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14. Juni 2001 | militante gruppe (mg)

Interim Nummer 529 vom 28. Juni 2001, Seite 20 bis 21

Die „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ zur Rechenschaft ziehen – Wolfgang Gibowski, Manfred Gentz und Otto Graf Lambsdorff ins Visier nehmen!

Wir haben Gibowski, Gentz und Lambsdorff eine scharfe Patronenkugel persönlich über den Postweg geschickt. Am 12. Juni haben wir dies in einem ersten kurzen Schreiben dokumentiert. Diese symbolische Aktion ist Ausdruck unseres militanten Widerstandes gegen die geschichtliche Entsorgungspolitik der Stiftungsinitiative und ihres Schlußstrich-Projektes. Über die Stiftungsinitiative entledigt sich der BRD-Staat und das BRD-Kapital so kostenneutral wie möglich seiner NS-Verbrechen.

Unsere Aufgabe als linksradikale AktivistInnen ist es, den Akteuren dieser perfiden Politik ihre Selbstzufriedenheit und Selbstsicherheit zu nehmen. Wir haben diesen drei Personen eine Kugel zukommen lassen, um damit unmißverständlich zu erklären, dass sie auch perspektivisch für ihre Handlungen und ihr Verhalten zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Die geführte Debatte um die „Entschädigung“ der ZwangsarbeiterInnen belegt exemplarisch die Hegemonie der Herrschenden über den Verlauf und das Ergebnis der Diskussion und die Unfähigkeit der radikalen Linken, den herrschenden Diskurs zu stören und zu verschieben.

Dies muß anders werden; die Initiative muß von uns ausgehen!

Der militante Angriff auf die Person Gibowski am 8. Mai – dem Tag des Sieges der Roten Armee über den Nazismus – in Hamburg war ein erster in die richtige Richtung.

Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft

Am 16. Februar 1999 trafen sich Vertreter der Bundesregierung und Vertreter von 12 deutschen Unternehmen (Allianz AG, BASF AG, BMW AG, Bayer AG, VW AG, Siemens AG, Hoechst AG, ThyssenKrupp AG, Dresdner Bank AG, Deutsche Bank AG, DaimlerChrysler AG und Degussa-Hüls AG) zu ihrer konstituierenden Sitzung.

Ohne Beteiligung von ZwangsarbeiterInnen wurde die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ als Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft ