen WissenschaftlerInnen als „vor-marxistisch“ (ab)qualifiziert, weil in seinen Ausführungen zum einen die ökonomischen Bewegungsgesetze noch nicht erfasst wurden und zum anderen die Begründung des Kommunismus sehr stark ethisch unterfüttert war. Für Weiting stand mehr die Subsistenzfrage der gesamten pauperisierten Massen im Zentrum als die Lohnarbeit des Industrieproletariats. Weitling formulierte das folgendermaßen: „Unser Prinzip aber ist das Interesse der zahlreichsten und ärmsten Klassen“ (Weitling, W.: Garantien der Harmonie und Freiheit, S. 258). Die Bezugnahme Weitlings auf das „Lumpenproletariat“ und die „städtischen Unterschichten“ wird von anderen Autoren als „eine realistische Einschätzung der Klassenzusammensetzung des Frühproletariats“ (Meyer, A.: Weitlings sozialrevolutionäre Konzepte, in: Knatz, L./Marsiske, H-A: Wilhelm Weitling. Ein deutscher Arbeiterkommunist, S. 175) in der Zeit des Vormärz interpretiert. Dieser adäquate Ausdruck der sozialrevolutionären Bestrebungen in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurde lt. Meyer erst durch die Übernahme der marxistischen Programmatik durch den Bund der Kommunisten auf den Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital verkürzt (vgl. ebd. S. 179). Diese politischen Ansätze waren insbesondere für marxistische HistorikerInnen eine „Nahtstelle zum Voluntarismus und politischen Abenteuertums“ (vgl. Seidel-Höppner, W: Wilhelm Weitling: Leben und Werk – eine optimistische Tragödie, ebd. S. 46).
Darüber hinaus äußert sich die Kritik an Weitling darin, dass er den Kommunismus quasi als naturrechtlichen Begriff verwendet uns seine Theorie zum Teil als ein „Religionsersatz“, vor allem in seiner religionskritischen Schrift „Das Evangelium des armen Sünders“, erscheinen lässt. „Der Arbeiterkommunismus gelangt zu keinem dialektisch-materialistischen Geschichtsverständnis, zu keiner ökonomischen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und folglich zu keinem wissenschaftlichen Kommunismus“ (Höppner/Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui Band I, S. 432), so das recht vernichtende Urteil dieser bekannten marxistischen HistorikerInnen aus der DDR. Engels bezeichnet den Arbeiterkommunismus als „Gleichheitskommunismus“, der sich ihm zufolge „ausschließlich oder vorwiegend auf die Gleichheitsforderung stützt“ (Engels, F.:MEW, Bd. 21, S. 208).
Andere Autoren wenden sich gegen die Einordnung Weitlings als „vor-marxistisch“ und betonen stattdessen, dass es sich bei ihm um einen Vertreter einer eigenständigen Linie handelt: „Weitlings Kritik der bürgerlichen Gerechtigkeit (…) und Weitlings Kommunismus werden getragen von der Idee der (Wieder-)Herstellung einer Identität von Delinquenz und sozialer Bewegung, d.h. nicht nur von der überlieferten Idee, dass Diebstahl/Verbrechen Ausdruck einer Gesellschaft und Eigentumsordnung sind, die ihrerseits auf Diebstahl beruht, sondern von einem sozialrevolutionären Programm, demzufolge die Verallgemeinerung des Diebstahls als Form sozialen Widerstands, die Mobilisierung des Lumpenproletariats gegen das Eigentum zur Anarchie und Überwindung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung führen wird“ (Meyer, A.: Nachwort, In: Wilhelm Weitling. Gerechtigkeit. Ein Studium in 500 Tagen, S. o. A..). Nach Ahlrich Meyer ist die zweite von Weitling repräsentierte sozialrevolutionäre Linie „mit den neobabouvistisch-blanquistischen Strömungen und Organisationsansätzen der 40er Jahre in Frankreich in Verbindung zu bringen“ ((Meyer, A.: Weitlings sozialrevolutionäre Konzepte, in: Knatz, L./Marsiske, H-A: Wilhelm Weitling. Ein deutscher Arbeiterkommunist, S. 173-174).
In militärpolitischer Hinsicht finden wir bei Weitling im Wesentlichen alle Aspekte, die auch bei späteren TheoretikerInnen formuliert wurden. Weilings hauptsächliche Schaffenszeit liegt zwischen den bürgerlichen Revolutionsprozessen zwischen 1830 und 1848. Die Revolution im Juli 1830 bildete für Weitling den Ausgangspunkt seiner militärtheoretischen Überlegungen. Nach Marx wurde in der Revolution von 1830 „die Regierung von den Grundbesitzern auf die Kapitalisten und damit von den entfernteren auf die direkteren Gegner der Arbeiter“ (Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, Ausg. Werke Bd. IV, S. 72) übertragen; „die Julimonarchie war (gezwungen), sich anzukündigen als eine Monarchie, umgeben von republikanischen Institutionen“ (Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850).
Weitlings gesellschaftliche Kritik schloss die Verurteilung von Eroberungskriegen im Interesse der eigenen Unterdrücker durch ein loyales stehendes Heer ein. Weitling agitierte leidenschaftlich gegen die Phrase der Vaterlandsverteidigung und sah in dem Heer keine Schutzgarantie vor äußeren Feinden, sondern eine Schutzgarantie für die Verteidigung des privaten Eigentums und des bestehenden Herrschaftssystems. Weitling fragt:“ (…) dienten sie (u.a. die stehenden Heere, Anm. mg) nicht fast immer dazu, jede Meinung zu unterdrücken, welche nicht die derer war, welche die Macht besitzen?“ (Weitling, W.: Garantien der Harmonie und Freiheit, S.274). Der gesamte herrschende militärische Apparat bzw. das Soldatenwesen stellten für Weitling „eine lebendige, willenlose Maschine“ dar: „Die Arbeit dieser Maschine ist Schrecken, Gräuel, Verwüstung und Krieg!!!“ (ebd. S. 74). Er geht davon aus, dass eine von (reaktionärem) Krieg und Gewalt freie Gesellschaft nur durch eine Revolution der pauperisierten Massen realisierbar sein könnte. Weitling liefert uns eine profane Definition dessen, was er als „Revolution“ versteht, demnach ist eine „Revolution“, „wenn durch das Übergewicht einer geistigen und physischen Kraft das Alte dem neuen weicht (…) Der Umsturz des alten Bestehenden ist Revolution; folglich ist der Fortschritt nur durch Revolution denkbar“ (ebd. S. 228). Und dieser anzustrebende Aufbruch liegt in Keimform in allem Bestehenden vor, denn „das alte System lebt und webt nur in Revolution und Krieg“ (ebd. S. 274). „Revolutionen“ sind für Weitling also eine universelle historische Konstante, die mittels einer physischen und geistigen Gewalt bzw. durch beide Elemente vollzogen werden: „Die Revolutionen, die wir zu erwarten haben, sind gemischter Art; die physische und geistige Gewalt werden sie zusammen auskämpfen“ (ebd. S. 271). Weitling lässt an der Verwirklichung der Revolution keinen Zweifel, der Grad des Gewalttätigen derselben wird allerdings davon abhängig sein, welches Ausmaß das „schreiende Missverhältnis“ in der sozialen Frage (vgl. ebd. S.248) annehmen wird.
Dabei geht es, um den „gleicheitskommunistischen“ Ansprüchen zu entsprechen, nicht um eine politische, sondern um eine soziale Revolution. Mit politischer Revolution ist quasi eine bürgerliche gemeint, die sich im Krieg gegen Personen, dem Wechsel der Regierung etc. erschöpft: „Den Krieg gegen die Personen oder die blutige Revolution lassen wir die Politiker machen; den Krieg gegen das Eigentum oder die geistige Revolution müssen wir selbst machen“ (ebd. S. 258). Weiter führt er aus: „Jede Bewegung aber, die von Anfang an gleich das Streben der Verwirklichung unseres Prinzips kundgibt, mit einem Worte, jede soziale Revolution wird anders anfangen als alle anderen bisherigen Revolutionen. Man wird sich darin nicht vor die Kanonen wälzen, wo der Feind am stärksten ist, auch nicht durch den Mord einzelner Tyrannen zum Ziele zu gelangen suchen. Dieses sind unsichere, oft sogar schädliche Mittel, mit welchen man den Feinden in die Hände arbeitet. Hat einmal das arme Volk das Joch satt und will es damit enden, so soll es nicht den Personen den Krieg machen, sondern dem Eigentum. Das ist die schwächste Seite unserer Feinde“ (ebd. S. 258-259).
In diesem Zitat kommen sehr gut die revolutionstaktischen Überlegungen Weitlings zum Ausdruck, die er in verschiedenen seiner Werke einfließen lässt. Insbesondere ist in dieser Passage seine Ablehnung des „individuellen Terrors“ begründet. Wir haben einige Zeilen weiter oben erwähnt, dass Weitling den Charakter der Revolution in einen direkten Zusammenhang zu der Repression der herrschenden Klasse stellt. Sollte diese alles daran setzten, den Emanzipationsprozess zu torpedieren, „dann muss eine Moral gepredigt werden, die noch niemand zu predigen wagte und die jede Regierung des Eigennutzes unmöglich macht; eine Moral, welche das blutige Schlachtfeld in den Straßen, in welchem das Volk doch immer den kürzeren zieht, in einen fortwährenden Guerillakrieg verwandelt, der alle Spekulationen der Reichen auf den Schweiß des Armen zunichte macht und welchen die Macht der Soldaten (…) nicht zu dämpfen imstande ist (…) Diese Moral aber kann unter den in unseren großen Städten wimmelnden und in das grenzenloseste Elend hinausgestürzten, der Verzweiflung preisgegebenen Massen wirksam gelehrt werden. Das Wort einmal ausgesprochen, so ist das Signal zur neuen Taktik gegeben, der unsere Feinde nun und nimmermehr gewachsen sein werden“ (ebd. S. 259-260). Das Visionäre in diesen Zeilen Weiltlings liegt in dem Paradigmenwechsel der Taktik im revolutionären Kampf. War bis dahin und darüber hinaus (48-Revolution) die Barrikadentaktik das bevorzugte Aufstandsinstrument, so erkannte Weitling aufgrund der Erfahrungen der gesellschaftlichen Aufbruchsversuche von 1839/1840 in Frankreich die klar definierten Grenzen dieses Mittels und sprach sich stattdessen für einen „fortwährenden Guerillakrieg“ aus.
Weitling komprimiert sein Revolutionsraster folgendermaßen: „Erstens: Aufklärung. Zweitens: soziale Revolution. Drittens: soziale Anarchie (…) Dieses letzte Mittel ist die Rechtfertigung des Diebstahls, den der Ärmerer gegen den Reicheren begeht, und die Brandmarkung des Diebstahls den der Reiche gegen den Armen begeht“ (ebd. S.354-355). Die Realisierung seiner Revolutionsvorstellungen muss allerdings nicht von den verarmten Massen ausgehen. Eine Revolution kann ebenso von einem „Fürsten“ oder „Monarchen“ (vgl. ebd. S. 248 und S. 274) bzw. einer (Revolutions-)Regierung (vgl. ebd. S. 262f.), die uneingeschränkt die Interessen der ärmsten Volksschichten vertritt getragen werden. Es wäre demnach „gar nicht notwendig, den Reichen und Mächtigen, die unsere Feinde waren, auf eine gewaltsame Weise Leben, Güter und Freiheit zu entziehen“ (ebd. S. 262). Auch wenn Weitling diese Variante der Selbstbesinnung der Autokratie zwar als „zweifelhafte aber keineswegs unmögliche Sache“ (ebd. S. 274) ansieht, resultiert diese Position folgerichtig aus seiner „arbeiterkommunistischen“ Perspektive, wonach das Postulat der „Gleichheit und Gerechtigkeit“ im Zentrum der sozialen Idee steht und (theoretisch) von jeder (herrschenden) Institution umgesetzt werden kann, sofern die Einsicht und der Wille dazu bestehen. Er versteigt sich unter anderem darin, in der Einführung einer „Vermögenssteuer“ einen „revolutionären“ Vorgang zu erblicken (vgl. ebd. S. 239). Weitling ist und bleibt zugute zu halten, dass er niemals im Dickicht des Reformismus verloren geht und weder in der republikanischen Volksherrschaft noch in der Wahlfreiheit eine entscheidende Änderung der sozial-politischen Ordnung sieht, stattdessen muss das ausbeuterische System „mit allen möglichen Waffen bekämpft werden“ (ebd. S. 243). Trotz dieser teilweisen ideologischen Begrenztheit des „Arbeiterkommunismus“ Weitling’scher Prägung war Marx von seiner Diktion angetan und setzte seine „geniale(n) Schriften“ der „kleinlaute(n) Mittelmäßigkeit der deutschen politischen Literatur“ (Marx, K.: Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen“ Ausg. Werke Bd I, S. 27) der Bourgeoisie entgegen. Sein Hauptwerk „Garantien der Harmonie und Freiheit“ bezeichnete Marx als das „brillante literarische Debüt der deutschen Arbeiter“ (ebd.).
Aber auch unmittelbare Zeitgenossen von Marx und Engels, die vor allem nach der gescheiterten bürgerlich-demokratischen 48-Revolution einen entscheidenden Einfluss auf die Geschichte der Arbeiterbewegung hatten, sind hier zu nennen: Ferdinand Lassalle (1825-1864) und Wilhelm Liebknecht (1826-1900), der Vater von Karl.
Beide Teilnehmer am 48/49-Aufbruch bildeten die Achsen der zwei anfangs miteinander konkurrierenden Gruppierungen der deutschen Arbeiterbewegung. Der 1863 von Lassalle gegründete Allgemeine Deutesche Arbeiterverein (ADAV) bildete die erste feste Arbeiterorganisation nach der langen Durststrecke nach 48. Dies bleibt das unauslöschliche Verdienst Lassalles und seiner Mitstreiter: Lassalle konnte allerdings aufgrund seines Todes 1864 infolge eines verlorenen Duells nur die Anfänge des ADAV gestalten. Dennoch blieb der ADAV untrennbar mit der Person Lassalle und seinen Positionen verbunden.
Aus der inhaltlichen (Parteinahme für eine Nationalstaatlichkeit „von oben“ unter der Hegemonie Preußens, positiver Bezug auf Bismarck und zum junkerlich-großbürgerlichen preußischen Militarismus, Überbewertung des allgemeinen Wahlrechts) und organisatorischen (personenzentrierter autoritärer Organisationsaufbau – „Präsidialdiktatur“) Rivalität forcierten Wilhelm Liebknecht und August Bebel (1840-1913) die Gründung einer weiteren Arbeiterorganisation. Die von Marx und Engels mit Wohlwollen bedachte 1869 vollzogene Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), die sog. Eisenacher (einfach nur benannt nach dem in Eisenach abgehaltenen Parteitag), galt als die Grundsteinlegung des marxistischen Flügels der deutschen Arbeiterbewegung. Die SDAP hatte in ihrem Programm festgeschrieben, das sie sich „als Zweig der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA, I. Internationale), die maßgeblich von Marx und Engels im Londoner Exil 1864 gegründet wurde, betrachtet. Diese beiden vormals konkurrierenden Flügel vereinigten sich 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) (vgl. Lehnert, D: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848-1983; Potthoff, H.: Die Sozialdemokratie von den Anfängen bis 1945).
Der Vereinigungsparteitag bzw. das dort verabschiedete Programm wurden von Marx, der Lassalle im Rahmen seiner Tätigkeit in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ persönlich kannte (vgl. Friederici, H.J: Ferdinand Lassalle. Eine politische Biographie, S. 34), in seiner Schrift „Kritik des Gothaer Programmentwurfs“ grundsätzlich inhaltlich abgelehnt. In das Gothaer Programm sind Marx zufolge wesentlich die Lassall’schen politischen (weg vom Klassenkampfgedanken hin zur Lösung der „sozialen Frage“ etc.) und ökonomischen (weg vom marxistischen Kampf gegen das System der Lohnarbeit hin zum „ehernen Lohngesetz“) Leitlinien eingegangen (vgl.: Marx, K: Kritik des Gothaer Programmentwurfs, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. IV, S. 376-402).
Beide Mitkämpfer der 48-Revolution waren nicht nur die herausregenden Köpfe der formalen organisatorischen Antipoden (ADAV vs. SDAP), sondern unterschieden sich in der Beantwortung wesentlicher Frage, die die Thematik unseres Beitrags betreffen. Die Forderung, dass „sich der Arbeiterstand als selbständige politische Partei konstituieren (muss)“ (Lassalle, F: Offenes Antwortschreiben, In: Lassalle, F: Auswahl von Reden und Schriften, S. 300), gehört zu den Kernpunkten der politischen Programmatik von Lassalle. Die Bedeutung dieses Aspektes hoben – unabhängig der grundsätzlichen Kritik bei vielen anderen Positionen Lassalles – Marx, Engels und Lenin immer hervor.
Die Notwendigkeit der organisatorischen Selbständigkeit ergab sich für Lassalle dringlich ais der Ignoranz gegenüber der sozialen Lage der ArbeiterInnen der bis dahin als politischer Partner geltenden liberaldemokratischen Fortschrittspartei. Allerdings verstieg sich Lassalle in der Gegnerschaft gegen den politischen Liberalismus so weit, dass er eine Besserung der Situation der arbeitenden Bevölkerung in einem „Pakt“ mit dem preußischen Hegemoniestaat unter Bismarck sah. Neben dem Abfassen von Petitionen an Bismarck und mehreren Unterredungen mit ihm arrangierte Lassalle auch eine Audienz beim König von Preußen. Jegliche Klassenverhältnisse ausblendend, sinnierte er.“ Der König hat, die Wahrheit unserer Lehren und die Gerechtigkeit unserer Forderungen anerkennend, eine Reglung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot durch die Gesetzgebung versprochen, wie wir es in unseren Schriften begehrt haben“ (Lassalle, F: Ronsdorfer Rede, In: Lassalle, F: Reden und Schriften, S. 376).
Wie können wir uns die völlig „unmarxistische“ Herangehensweise an Fragen der Klassenpolitik und den Schulterschluss mit dem preußischen Militarismus erklären? Dazu müssen wir uns etwas näher mit den Schriften Lassalles vertraut machen. Bereits im Paragraf 1des Statuts des ADAV, dessen mit autokratischen Vollmachten ausgestatteter Präsident Lassalle war, ist die politische Quintessenz formuliert: der ADAV „(verfolgt) den Zweck, auf friedlichem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung, für die Herstellung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechtes zu wirken.“ (Statut des ADAV, In: Lassalle, F.: Auswahl von Reden und Schriften, S. 423).
Auch wenn wir diese Statuspassage vor dem Hintergrund des repressiven preußischen Justiwesens; Lassalle saß mehrfach in Haft, und dem Fortschritt eines „demokratischen“ Wahlrechtes gegenüber dem Dreiklassenwahlsystem berücksichtigten, durchzieht der „Hauch des Reformismus“ das gesamte Werk und Wirken Lassalles. Dies kommt insbesondere in seiner idealistischen Revolutionsvorstellung zum Durchschlag.
In Anlehnung an den idealistischen Philosophen Schelling und in Abgrenzung zu materialistischen Revolutionsinterpretationen, wird die Lassalle’sche „Revolution“ als Synonym für „ein ganz neues Prinzip“ (ebd. S. 216) gebraucht. Lassalle verwirft den direkten Zusammenhang eines revolutionären Prozesses mit der Durchsetzung einer materiellen Gewalt und verklausuliert diesen als „ Einwirkung des philosophischen Grundprinzips“ (ebd. S. 215) in ein gesellschaftliches Gefüge. Die „Revolution“ kommt dann zur vollen Geltung, wenn „das sittliche Prinzip des Arbeiterstandes (…) zum herrschenden Prinzip der Gesellschaft (…), zur leitenden Staatsidee“ (ebd., S. 219) wird. Lassalle bestreitet nicht das Eintreten einer „Revolution“, ihm stellt sich die Frage, ob sie „in voller Gesetzlichkeit und mit allen Segnungen des Friedens (…) oder aber unter allen Konvulsionen der Gewalt (hereinbrechen)“ (Lassalle, F: Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen, ebd. S. 287) wird. Lassalle geht an diesem Punkt noch einige Schritte in seinem Gedankengebäude weiter. Der Sozialismus wird im Denken Lassalles zur Staatsdoktrin (vgl. ebd. S.292), der Staat verwirklicht die freiwillige Assoziation der Arbeiter (Idee der Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe) verbunden mit dem allgemeinen Wahlrecht. Nach diesen Ausführungen ist es geradezu zwangsläufig, dass Lassalle die „Revolution (…) nicht herbeiführen, sondern (…) sie im voraus humanisieren und zivilisieren (will)“ (ebd. S. 287-288).
Lassalle versucht seinen evolutionistischen, philanthropischen und „gewaltfreien“ Weg zur „Revolution“ (an die Stelle eines bestehenden Zustandes tritt ein „neues Prinzip“) dadurch zu untermalen, dass „(sich) eine Reform durch Insurrektion und Blutvergießen durchsetzen (kann) und eine Revolution im größten Frieden“ (Lassalle, F: Die Wissenschaft und die Arbeiter, ebd. S. 216). Einmal davon abgesehen, dass in Lassalles Ausführungen gravierende Widersprüche hinsichtlich des revolutionären Kampfes zu den weiter unten vorgestellten kommunistischen KlassikerInnen bestehen, ignoriert Lasalle die selbst gemachten und geschilderten Erfahrungen aus dem niedergeschlagenen 48-Aufbruch mit der „organisierten Macht“ des (absolutistischen) Staates – dem stehenden Heer. In seinem Vortrag „Über Verfassungswesen“ (vgl. ebd. S. 63-93) schildert er noch sehr eindringlich die herrschaftspolitische Funktion des stehenden Heeres („organisierte Macht“) für die staatliche Spitze im Kampf gegen die Emanzipationsbestrebungen einfordernden breiten gesellschaftlichen Schichten („unorganisierte Macht“). Die zahlenmäßig kleine, dafür aber disziplinierte und täglich abrufbare „organisierte Macht“ befindet sich in einem taktischen Vorteil gegenüber der zahlenmäßig ungleich größeren, aber „unorganisierten Macht“ (die „Gesellschaft“).
Hinsichtlich des komplizierten Verhältnisses von Angriff und Verteidigung schreibt Lassalle: „Eine Regierung kann mit Erfolg in einem ihr günstigen Moment ihr Heer zusammenraffen und einen siegreichen Angriff, eine siegreiche Konterevolution vornehmen. Schwieriger schon ist ihre Stellung, wenn sie der angegriffene, in der Defensive befindliche Teil und das Volk der Angreifer ist. Der Vorteil bei dieser Art von Kämpfen ist nämlich im Allgemeinen stets auf Seiten des Angreifers, und zwar deshalb, weil er es ist, der sich den ihm günstigen Moment aussucht. Dies ist der Grund, weshalb in diesem Jahrhundert meistens Staatsstreiche der Regierung geglückt sind, aber ebenso auch meistens die Revolutionen des Volkes“ (Lassalle, F: Was nun? ebd. S. 110).
D.h. dass der taktische Vorteil der „organisierten Macht“ durch staatspolitische Manöver stets aufrechterhalten werden muss. Nach Lassalle muss es der (absolutistischen) Staatsmacht gelingen, „sich mit einem leeren Schein konstitutioneller Formen zu umgeben“ (ebd. S. 111), um die eigene Regierungsform zu sichern und die potentiellen Proteste von Beginn an zu paralysieren und die Volksmassen politisch indifferent zu machen. Die Aufgabe der oppositionellen Kräfte besteht darin, den trügerischen Schein aufzudecken und „die Regierung zu zwingen, der Verhüllung zu entsagen“ (ebd. S. 12). Diese Form der Demaskierung des Staates, um hinter der lieblichen Fassade die „hässliche Fratze des Imperialismus“ aufzuzeigen, ist auch heute noch vielerorts eine taktische Methode des revolutionären Kampfes.
Die Bedrohung des feudalistischen Machtinstruments aufgrund der Niederschlagung des 48-Aufstandes erkennend, plädiert Lassalle dafür, „die organisierte Macht des stehenden Heeres“ (Lassalle, F: Über Verfassungswesen, In: Lassalle, F: Auswahl von Reden und Schriften, S. 85) zu brechen. Die Umwandlung des Fürstenheeres in ein Volksheer mit begrenzter, sechsmonatiger Dienstzeit (vgl., ebd. S. 86) sieht Lassalle als probates Mittel an, um aus den 48-Erfahrungen Lehren zu ziehen. Lassalle erkannte, dass es für die Herrschenden von besonderem Interesse ist, „die Bürger zu entwaffnen, ihnen die Waffen abzunehmen. „Sehen Sie, meine Herren, den Besiegten entwaffnen, das ist die Hauptaufgabe für den Sieger, wenn er nicht will, dass sich der Kampf jeden Augenblick erneuern soll“ (ebd., S. 87).
Die allgemeine Forderung der Einführung der Volkswehr ist auch in die damaligen sozialdemokratischen Programme von Eisenach und Gotha eingegangen (vgl. Potthoff, H.: Die Sozialdemokratie von den Anfängen bis 1945, S. 174 und S. 175). Diese Aussagen sind nur schwer in Einklang zu bringen mit denen, wo Lassalle einen idealisierten „staatssozialistischen Typus“ erfindet, in dem (evolutionär) „die sittliche Idee der Arbeiterklasse“ realisiert sei: „Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche Bestimmung, d.h. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist zum wirklichen Dasein zu gestalten (...)“ Lassalle, F.: Arbeiterprogramm, ebd., S. 185).
Lassalle war einer der führenden Initiatoren und Begründer der zweiten Phase (nach dem Ende des Bundes der Kommunisten 1852) der deutschen Arbeiterbewegung, dies bleibt unvergänglich. Von sozialdemokratischer Seite wird bis zum heutigen Tage Lassalle als der erste und authentische Protagonist der deutschen Arbeiterbewegung verklärt, um den Beitrag von Marx und Engels bewusst ausblenden zu können. Lassalles Popularität war zwar über Jahrzehnte in der deutschen Arbeiterbewegung größer als die des aus dem Londoner Exil agierenden Marx. Doch die Marxschen Positionen setzten sich mit dem wesentlich von Karl Kautsky formulierten „Erfurter Programm“, das ein Jahr nach dem 12 Jahre geltenden „Sozialistengesetz“ (1878-1890) verabschiedet wurde, in der Sozialdemokratie durch. Die deutsche Sozialdemokratie besiegelte mit diesem Programm von 1891 auch auf der politisch-ideologischen Ebene, dass sie zu einer marxistischen Massenpartei geworden war. Aufgrund seiner oft widerspruchsvollen und „unmarxistischen“ Ausführungen bildet der Lassalleanismus ein ideologisches Kontrastprogramm zum proletarischen Klassenkampf und der Diktatur des Proletariats des marxistischen (Revolutions-)Verständnisses. Nun ist uns doch einmal ein deutliches Werturteil herausgerutscht.
Wilhelm Liebknecht ist als Protagonist des Marxismus in die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung eingegangen. Ihn wollen wir folgend kurz themenspezifisch portraitieren. Liebknecht emigrierte nach der gescheiterten 48-Revolution zunächst in die Schweiz, dann nach England, wo er Mitglied des Bundes der Kommunisten wurde. 1862 kehrte er nach Deutschland zurück und war von 1863 bis Anfang 1865 Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) Lassalles. 1866 war er neben August Bebel Begründer der radikaldemokratischen Sächsischen Volkspartei. Beide zogen ein Jahr später in den Norddeutschen Reichstag (1867-1870) ein. Im Jahre 1869 kam es – wie bereits weiter oben beschrieben – zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), die sich unter anderem aus enttäuschten ehemaligen ADAV-Anhängern speiste (vgl. Potthoff, H.: Die Sozialdemokratie von den Anfängen bis 1945, S. 32).
Liebknecht war zwar von 1874 bis zu seinem Tode 1900 Mitglied des deutschen Reichstages, blieb aber gegenüber der parlamentarischen Option der Sozialdemokratie Zeit seines Lebens taktisch und ablehnend eingestellt. Hinsichtlich der Rolle des Parlamentarismus für die Politik der Sozialdemokratie geriet Liebknecht verschiedentlich in einen Disput mit Bebel, wobei beide später wieder deckungsgleich argumentierten (vgl. weiter unten). Er verweist bereits in seinen frühen Reden auf den agitatorischen Zweck der Teilnahme an den Wahlen: „Die Wahlen erzeugen immerhin eine gewisse Aufregung, die wir zu agitatorischen Zwecken benutzen müssen. Allein wir dürfen unsere Abgeordneten nicht wählen, damit sie teil nehmen an dem Komödienspiel, sondern damit sie protestieren gegen den Absolutismus, der sich hinter die parlamentarischen Formen flüchtet, und damit sie diejenigen denunzieren, welche sich zu diesem Spiele hergeben. Nicht zu dem „Reichstag“ sollen unsere Abgeordneten sprechen, sondern über die Köpfe der Reichstag-Mitglieder hinweg zum Volk (...) (Liebknecht, W.: Reichstagkomödie, in: Redner der Revolution Band V. Reden von Wilhelm Liebknecht, S. 13-14). Liebknecht tritt unmissverständlich dafür ein, nicht mit den (parlamentarischen) Gegnern zu verhandeln: „Wer mit den Feinden parlamentiert (...) paktiert“ (Liebknecht, W.: Wahlen zum Parlament nur Agitationsmittel, ebd. S. 20). Dies erklärt er zu einem Prinzip und stellt in diesem Zusammenhang fest, dass „Prinzipien unteilbar (sind), sie werden entweder ganz bewahrt oder ganz geopfert“ (ebd.).
Liebknecht kritisiert die Fixiertheit Lassalles, den er ansonsten in eine Reihe mit Marx und Engels stellt (vgl. Liebknecht, W.: Majestätsbeleidigung, ebd., S. 80), auf das allgemeine Wahlrecht, das letztlich nur ein „Spiel- und Werkzeug des Absolutismus“ (Liebknecht, W.: Wahlen zum Parlament nur Agitationsmittel, ebd. S. 27) sei. Das taktische Verhältnis, das Liebknecht zum Parlamentarismus einnimmt, erklärt sich daraus, dass er diesen in Zeiten einer schwachen und am Boden liegenden Linken für zweckmäßig hält, um „in irgendeinem Parlament ein kleines Freiheitslämpchen zu pflegen“ (ebd. S. 24). In aufrührerischen Momenten „kann vielleicht ein von der Tribüne geschleudertes Wort, zündend, wie ein elektrischer Funke, das Signal zur befreienden Tat geben“ (ebd.). Die Eisenacher nutzen immer wieder die parlamentarische Plattform, um gegen Kriegspläne oder militaristische Gesetzesvorlagen zu protestieren (vgl. bspw. Autorenkollektiv: Diesem System keinen Mann und keinen Groschen. Militärpolitik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1830 bis 1917, S. 129f.). Liebknecht lässt an seiner Motivation für die sozialistische Revolution keinerlei Zweifel: „(...) der Sozialismus (ist) keine Frage der Theorie mehr, die in keinem Parlament, die nur auf der Straße, auf dem Schlachtfeld zu lösen ist, gleich jeder anderen Machtfrage“ (Liebknecht, W.: Wahlen zum Parlament nur Agitationsmittel, S. 22). Liebknecht der sich auch „einen Soldaten der Revolution“ (Liebknecht, W.: Der Soldat der Revolution, ebd. S. 52) nannte, führte aus, dass „Revolutionen nicht mit hoher obrigkeitlicher Erlaubnis gemacht (werden); die sozialistische Idee kann nicht innerhalb des heutigen Staates verwirklicht werden; sie muss ihn stürzen, um ins Leben treten zu können. Kein Friede mit dem heutigen Staat“ (Liebknecht W.: Wahlen zum Parlament nur Agitationsmittel, ebd. S. 30). Liebknecht hielt für die Zeit der Revolution die Diktatur für nötig, „aber nicht die Diktatur eines einzelnen, sondern die (...) des Volkes (...) Wer sich persönlich zum Diktator aufwerfen will, den kann man (...) in ruhigen Zeiten allenfalls auslachen, in revolutionären Zeiten schießt man ihm eine Kugel vor den Kopf (...)“ (Liebknecht, W.: Der Soldat der Revolution, ebd. S. 55). Einige Jahre vor seinem Tod, hält Liebknecht unerschütterlich an dem Postulat fest, das die Sozialdemokratie „revolutionär“ sei: „Wie sind eine revolutionäre Partei. Wir sagen dasselbe heute und werden es alle Zeit sagen. Wir haben uns nicht geändert und ändern uns nicht“ (Liebknecht, W.: Wir sind eine revolutionäre Partei, ebd. S. 94). Fürwahr eine illusionäre Behauptung, wie wir alle wissen.
Auch über den Klassencharakter der staatlichen Ordnung lässt er keinen Interpretationsspielraum offen, denn „der heutige Staat ist der Ausdruck der Klassenherrschaft, er vertritt die Macht des Kapitals und ist also gezwungen, allen denjenigen Bestrebungen entgegenzutreten, welche die Befreiung der Klassen- und Kapitalsherrschaft bezwecken. Er muss ihnen entgegen sein, denn es handelt sich dabei um seine eigene Existenz“ (Liebknecht, W.: Reichstagskomödie, ebd. S. 11). Und um dieser Klassen- und Kapitalsherrschaft das militärpolitische Machtinstrument zu nehmen, fordert auch er die Abschaffung der stehenden Heere durch die Ersetzung eines Volksheeres. Diese Forderung verknüpft er mit der Notwendigkeit der Wehrerziehung der Jugend: „Ist jeder Bürger Soldat, dann ist auch jeder Soldat Bürger, und kein Tyrann mehr imstande das Volk zu vergewaltigen (Liebknecht, W.: Was die Sozialdemokraten sind und was sie wollen, S. 12).
August Bebel wurde 1840 als Sohn eines preußischen Unteroffiziers geboren. Der in ärmlichen Verhältnissen aufwachsende Bebel verlor frühzeitig seine Eltern und Geschwister. Bebel als gelernter Drechsler kam nicht – wie viele andere sozialdemokratische Führungspersönlichkeiten – aus einem intellektuellen und gutsituierten Milieu. Er eignete sich die Marx’schen und Engel’schen Theorien autodidaktisch an und vollzog unter dem Einfluss Liebknechts ihre Rezeption. Bebel stand vornehmlich mit Engels in einem regen brieflichen Austausch um Fragen sozialdemokratischer Politik. „War Engels der Mentor Bebels in Grundsatzfragen der Theorie, so ließ Engels sich in Fragen der politischen Praxis entscheidend von Bebels inspirieren“ (Vorwort in: Bebel, A.: Politik als Theorie und Praxis, S. 12).
Aufgrund seiner sozialen Herkunft und seines allgemeinverständlichen Politikvermittelns erlangte er eine außerordentlich große Popularität in der sozialdemokratischen AnhängerInnenschaft, die nur noch mit der Lassalles vergleichbar war. Er war nicht der intellektuell versierte Liebknecht oder Kautsky, sondern ein Praktiker in Sachen Sozialdemokratie, der aber auch aufgrund seiner publizistischen Tätigkeit (z.B. Die Frau und der Sozialismus) bzw. durch seine Stellungnahme gegen den Bernstein’schen Revisionismus die eigene Führungsposition in sozialdemokratischen Parlamentsfraktionen und Parteigremien merklich ausbauen und festigen konnte. Während der mehr als vier Jahrzehnte umfassenden Tätigkeit in Partei und Parlament wurde Bebel aufgrund seiner sozialdemokratischen Aktivitäten mehrfach z.B. u.a. mit Liebknecht in sog. Hochverratsprozessen angeklagt und zu längeren Haftstrafen verurteilt. Dies gehörte faktisch zu einer sozialdemokratischen Biographie der damaligen Zeitumstände.
Bebel hat maßgeblich die programmatischen und taktischen Richtlinien der Sozialdemokratie bestimmt. Grundsätzlich verwies er darauf, dass „jede Partei, die überhaupt ein bestimmtes Ziel im Auge hat, zwei Dinge festzustellen (hat): die Forderungen, die sie zu verwirklichen anstrebt und die Art, wie sie dies erreichen will. Das erste ist das Programm das zweite gibt die Richtschnur für die Kampfweise stellt also die Taktik der Partei fest“ (Bebel, A.: Politik als Theorie und Praxis, S. 53). Bebel hat das strategische Ziel der „Beseitigung der heutigen bürgerlichen Gesellschaft mit der kapitalistischen Produktionsweise“ und „die Gründung der sozialistischen Gesellschaft“ und ihrer „sozialistischen Produktionsordnung“ stets und speziell gegen Angriffe von revisionistischer Seite verteidigt (ebd., S. 53-54). Er betonte: „Wir sind im Wesen eine revolutionäre Partei. Das schließt nicht nur aus, das schließt ein, dass wir Reformen nicht zurückweisen, wo wir sie bekommen können“ (ebd. S. 138). Für Bebel war unstrittig, dass eine ganze Reihe von Wegen zum Ziel der sozialistischen Gesellschaft führen werden: „Die Frage nach den Mitteln ist die Frage nach der Taktik in einem Kampfe. Die Taktik richtet sich aber nach dem Gegner und weiter nach den Hilfsmitteln, die beiden Teilen geboten stehen. Ein Mittel, das heute vorzüglich ist, kann morgen verderblich sein, weil die Umstände, die gestern seine Anwendung rechtfertigten sich änderten. Mit dem Ziele im Auge, hängen die Mittel zur Erreichung desselben von Zeit und Umständen ab; nötig ist nur, dass man die wirksamsten und einschneidendsten ergreift, die Zeit und Umstände ermöglichen zu ergreifen“ (Bebel, A.: Die Frau und der Sozialismus, S. 409).
In seiner Parteitagsrede auf dem Erfurter Parteitag 1893 erwähnt er neben der Agitation und Pressearbeit als „drittes Mittel die parlamentarische Tätigkeit“ (Bebel, A.: Politik als Theorie und Praxis, S. 55). Über die taktische Bedeutung des Wirkens auf parlamentarischer Ebene gibt die auf dem Erfurter Parteitag verabschiedete Resolution Auskunft: „Ohne sich bei der Beschränktheit und dem Klassenegoismus der bürgerlichen Parteien über den Wert der parlamentarisch Erfolge in Bezug auf unsere Grundsatzforderungen der geringsten Illusionen hinzugeben, betrachtet der Parteitag die Agitation für die Reichstags (...) wahlen als besonders wirksam für die sozialistische Propaganda, weil sie die beste Gelegenheit bietet, mit den proletarischem Klassen in Berührung zu kommen und dieselben über ihre Klassenlage aufzuklären, und weil die Benutzung der parlamentarischen Tribüne das wirksamste Mittel ist, die Unzulänglichkeiten der öffentlichen Gewalten zur Hebung der sozialen Übel darzulegen (...) Der Parteitag verlangt von den Vertretern der Partei, dass sie fest und entschieden im Sinne des Parteiprogramms wirken und, ohne auf die Erlangung von Konzessionen seitens der herrschenden Klassen zu verzichten, immer das ganze und letzte Ziel der Partei im Auge haben“ (ebd., S. 90-91).
Bebel war sich bewusst, dass dieser Spannungsbogen aus revolutionären Prinzipien und reformerischer Teilnahme am Parlamentarismus zu Kontroversen innerhalb der Sozialdemokratie führen musste, In Bezug auf die (zwischenzeitlichen) Differenzen mit Liebknechts grundsätzlicher Ablehnung des Parlamentssystems sprach Bebel von „taktischen Unstimmigkeiten“ (Bebel, A.: Aus meinem Leben, S. 304). Mit einer gewissen Genugtuung stellt Bebel in seiner Autobiographie fest, dass „(...) Liebknecht (...) offen und rückhaltlos erklärt (hat), er sei nunmehr zu der Ansicht gekommen, dass die praktische Tätigkeit in den Parlamenten eine Notwendigkeit und von großem Vorteil für die Partei sei. Damit waren, die Meinungsverschiedenheiten zwischen uns über die parlamentarische Taktik beseitigt“ (ebd., S. 306).
Bebel argumentiert in dieser Frage einerseits gegen die innerparteiliche „Linksopposition“ die die Relevanz des Parlaments vollständig negierte, und die revisionistische Fraktion, die ein‘ friedvolles und prinzipienloses Hinübergleiten qua Parlamentarismus in den Sozialismus fabulierte. Bebel versuchte sich im Zusammenhang mit dem Erstarken anarchistischer Tendenzen, die sich u.a. in ihrer anti-parlamentarischen Agitation auf Ausführungen Liebknechts beriefen, mehrfach gegen jene strikt abzugrenzen. Er polemisierte gegen „Sektenbildung“ und, Polizeimache“ der AnarchistInnen (vgl. Bebel, A.: Politik als Theorie und Praxis, S. 62-63). Bebel rückt die „Linksopposition“ tendenziell in die Ecke der anarchistischen „Propaganda der Tat“, wenn er sagt: „Wenn wir bei jeder Gelegenheit das sagten, was die Opposition verlangt, dann wäre die Provokation da, und da kämen wir um den gewaltsamen Kampf nicht herum (...) wir wären zum offenen Kampfe gezwungen (...) wir würden wie die Spatzen jämmerlich zusammengeschossen. Wer heute noch angesichts der kolossalen Fortschritte nicht nur auf militärischem sondern auch auf politischem und insbesondere auf ökonomischem Gebiet glaubt, wir Sozialdemokraten möchten mit den Mitteln der bürgerlichen Partei, wie z.B. mit dem Barrikadenbau, zum Ziele kommen, der irrt sich gewaltig, der verkennt total die Natur der Zustände, im denen wir uns befinden“ (ebd., 78-79)
In der besagten Resolution des Erfurter Parteitages findet sich eingangs die wichtige Passage, in der es gegen eine „putschistische“ Variante der Machteroberung geht: „In Erwägung, dass die Eroberung der politischen Macht das erste und Hauptziel ist, nach der jede klassenbewusste Proletarierbewegung streben muss, dass aber die Eroberung der politischen Macht nicht das Werk eines Augenblicks, nicht die Frucht einer momentan gelungenen Überrumpelung des Gegners sein kann, sondern nur durch zähe und ausdauernde Arbeit und geschickte Benutzung aller Mittel und Wege, die sich der Propaganda für unsere Ideen und Ziele in der gesamten Arbeiterklasse darbieten, errungen werden kann (...)“ (ebd., S. 89-90). Bebels penible Diskreditierung vermeintlich anarchistischer Handlungen rührt unter anderem aus den Erfahrungen der „Sozialistengesetze“ (1878-1890) her. Bismarck funktionalisierte zwei Attentatsversuche auf den damaligen Monarchen Wilhelm I., um die sich bereits in den Schubladen befindlichen papiernen Repressionsinstrumente durch das Parlament zu jagen (vgl. u.a. Lehnert, D.: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848-1983), S. 67-77 und Bebel, A.: Aus meinem Leben, S. 488-497). Des Weiteren hielt er die bürgerliche Gesellschaftsform offensichtlich derart marode, dass er sich zu mechanistischen Feststellungen hinreißen ließ, wonach „die bürgerliche Gesellschaft so kräftig auf ihren eigenen Untergang los(arbeitet), dass wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen haben“ (Bebel, A.: Politik als Theorie und Praxis, S. 79).
Bei einer solchen gesellschaftsanalytischen Interpretation können „illegale“ Kampfmethoden, die die Staatsmacht herausfordern könnten, nur als Störfaktor betrachtet werden. „Diesen (den Herrschenden, Anm. mg) ist nichts unangenehmer als ruhige, zielbewusste Arbeit, nichts sähen sie lieber, als dass das Proletariat Gelegenheit gäbe, dass man mit Gewalt es niederwerfen könne (...) Es wäre der größte Fehler, wenn wir diese bewährte Taktik jetzt verlassen wollten“ (ebd. S. 63). Es ist aber grundweg falsch, würde man Bebel selbst des Reformismus bezichtigen wollen. Seinen revolutionären Standpunkt hat er immer wieder öffentlich kundgetan, wie auf dem Parteitag 1903 in Dresden, auf dem er dem versammelten Parteipublikum sagte: „Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, beseitigen“ (Bebel, A.: Über Gesellschaft – Staat – Demokratie, S.10).Dem den Klassenkampf und die proletarische Revolution aufgebenden Revisionismus hielt er entgegen, dass „es eine ganz verkehrte Taktik (ist), der Partei den Opfermut, die Begeisterung, die Opferfreudigkeit, alles das, was der Kampf in höchstem Maße braucht, durch möglichstes Hinausrücken des Zieles ins Unendliche zu nehmen und alles aufzubieten, um durch Einführung künstlicher Schwierigkeiten dem Glauben an die Möglichkeit des Sieges entgegenzuwirken“ (Bebel, A.: Politik als Theorie und Praxis, S. 142).
Bereits in seinem für die internationale Sozialdemokratie wichtigen 1879 verfassten Hauptwerk „Die Frau und der Sozialismus“ hat er im Kapitel „Die soziale Revolution“ angemerkt, dass der „alte Erfahrungssatz“ gilt, „das keine herrschende Klasse durch Gründe zu überzeugen ist, wenn sie nicht die Gewalt der Umstände zur Einsicht und zur Nachgiebigkeit zwingt“ (S. 408). Er hielt den reaktionären und bürgerlichen Kräften hinsichtlich der „Revolutionsfurcht“, die das Proletariat erzeugen würde, entgegen: „Es ist lachhaft, wenn man uns vorwirft, wir wollten die Revolution, wo doch alle bisherigen Revolutionen vom Bürgertum gemacht wurden“(Bebel, A.: Über Gesellschaft – Staat – Demokratie, S. 32).
Bebel war einer der wichtigsten Vertreter der revolutionären Milizidee, die er in seiner Schrift „Nicht stehendes Heer sondern Volkswehr!“ vertrat. Die Miliz bildet dabei eine Art proletarischen Selbstschutz vor der innerstaatlichen Repressionsfunktion, die im Falle eines Bürgerkriegs die loyalen stehenden Heere in der Regel einnehmen. Unter der angestrebten Volkswehr verstand er die „Bürger in Waffen, die sich selbst regieren und entschlossen sind, die Rechte des Volkes zu respektieren“ (S. 43). Bebels antimilitaristische Haltung kam bereits in seiner ersten parlamentarischen Phase klar zum Ausdruck, als er mit Liebknecht gegen die Kriegskredite im deutsch-französischen Krieg votierte und in einer Rede hervorhob, dass dieser Krieg seit dem Sturz Napoleons III. „nicht mehr ein Verteidigungskrieg, sondern ein Eroberungskrieg“ war (zit. In: Autorenkollektiv, Diesem System keinen Mann und keinen Groschen. Militärpolitik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1830 bis 1917, S.108). Der berühmte Ausspruch „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ stammt von August Bebel im Kontext der Annexionsbestrebungen gegenüber Frankreich.
Das taktische Kampfmittel des Massenstreiks, das zu Beginn des 20.Jh. infolge der russischen Revolution von 1905 virulent wurde, wurde auch von Bebel aufgegriffen. Er erkannte die revolutionäre Rolle des politischen Massenstreiks, bremste aber die Euphorie, was die Anwendung und Übertragbarkeit auf die deutschen Verhältnisse betraf: „Wir sind der Meinung; ehe wir uns in so große Kämpfe einlassen, müssen wir erst gründlich organisieren, agitieren, politische und wirtschaftliche Aufklärung schaffen, die Massen selbstbewusst und widerstandsfähig machen, sie begeistern für den Moment, wo wir sagen müssen: Du hast alles einzusetzen, weil eine Lebensfrage für dich als Mensch (...) auf dem Spiele steht. Wir wollen nicht (...) die Massen blindlings in den Streik treiben (...)“ (Bebel, A.: Über Gesellschaft. Staat. Demokratie, S. 34-35).
Die Bekämpfung der bürgerlichen Gesellschaft samt ihres Staates hatte für Bebel strategisch oberste Priorität (sein anfängliches Eintreten eines von Marx und Engels grundsätzlich kritisierten „freien Volksstaats“ lassen wir hier einmal beiseite, vgl. dazu Bebel, A.; Politik als Theorie und Praxis, S. 163-172): „ist so der Staat die notwendige Organisation einer auf Klassenherrschaft beruhenden Gesellschaftsordnung, so verliert er, sobald die Klassengegensätze durch Aufhebung des Privateigentums gefallen sind, seine Existenznotwendigkeit und Existenzmöglichkeit“ (Bebel, A.: Die Frau und der Sozialismus, S. 410), d.h. ,es verschwindet der Staat; er hebt sich gewissermaßen selbst auf“ (ebd.).
Bebel sah den gesamtgesellschaftlichen Umwälzungsprozess in einem internationalen Maßstab: „Die neue Gesellschaft wird sich dann auch auf internationaler Basis aufbauen. Die Völker werden sich verbrüdern, sie werden sich gegenseitig die Hände reichen und danach trachten, den neuen Zustand allmählich über alle Völker der Erde auszudehnen“ (ebd., S. 525).
VII. Bewaffneter Kampf, Aufstand und Revolution in den Werken von Friedrich Engels und Karl Marx
Die Militärtheorie und die Kriegslehre ist das publizistische Feld, in dem Friedrich Engels (1820-1895) eine besondere Produktivität an den Tag legte. Engels untersuchte, seinem persönlichen Wirkungszeitraum entsprechend, die Militärpolitik der feudalaristokratischen und bürgerlichen Regime sowie das Militärwesen und die Kriegsführung solcher Staaten, in denen die Bourgeoisie erst die Macht erobert hat oder vor der Übernahme der Schalthebel der Macht stand.
Engels militärtheoretischen und kriegsgeschichtlichen Studien hatten die zu dieser Zeit aktuellen antifeudalistischen Einigungs- und anti-kolonialen Befreiungskriege zum Inhalt. Er ließ sich bspw. über die bürgerlich-demokratischen Revolutionsaufbrüche von 1848/49, den nord-amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 oder den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 aus. Daneben befasste er sich auch eingehend mit dem proletarischen Aufstand und der Bildung der Pariser Kommune von 1871. in dem „The New American Cyclopaedia - Popular Dictionary of General Knowledge“ liefert Engels verschiedene Definitionen von militärischen Begrifflichkeiten (z.B. „Armee“, „Flotte“, „Angriff“ etc.) und kurze biographische -Abrisse über historische Feldherren und Generäle (z.B. über den preußischen Feldmarschall Blücher der antinapoleonischen Befreiungskriege Anfang des 19. Jahrhunderts). Engels lieferte mit Sätzen wie „Armee – die organisierte Einheit bewaffneter Menschen, die ein Staat zum Zwecke des offensiven oder defensiven Krieges unterhält“ (Engels: Armee, Ausgewählte Militärische Schriften 1, S. 511) geradezu „klinische“ Definitionen. Engels militärtheoretische Akribie ging soweit, dass er für unterschiedliche Zeitschriften verschiedene Waffentypen einem TÜV unterzog und die Jeweiligen ballistischen Eigenschaften untersuchte. Eine kleine Kostprobe: „(...) Deshalb ist auch die Chance, mit den neuen gezogenen Gewehren auf dem Schlachtfeld über 300 Yards hinaus zu treffen, sehr gering, während sie unter 300 Yards durch die gestreckte Flugbahn der Kugel sehr groß ist. Demzufolge ist der Bajonettangriff das wirksamste Mittel, einen Feind aus seinen Stellungen zu werfen, sobald der angreifende Truppenkörper bis auf diese Entfernung herangekommen ist (...)“ (Engels: Über gezogene Kanonen, Ausgewählte Militärische Schriften II, S. 197).
Seine sehr detaillierten Ausführungen zu Waffensystemen, Kriegsverläufen und allgemeinen taktischen Kampfhandlungen sind Ausdruck davon, dass er zu jeder Zeit den engen Zusammenhang zwischen dem Stand der Produktivkräfte und dem Entwicklungsniveau der Kriegskunst herstellte. Diesen Sachverhalt beschreibt er erstmals 1852 in seiner Studie „Betrachtungen über die Folgen eines Krieges der Heiligen Allianz gegen Frankreich im Falle einer siegreichen Revolution in Frankreich“. Engels stellt die Frage, ob „nicht eine neue Revolution, die eine ganz neue Klasse zur Herrschaft bringt, auch, wie die erste, neue Kriegsmittel und eine neue Kriegsführung hervorrufen (wird), vor der die jetzige, napoleonische, ebenso veraltet und ohnmächtig erscheint wie die des Siebenjährigen Kriegs vor der der ersten Revolution?“ (S. 477). Weiter schreibt er, dass „die Voraussetzung der napoleonischen Kriegsführung vermehrte Produktivkräfte (waren); die Voraussetzung jeder Vervollkommnung in der Kriegsführung müssen ebenfalls neue Produktivkräfte sein“ (ebd., S. 481).
Auf die materielle Abhängigkeit und gesellschaftliche Bezogenheit der Kriegsführung und des Militärwesens kommt Engels auch in seinem „Anti-Düring“ zu sprechen (siehe weiter unten). Neben diesen geschichtlich und sachlich kenntnisreichen Abhandlungen erarbeitete er „aus der Erkenntnis, dass die Arbeiterklasse für einen erfolgreichen revolutionären bewaffneten Kampf über eigene Militärfachleute und über eine wissenschaftlich erhärtete Lehre vom bewaffneten Kampf und der revolutionären Kriegsführung verfügen müsse“ (Autorenkollektiv: Kürzer Abriss der deutschen Militärgeschichte, S. 147), die Basis einer proletarischen Militärpolitik. Eine proletarische Militärpolitik muss für Engels untrennbar an die Grundlegung des wissenschaftlichen Kommunismus gekoppelt sein, d.h., der wissenschaftliche Kommunismus musste zugleich mit den allgemeinen Fragen des Sozialismus grundsätzliche militärische Fragen des Klassenkampfes beantworten.
Engels beließ es allerdings nicht bei dem Abfassen von theoretischen Texten, sondern griff unmittelbar in das Kampfgeschehen während des badisch-pfälzischen Aufstandes Mitte 1849 im Zusammenhang mit der bürgerlich-demokratischen Revolution ein, Dieser Aufstand bildete das letzte Kettenglied der diversen Erhebungen der Jahre 1848 und 1849 für den Aufbau einer geeinten demokratischen Republik. Engels schloss sich als Adjutant dem Freikorps Willich an, der als Führungsmitglied des Bundes der Kommunisten einen 800 Personen umfassenden Verband der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee gründete (Autorenkollektiv: Diesem System keinen Mann und keinen Groschen. Militärpolitik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1830 bis 1917, S. 48). Angehörige des Bundes der Kommunisten beteiligten sich im gesamten Land an den 48/49-Aufständen und versuchten sie ideologisch zu beeinflussen und zu radikalisieren (vgl., ebd., S. 46).
Der Bund der Kommunisten hat eine interessante (Vor-)Geschichte, die gesamte Periode dieser ersten Partei des internationalen Proletariats reichte von 1836 bis 1852. Der Vorläufer des Bundes der Kommunisten war der 1836 gegründete Bund der Gerechten, der wiederum aus dem proletarischen Teil des bereits 1834 entstandenen demokratisch-republikanisch gesinnten und konspirativ agierenden Bund der Geächteten hervorging. Der Bund der Gerechten war anfangs von den Anschauungen und dem „verschwörerisch-revolutionistischen“ Leitbild Blanquis und dem „Arbeiterkommunismus“ Weitlings geprägt und näherte sich erst in den folgenden Jahren den gesellschaftlichen Beurteilungen von Marx und Engels an. Beide traten erst 1847 dem Bund bei, der sich fortan nach seinem ersten Kongress Bund der Kommunisten nannte (vgl. Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, Ausgewählte Werke Marx/Engels Bd. VI, S. 237-258). In dem ersten Artikel des Bundes ist die revolutionäre Zielsetzung eindeutig formuliert: „Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der. alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum“ (Statuten des Bundes der Kommunisten, Ausgewählte Werke Marx/Engels Bd. I, S. 377). Marx und Engels bekamen den Auftrag eine programmatische Schrift des Bundes auszuarbeiten. Dieses im Februar 1848 veröffentlichte „Manifest der Kommunistischen Partei“ des Bundes, dass das alte Bundesmotto: „Alle Menschen sind Brüder“ durch den Ausspruch: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ ersetzte, richtete das Hauptaugenmerk auf Deutschland, da es „am Vorabend einer bürgerlichen Revolution“ stand, die entsprechend den relativ entwickelten sozio-ökonomischen Bedingungen, „das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution“ (Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 493) hätte sein können. Die Politik des Bundes beruhte zu diesem Zeitpunkt auf zwei Grundsätzen: Unterstützung der anti-feudalistischen Erhebungen, wo immer diese einen revolutionären Charakter trugen, und Förderung eines proletarischen Klassenbewusstseins und Hinwirkung auf eine kommunistische Parteibildung.
Die abschließende revolutionäre Endladung erfolgte im Zuge der sog. Reichsverfassungskampagne vom Mai bis Juni 1849 und bildete die letzte große bewaffnete Auseinandersetzung mit dem preußischen König und den verschiedenen regionalen Fürsten, Worum ging es bei dieser Kampagne? Die aristokratische Reaktion weigerte sich hartnäckig, das Kernstück der 48er Revolution, nämlich die am 27. März 1849 von der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche verabschiedete Reichsverfassung anzuerkennen. Das Kleinbürgertum und das sich herausbildende Proletariat bildeten die Speerspitze des Protestes, der sich zuerst in Dresden entwickelte und nach und nach andere Landesteile erreichte (Autorenkollektiv: Diesem System keinen Groschen und keinen Mann. Militärpolitik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1830 bis 1917, S: 46). Engels sprach sich in dieser konkreten Konfrontation für einen Wechsel in der Aufstandspraxis aus. Da im Rheinland und in Westfalen ein Großteil der preußischen Armee stationiert war, nahm er Abstand von der bisherigen passiven und starren Barrikadentaktik und sprach sich dafür aus, gegen die Regierungstruppen einen beweglichen partisanenartigen Kleinkrieg einer zu bildenden Revolutionsarmee zu führen. Nach Engels ging es vor allem darum, „in den Festungen und Garnisonsstädten Jeden unnützen Krawall zu vermeiden“ und „endlich alle disponiblen Kräfte in den insurgenten Bezirk des rechten Rheinufers zu werten, die Insurrektion weiter zu verbreiten und zu versuchen, hier vermittelst der Landwehr den Kern einer revolutionären Armee zu organisieren“ (Engels: Die deutsche Reichsverfassungskampagne, MEW 7, S. 123-124).
Die letzte Phase des Bundes der Kommunisten nach der Niederschlagung der 48er Revolution war geprägt von dem Verbot der Öffentlichen Organisierung des Proletariats und den politischen Verfolgungsmaßnahmen gegen Angehörige des Bundes. Der Bund musste einerseits von einer öffentlich agierenden Propagandagesellschaft zu einer konspirativ organisierten Struktur umgebaut werden, und andererseits war er durch die politische Repression in seiner Existenz bedroht. Diese Existenz wurde aber auch aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen, die aus der Niederlage von 48 resultierten, einer harten Belastungsprobe ausgesetzt die letztlich zur Spaltung führte. Willich und andere setzen in einer nach Marx und Engels unrevolutionären und wirtschaftlich prosperierenden Periode nach 48 weiterhin auf einen „aktivistischen Revolutionismus“, mit dem „durch militärische Handstreiche eine „revolutionäre“ Militärdiktatur“ (Autorenkollektiv: Kurzer Abriss der deutschen Militärgeschichte, S. 146) erreicht werden sollte. Marx und Engels verweigerten sich dieser Art der analyselosen „Revolutionsmacherei“ und widmeten sich verstärkt ihrem polit-ökonomischen Studium und der Präzisierung der materialistischen Gesellschaftsanalyse. Mit diesen theoretischen Arbeiten versuchen Marx und Engels der geschlagenen 48-Generation ein gesellschaftsanalytisches Fundament zu geben, das für die kommenden sozialen Umbruchszeiten eine politische und organisatorische Orientierung geben sollte. Den letzten Todesstoß versetzte der sog. Kölner Kommunistenprozess von 1852 dem Bund, bei dem ein Dutzend der Aktivisten des Bundes angeklagt und zum Teil wegen „versuchtem Hochverrat“ zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. unmittelbar nach dem Prozess lösten Marx und Engels den Bund der Kommunisten auf. Damit endete die erste Phase des politisch organisierten Proletariats (vgl. Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, Ausg. Werke Bd. VI., S. 237-258 und Obermann, K.: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten 1849 -1852). In den folgenden Jahren Mitte des 19. Jahrhunderts „existierte die Arbeiterbewegung (...) – neben der geheimen Tätigkeit kleiner kommunistischer Zirkel sowie spontanen Streiks und in der Arbeit gewerkschaftlicher Organisationen – vor allem im theoretischen Wirken von Karl Marx und Friedrich Engels fort“ (Autorenkollektiv: Kurzer Abriss der deutschen Militärgeschichte, S. 146-147).
Die Erfahrungen der Jahre 1848149 führten auch dazu, dass Marx und Engels zu allgemeineren Aussagen über aufstandstheoretische und revolutionsgeschichtliche Fragen kamen. Beide plädierten dafür, dass sich das Proletariat nicht „zum Anhängsel der offiziellen bürgerlichen Demokratie“ machen dürfe und stattdessen „eine selbständige geheime und öffentliche Organisation der Arbeiterpartei“ (Marx/Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW 7, S. 248-249) bilden müsse. Des weiteren forderten sie, dass „die Arbeiter bewaffnet und organisiert sein (müssen)“ und dass „die Bewaffnung des ganzen Proletariats mit Flinten, Büchsen, Geschützen und Munition sofort durchgesetzt (...) werden muss“ (ebd., S. 250). Die selbständige Organisierung und Zentralisierung der ArbeiterInnen In Klubs und Vereinsstrukturen, um „den demokratischen Kleinbürgern mit Macht entgegentreten zu können“, führen Marx und Engels als dritten Aspekt aus (vgl. ebd., S. 251). Die „Allgemeine Volksbewaffnung“ und die Umwandlung der Armeen „zugleich in Arbeiterarmeen“ wurden schon in der Flugschrift „Forderungen der Kommunistischen Partei mm Deutschland“ vom September 1848 als Leitlinie ausgegeben (vgl. Ausg. Werke Marx/Engels Bd. 1., S464). Engels konstatierte, dass „sobald die am Ruder befindlichen Bourgeoisierepublikaner einigermaßen festen Boden unter den Füßen spürten, ihr erstes Ziel (war), die Arbeiter zu entwaffnen‘ (Engels; Einleitung zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ von Karl Marx, Ausg. Schriften II, S. 640). Aufgrund dessen betonte er mit Nachdruck die Parole „Je mehr Arbeiter in den Warfen geübt werden, desto besser“ (Engels: Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, Ausg. Schriften II, S. 331).
Max hat bereits in einem seiner Frühwerke die Frage des Verhältnisses zwischen verbaler und handfester Bewaffnung mit dem berühmten Ausspruch „die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt (...)“ (Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. I, S. 18) treffend auf den Punkt gebracht. Marx und Engels forderten den proletarischen Selbstschutz, der sich in der Bildung einer proletarischen Garde“ manifestieren sollte: „ (...) die Arbeiter (müssen) versuchen, sich selbständig als proletarische Garde, mit selbstgewählten Chefs und eigenem selbstgewählten Generalstab zu organisieren und unter den Befehl, nicht der Staatsgewalt, sondern der von den Arbeitern durchgesetzten revolutionären Gemeinderäte zu treten“ (Marx/Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW/7, S. 250). In der Bewaffnung sahen sie das zentrale Element des Selbstschutzes: „Die Waffen und die Munition dürfen unter keinem Vorwand aus den Händen gegeben, jeder Entwaffnungsversuch muss nötigenfalls mit Gewalt vereitelt werden“ (ebd.). Engels kam Im Kontext der Analyse des amerikanischen Bürgerkrieges (1881-1865) zu dem Ergebnis, dass lediglich eine bewaffnete „Freiwilligen-Bewegung“ aufgrund des geringen Organisationsgrades nicht ausreicht, um dauerhaft regulären Verbänden Paroli bieten zu können. Er mahnt: „Wir wollen hoffen, aß weder die Freiwilligen noch die Öffentlichkeit je glauben werden, die Freiwilligen-Bewegung könne in irgendeiner Weise eine reguläre Armee überflüssig machen‘ (Engels: Lehren des amerikanischen Krieges, MEW/15, S. 404).
Engels sah in den reaktionären stehenden Heeren der bourgeoisen Staatsapparate eine permanente Gefahr eines „allgemeinen Vernichtungskrieges (...), es sei denn, die stehenden Heere werden rechtzeitig umgewandelt in eine auf allgemeiner Volksbewaffnung beruhenden Miliz“ (Engels: Kann Europa abrüsten, Ausg. Schriften II, S. 650). In dieser Spätschrift Engels von 1893, in der es um die massive Aufrüstungspolitik der großen europäischen Staaten geht, sieht er den „Hebel der Abrüstung“ in einem „Milizsystem als Endziel“ (ebd., S. 653-654).
In seinem „Anti-Dühring‘ stellt Engels in denn Kapitel „Gewalttheorie“ den Zusammenhang zwischen der Gewalt der Kriegsmaschinerie und den Produktivkräften her. Er meint wörtlich, dass, nichts abhängiger von ökonomischen Vorbedingungen als grade die Armee und Flotte (ist). Bewaffnung (.), Taktik und Strategie hängen vor allem ab von der jedesmaligen Produktionsstufe (...)“ (Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“), Ausg. Werke Marx/Engels Bd. V, S. 184). Daneben verweist Engels aber auch auf die wichtige progressive Funktion der „Gewalt“, denn „die Gewalt (spielt) aber noch eine andre Rolle in der Geschichte, eine revolutionäre Rolle, dass sie, Marx Worten, die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft ist, die mit der neuen schwanger geht, dass sie das Werkzeug ist, womit sich die gesellschaftlichen Bewegung durchsetzt und erstarrte, abgestorbne politische Formen zerbricht (…)“ (ebd., S. 203).
In der Artikelserie „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“, die Engels mit Marx Unterschrift verfasst hat, Ist eine Definition des Aufstandes geliefert worden, die auch heute immer wieder zitiert wird: „Nun ist der Aufstand eine Kunst, genau wie der Krieg oder Irgendeine andere Kunst, und gewissen Regeln unterworfen, deren Vernachlässigkeit zum Verderben der Partei führt (.) Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht fest entschlossen ist, alle Konsequenzen des Spiels auf sich zu nehmen (...) Zweitens, hat man einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handle man mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive Ist der Tod jedes bewaffneten Aufstands (...) überrasche deinen Gegner, solange seine Kräfte zerstreut sind, sorge täglich für neue, wenn auch noch so kleine Erfolge (..) zwinge deine Feinde zum Rückzug, noch ehe sie Ihre Kräfte gegen dich sammeln können (...)“ (Engels: Revolution und Konterrevolution in Deutschland, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. II, S. 283-284).
Wir wollen auf den Beitrag „Einleitung zur Einzelausgabe von Karl Marx „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ von Engels gesondert eingehen, da dieser kurz vor seinem Tod (1895) verfasst und oft als sein „politisches Testament“ begriffen wurde. Dieser Text wurde, weil er der letzte von Engels war, geradezu zwangsläufig zu einem Gegenstand höchst unterschiedlicher Interpretationen. Die revisionistische Strömung innerhalb der Sozialdemokratie versuchte den Inhalt dieses Textes für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, um sich damit die direkte Nachkommenschaft des verstorbenen Engels zu sichern. Worin bestand nun das Kontroverse in diesem Beitrag? Dieser Text ist in einer Zeit entstanden, in der in Deutschland keine unmittelbare eskalierte Situation vorherrschte und die Monarchie gesellschaftlich gefestigt schien. Zudem kam hinzu, dass sich die Artikulationsformen für die Sozialdemokratie nach dem Ende des sog. „Sozialistengesetz“, das von 1878 bis 1890 bestand hatte, vergrößert hatten. De Kampf für soziale Veränderungen wurde verstärkt publizistisch und in Form von öffentlichen Versammlungen und in den Parlamenten geführt. Engels reflektiert in diesem Beitrag diese zum Teil veränderte gesellschaftliche Situation und fragt, welche Taktiken und Strategie die revolutionäre ArbeiterInnenbewegung unter den Bedingungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts erfolgsversprechend anzuwenden hätte. Der Knackpunkt, der zu den verschiedenen Interpretationen führte war, dass Auszüge dieses Artikels im „Vorwärts“ erschienen, die den Eindruck hinterlassen mussten, als sei Engels auf einen einseitigen legalistischen und parlamentarischen Kurs umgeschwenkt. Engels unterzieht der alten Barrikadentaktik von Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts eine schonungslose Kritik, in dem er schreibt, dass „die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, bedeutend veraltet (war)“ (Engels: Einleitung zur Einzelausgabe von Karl Marx „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. VI, S. 464). Einige Seiten vorher merkt er an, dass es für eine Klasse mit Massenanhang und schon gar nicht für eine elitäre Minorität möglich sein wird, „die soziale Umgestaltung durch einfache Überrumpelung zu erobern“, sondern, dass man „in hartem, zähen Kampf von Position zu Position vordringen muss“ (ebd. S. 460). Aufgrund der modernen militärischen Aufrüstung der Reaktion und den architektonischen Veränderungen in den Städten (lange, grade und breite Straßen) ist ein Barrikadenkampf nach altem Muster nicht mehr führbar. Zumal „ein wirklicher Sieg des Aufstandes über das Militär im Straßenkampf (…) zu den größten Seltenheiten (gehört)“ (ebd. S. 464-465). Dennoch schließt Engels den Straßenkampf für die Zukunft nicht aus, schränkt aber ein, dass dieser „seltener im Anfang einer großen Revolution vorkommen (wird) als im weiteren Verlauf einer solchen und mit größeren Kräften unternommen werden“ (ebd. S. 468) muss.
Engels war vor dem Hintergrund, dass „die Zeit für Überrumpelungen, der von kleinen Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen vorbei (ist)“ (ebd. S. 468), klar, dass es zur Bewusstmachung der Massen und der Organisierung des Aufstandes „langer, ausdauernder Arbeit (bedarf)“ (ebd. S. 468). Seine Ausführungen zum parlamentarischen System sind nur im Wissen dieser Intentionen verständlich, wenn er das Plädoyer dafür hält, das parlamentarische Anwachsen zu fördern und das Rednerpult für agitatorische Zwecke zu gebrauchen, sowie sich nicht in „Vorhutkämpfen“ aufzubrauchen und die aufgebauten Strukturen „bis zum Tag der Entscheidung (intakt zu erhalten)“ (ebd. S. 471), oder, dass sich die Bourgeoisie mehr vor „Wahlerfolgen“ der Sozialdemokratie als vor der „Rebellion“ (ebd. S. 464) fürchtet, können vermuten lassen, als sei Engels während seiner letzten Atemzüge noch zu einem glühenden Anhänger des Parlamentarismus geworden.
Wir haben versucht aufzuzeigen, dass diese Formulierungen Ergebnis einer taktischen Überlegung waren in einer Zeit, in der sowohl der alte Barrikadenkampf an Grenzen gestoßen als auch der Bewusstseinsprozess der proletarischen Massen noch nicht weit genug fortgeschritten war; das Parlament bot sich als Agitationsraum an. Engels hat nie „das Recht auf Revolution“ (ebd. S. 469) in Abrede gestellt; stattdessen hat er vergangene (gescheiterte) Aufstandsprozesse analysiert und Wege für einen zukünftigen (erfolgreichen) Revolutionsverlauf skizziert.
In den politischen und philosophischen Schriften von Karl Marx (1818-1883) finden sich immer wieder Passagen, die man gerne zum revolutionären Standartrepertoire erklären möchte. Auch wir haben ab und an einige dieser prägnanten Aussagen in unseren Texten zitiert. Auch wenn Marx im Gegensatz zu Engels keine derart ausführliche militärtheoretischen Schriften vorgelegt hat, so sind doch verschiedene seiner geistreich und knapp formulierten Gedanken zu einem Leitfaden geworden. Bereits in seinem Werk „Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie“ ist die zentrale Bestimmung der sozialen Revolution angelegt, denn es ist die Aufgabe „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (vgl. Ausg. Werke Marx/Engels Bd. I, S. 18). Zudem schreibt er hinsichtlich der materiellen Grundlage des Entwurfs einer Revolution, dass „die Theorie in einem Volke immer nur so weit verwirklicht (wird), als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist“ (ebd. S. 19). Den Charakter proletarischer Revolutionen hat Marx klar umrissen, sie „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen (...) Marx, K: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. II, S. 312).
Marx hat (z.T. mit Engels gemeinsam) vor diesem definitorischen Hintergrund zuweilen von einer „permanenten Revolution“ gesprochen, die nicht bei dem Stadium einer bürgerlich-demokratischen stehen bleibt, sondern weiterstrebt. Nach Marx ist der Kommunismus „die Permanenzerklärung der Revolution, die Klasseendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlicher Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen hervorgehen“ (Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW 7, S. 89-90). Der „Schlachtruf“ der proletarischen Partei, der bereits kurz nach der 48-Revolution ausgegeben wurde, lautet: „Die Revolution in Permanenz“ (Marx/Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW 7, S. 254).
In Bezug auf den Staatsstreich Napoleon Bonapartes am 9. November 1799 (18. Brumaire), der das Ende des (permanenten) Prozesses der Französischen Revolution und der folgenden jakobinischen Herrschaft Robespierres und Saint-Justs markierte, sprachen Marx und Engels davon, dass „er (Napoleon, Anm. mg) den Terrorismus (vollzog), indem er an die Stelle der permanenten Revolution den permanenten Krieg setzte“ (Ausg. Werke Bd. I, S. 122). Napoleon ersetzte die revolutionäre Jakobinerdiktatur durch eine autokratische Militärdiktatur, die Frankreich in einen ununterbrochenen Kriegszustand mit den wichtigsten europäischen Mächten (u.a. Preußen und Russland) führen sollte. Wir werden, wenn wir uns mit den theoretischen und praktischen Ansätzen in Trotzkis Schriften befassen, erneut auf den Begriff der „permanenten Revolution“ stoßen, der in der Auslegung Trotzkis zum Gegenstand heftiger Debatten wurde.
Marxens materialistische Geschichtsauffassung impliziert, dass erst die Entwicklung der industriellen Bourgeoisie die Entwicklung des industriellen Proletariats bedingt und demzufolge das Tor zur sozialen Erhebung aufmacht. „Ihre Herrschaft“, die der Bourgeoisie, „reißt erst die materiellen Wurzeln der feudalen Gesellschaft aus und ebnet das Terrain, worauf alleine eine proletarische Revolution möglich ist“ (Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, Ausg. Werke Bd. II, S. 20). Eine tief greifende soziale Eruption leitet Marx aus der Produktivkraftentwicklung und den zu eng gewordenen Produktionsverhältnissen ab: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen (…), innerhalb derer sie sich bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein (…)“ (Marx, K: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 9). In der 3. These über Feuerbach hat Marx die Bedingtheit von gesellschaftlicher und individueller Veränderung in einem revolutionären Prozess deutlich gemacht: „Das Zusammenfallen des Änderns der umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und verstanden werden“ (Ausg. Werke Bd. I, S. 199).
Marx hat seine „allgemeinen Resultate“ (Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 8), die er aus der Geschichts- und Gesellschaftsbetrachtung gewann, vor deterministischen Deutungen in Schutz zu nehmen versucht; es gibt keinen „Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein“ (Marx, K: Brief an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski“, MEW 19, S. 112). Diese Aussage bedeutet also, dass aus der materialistischen Geschichtsauffassung der Zeitpunkt einer sozialen Revolution nicht einfach destilliert und einem fatalistischen Automatismus unterworfen werden kann.
Die revolutionäre Konfrontation in einer Klassengesellschaft, d.h. der antagonistische Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie, nimmt nach Marx den Zustand des Kampfes, Klasse gegen Klasse an, „der, auf seinen höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet“ (Marx, K: Das Elend der Philosophie Ausg. Werke Marx/Engels Bd. I, S. 311-312). Die Entschlossenheit und Notwendigkeit eines revolutionären Aufhegehrens für den Kommunismus wird mit Nachdruck unterstützt, indem davon gesprochen wird, „dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden“ (Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, Ausg. Werke Bd. I, 231).
Verschiedene frühere und moderne revisionistische Strömungen innerhalb der Linken versuch(t)en Marx zu einem Anhänger des Legalismus und Parlamentarismus zu reduzieren. Sie führen hierbei immer das gleiche Zitat an, in dem Marx folgendes ausführt: „Gewinnt z.B. in England oder in den Vereinigten Staaten die Arbeiterbewegung die Majorität im Parlament oder Kongress, so könnte sie auf ganz gesetzlichem Weg die ihrer Entwicklung im Weg stehenden Gesetze und Einrichtungen beseitigen, und zwar auch nur, soweit die gesellschaftliche Entwicklung dies erfordere. Dennoch könnte die „friedliche“ Bewegung in eine „gewaltsame“ umschlagen durch, Auflehnung der am alten Zustand Interessierten; werden sie (...) durch Gewalt niedergeschlagen, so als Rebellen gegen die „gesetzliche“ Gewalt“ (Marx: MEW 34, S. 495f.). Selbst mit dieser Aussage von Marx ist es unmöglich, ihn zu „pazifizieren“, da das „gewaltsame Umschlagen“ der Politik der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen manifest bleibt.
Wir wollen uns abschließend mit den Ansichten von Marx und Engels über anarchistische Methoden des revolutionären Kampfes mit der „Propaganda der Tat“ und den von einer klandestinen „Verschwörergruppe“ getragenen Insurrektionen (Aufständen) befassen. Dabei werden wir primär die Aussagen aufgreifen, die sich auf Bakunin und die russischen Narodniki beziehen. Die eher politisch-philosophischen Auseinandersetzungen mit den idealistischen Theoremen bei Proudhon oder Stirner, die Marx und Engels in den Werken „Die deutsche Ideologie“ und „Das Elend der Philosophie“ führten, bleiben hier unbeachtet. Wir wollen uns auf die Textstellen bei Marx und Engels konzentrieren, die eine Kritik an den Aufstandskonzepten der AnarchistInnen beinhalten.
Anfangen wollen wir aber mit einer Polemik von Engels gegen den radikal-demokratischen Aktivisten Karl Heinzen, der in den Jahren vor der 48er-Revolutionen durch eine Reihe von Flugschriften für einiges Aufsehen erregte. Heinzen war ursprünglich als ein liberal gesinnter Beamter kein Anhänger einer Auffassung, die über eine zukünftige Verwirklichung der republikanischen Idee hinausging. Aufgrund von Buchveröffentlichungen, die den bürokratischen Apparat in Preußen kritisierten, befand er sich auf der Flucht. Da ihm der gesetzliche Widerstand gegen gesellschaftliche Verhältnisse nun unmöglich erschien, wurde er Revolutionär (vgl.: Engels: Die Kommunisten und Karl Heinzen, Ausg. Werke Bd. I, S. 314). Er idealisierte in seinem Text „Der Mord“ den Tyrannenmord als ein probates Mittel gegen die aristokratischen Herrschercliquen. Für ihn ist der Mord als Werkzeug der Reaktion in der Form der Todesstrafe oder des Krieges „das Hauptmittel der geschichtlichen Entwicklung (...), den Gegner aus der Welt zu schaffen“ (Autorenkollektiv: Theorien „terroristischer“ Gewalt, S. 102). Gegen eine jahrtausendealte Tyrannei der Herrschenden setzt Heinzen das Prinzip der Gegenwehr, die aufgrund des Grauens folgerichtig wird: „Sie (die Reaktion, Anm. mg) vernichten auf alle Weise, mit allen Mitteln, an allen Orten, das (die Gegenwehr, Anm. mg) drängt sie uns als Pflicht, als Gerechtigkeit, als Humanität auf“ (ebd., S. 105).
Der Auslöser für Engels Polemik, die in der kommunistischen Debatte schon immer eine mit spitzer Feder geschriebene literarische Auseinandersetzungsform ist, war ein Artikel Heinzens gegen den sich formierenden Kommunismus. Engels wendet sich hier vor allem gegen die moralisch vorgetragene und unmaterialistische Revolutionsvorstellung von Heinzen, die sich auf den Kampf gegen die Fürsten und für eine Republik der „schwarzrotgoldnen Schwärmerei“ (Engels: Die Kommunisten und Karl Heinzen, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. I, S. 315) beschränkt. Gegen die „platten Faseleien“, die Heinzen gegen die Kommunisten Mitte des 19. Jahrhunderts auffährt, setzt Engels eine Definition des kommunistischen Revolutionsverständnisses, die geradezu einen lexikalischen Wert besitzt; diese wollen wir euch und uns nicht vorenthalten: „Der Kommunismus ist keine Doktrin, sondern eine Bewegung; er geht nicht von Prinzipien sondern von Tatsachen aus. Die Kommunisten haben nicht diese oder jene Philosophie, sondern die ganze bisherige Geschichte und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate in den zivilisierten Ländern zur Voraussetzung (...) Der Kommunismus, soweit er theoretisch ist, ist der theoretische Ausdruck der Stellung des Proletariats in diesem Kampfe und die theoretische Zusammenfassung der Bedingungen der Befreiung des Proletariats“ (ebd., S. 328).
Dieser kleine Ausflug in die Vorstellungswelt eines Heinzens soll nur zeigen, dass ein von der marxistischen Linken kritisierter „Revolutionismus“, der weder konkret die Klassenverhältnisse noch die ökonomischen Parameter zu analysieren weiß, nicht allein bei anarchistischen Protagonisten anzutreffen ist.
Wir wollen jetzt auf das Verhältnis von Marx und Engels zu Bakunin und den russischen Narodnikl eingehen. Das Verhältnis zu Bakunin war nicht von Beginn an gespannt, im Gegenteil, Bakunin übersetzte die erste russische Ausgabe des „Manifestes der Kommunistischen Partei“ (Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Ausg. Werke Bd. I, S. 387) und wurde im Zusammenhang mit dem Straßenkampf in Dresden im Mai 1849 von Engels als „ein fähiger, kaltblütiger Führer“ (Engels: Revolution und Konterrevolution in Deutschland, Ausg. Werke Bd. II, S. 289) bezeichnet. Nichtsdestotrotz wurde Bakunin später einer idealistischen von Hegel inspirierten Philosophierichtung zugeordnet: „Stirner blieb ein Kuriosum, selbst nachdem Bakunin ihn mit Proudhon verquickt und diese Verquickung „Anarchismus“ getauft hatte“ (Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. VI, S. 295), Erst In dem oben bereits beschriebenen Konflikt innerhalb der I. Internationale, in der Bakunin versuchte mit seiner „Allianz der sozialistischen Demokratie“, die als Minderheitsflügel aus der bürgerlich-pazifistischen „Liga für Frieden und Freiheit“ hervorgegangen war, „eine Internationale in der Internationale“ (Marx/Engels: Die angeblichen Spaltungen in der internationale, Ausg. Werke Bd. IV, S. 118) zu bilden, traten die Differenzen hervor. Bereits die „Liga“ war als bürgerliches Konkurrenzprodukt zur Internationale entstanden. Die „Intrigen Bakunins“ (ebd., S. 117), die sich nach dem Baseler Kongress von 1869 entwickelten, auf dem ein Antrag zur Abschaffung des Erbrechts von der Bakunin-Fraktion mehrheitlich abgelehnt wurde, äußerten sich darin, das massiv gegen eine vermeintliche „Diktatur des Generalrates“ der Internationale gewettert und für eine Desorganisierung der Internationale in Form eines „Föderalismus“ votiert wurde, Dieser Konflikt innerhalb der Internationale, der oft auf eine Personalisierung Marx vs. Bakunin eingeengt wurde, war in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung über grundlegende Fragen der Organisations- und Aufstandspolitik. Auf dem Haager Kongress der Internationale von 1872 kam es entlang dieser Konfliktlinie zur offenen Spaltung. Daraus folgte u.a. 1876 die Auflösung der I. Internationale.
Marx hat gegen den „politischen Indifferentismus“ der Anarchistlnnen, der jede politische Aktion wie die Gründung einer revolutionären Partei oder den Kampf für Reformen ablehnt, Einspruch erhoben, indem er sagte, dass „man all diese Kampfmittel der heutigen Gesellschaft entnehmen muss und weil die fatalen Bedingungen dieses Kampfes das Unglück haben, sich nicht den idealistischen Phantasien anzupassen, die diese Doktoren der Sozialwissenschaft unter den Namen Freiheit, Autonomie, Anarchie zur Gottheit erhoben haben“ (Marx: Der politische Indifferentismus, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. IV, S. 282).
Engels versuchte in einem Artikel gegen die oft von Bakunin gebrauchte Formel der „autoritären Kommunisten“ den rationalen Kern der „Autorität“ herauszuarbeiten, Engels unterstreicht, dass die materiellen Bedingungen unter denen produziert wird, um sich und eine Gesellschaft zu reproduzieren, einen technokratischen Charakter aufweisen. Die Organisation eines Wirtschaftsprozesses wird nicht frei von autoritären Zügen sein. Engels schreibt, dass „der mechanische Automat einer großen Fabrik um vieles tyrannischer (ist), als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind, die Arbeiter beschäftigen“ (Engels: Von der Autorität, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. IV, S. 289). Und bezüglich der proletarischen Revolution bemerkt er, dass „eine Revolution gewiss das autoritärste Ding (ist), das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partei muss, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen“ (ebd., S. 291).
In einem weiteren Artikel, der nach der Spaltung der Internationale geschrieben wurde, unternimmt Engels eine Generalabrechnung mit den bakunistischen Aufstandsversuchen in diversen europäischen Ländern, die sich alle durch ihre Kurzlebigkeit und ihr folgerichtiges Scheitern auszeichnen. Am Beispiel des Aufstandes in Spanien im Jahre 1873 für eine föderative Republik, in dem die Anhängerinnen von Bakunins Allianz mehrere unkoordinierte Aktionen unternahmen und sich von ihren hehren Zielen wie der Nichtbeteiligung an bürgerlichen Regierungen verabschiedeten, versuchte Engels die Konzeptionslosigkeit des Anarchismus in explosiven gesellschaftlichen Situationen aufzuzeigen. Engels polemisierte gegen „das ultrarevolutionäre Geschrei der Bakunisten“, das „sobald es zur Tat kam, entweder in Abwiegelei oder in von vornherein aussichtslosen Aufständen oder in dem Anschluss an eine bürgerliche Partei, die die Arbeiter schmählichst politisch ausbeutete und sie obendrein mit Fußtritten behandelte“ (Engels; Die Bakunisten an der Arbeit, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. IV, S. 316), endete.
Grundsätzlich gilt für Marx und Engels die Regel, dass Revolutionen das geschichtliche Ergebnis eines organisierten Klassenkampfes der unterdrückten und ausgebeuteten Massen und nicht das Werk von idealistischen EinzelkämpferInnen der „Propaganda der Tat“ sind. Einschränkungen machten Marx und Engels immer dann, wenn sie unter Berücksichtigung der materialistischen Analyse der Situation eines jeweiligen Landes, bestimmte Methoden des „individuellen Terrors“ In einem speziellen Kontext implizit guthießen. So finden sich verschiedene Aussagen, dass die Narodniki wenigstens etwas unternähmen und die mischen Freiheitskämpfer mit ihren Aktionen „die Katastrophe des offiziellen England vorantreiben“ (Marx: Marx an Paul und Laura Lafargue, MEW 16, S. 87) würden. In Bezug auf das Attentat gegen Zar Alexander II. am 13. März 1881 bezeichnete Engels dies als einen „der Ausnahmefälle, in denen es einer Handvoll Leute möglich ist, eine Revolution zu machen, d.h. durch einen kleinen Anstoß ein ganzen System zu stürzen, dessen Gleichgewicht mehr als labil ist (...), und durch einen an sich unbedeutenden Akt Explosivkräfte freizusetzen, die dann nicht mehr zu zähmen sind“ (Engels: Engels an Vera Iwanowna Sassulitsch in Genf, Ausg. Werke Bd. VI., S. 523). Engels sieht in solchen Aktionen lediglich einen Katalysator für einen revolutionären Prozess, der, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen gegeben sind, zu nachhaltigen Erschütterungen des Herrschaftsgefüges führen kann. Engels schreibt: „Die Hauptsache ist meiner Meinung nach, dass der Anstoß in Russland gegeben wird, dass die Revolution ausbricht. Ob nun diese oder jene Fraktion das Signal gibt (...), interessiert mich nicht“ (ebd., S. 523-524). Bei diesen beiden Bemerkungen handelt es sich sozusagen um kontextgebundene Ausnahmen, die keinen Voluntarismus und Subjektivismus propagieren, sondern auf die Funktion eines „aktionalen Startschusses“ verweisen.
Den Blanquisten, die sich aus der internationale zurückzogen und mit der sog. revolutionären Kommune eine eigene Struktur bildeten sowie sich 1814 ein eigenes Programm gaben, hielt Engels entgegen, dass bei ihnen der „Grundsatz durch(geht): dass Revolutionen überhaupt nicht sich selbst machen, sondern gemacht werden; dass sie gemacht werden von einer verhältnismäßig geringen Minderzahl und nach einem vorher entworfenen Plan; und endlich, dass es jederzeit „bald losgeht“. Mit solchen Grundsätzen ist man natürlich sämtlichen Selbsttäuschungen (...) unrettbar preisgegeben und muss man sich aus einer Torheit in die andre stürzen. Man will vor allem Blanqui, Mann der Tat, spielen“ (Engels: Flüchtlingsliteratur, Ausg. Werke Marx/Engels Bd. IV., S. 129). Der Hang zur spektakulären Aktion, die ein großes öffentliches Aufsehen erregen und ein starkes persönliches Ansehen erzeugen soll, ist von Marx und Engels an verschiedenen Stellen kritisiert worden. Engels streicht heraus, dass „es immer wieder Menschen gibt, die groß sein wollen und auf diese billige Tour eine wichtige Rolle spielen können“ (Engels: Engels an J. Becker in Genf, MEW 19, S. 214).
Marx erwähnt des Weiteren, dass bei dieser Aktionsform immer ein Motiv der Schicksalsergebenheit mitspielt: „Es entwickelt sich immer eine gewisse Fatalität bei solchen geheimen, melodramatischen Arten von Verschwörungen“ (Marx: Marx‘ an Engels, MEW 16, S. 98).
Ein Aspekt, der in der Debatte mit den Positionen der Narodniki von Engels aufgeworfen wurde, wollen wir nicht unerwähnt lassen. in einer Polemik mit dem russischen Narodniki Tkatschow und dessen Revolutionsvorstellung fragt Engels süffisant „(...) was wird das Resultat dieser Revolution sein? Herr Tkatschow sagt, sie wird eine soziale sein. Das ist reine Tautologie. Jede wirkliche Revolution ist eine soziale, indem sie eine neue Klasse zur Herrschaft bringt und dieser gestattet, die Gesellschaft nach ihrem Bilde umzugestalten“ (Engels: Soziales aus Russland, Ausg. Werke Bd. IV., S. 349). Bereits in seiner frühen Wirkungsphase hat Marx in einer Glosse im „Vorwärts“ den „Unsinn“ einer inhaltlichen Trennung von „sozialer“ und „politischer Revolution“ karikiert. Er wendet sich gegen die ausschmückende Umschreibung einer „sozialen Revolution mit einer politischen Seele“ indem er ausführt, dass „jede Revolution die alte Gesellschaft auf(löst); insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch.“
(Marx, K.: Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen“. Ausg. Werke Bd. 1., S. 32). Allerdings bleibt anzumerken, dass Marx den Begriff „soziale Revolution“ in seinen Texten durchaus gebrauchte (vgl. weiter oben).
Für eine militante Plattform – für einen revolutionären Aufbauprozess – für den Kommunismus!
militante gruppe (mg), Juli 2004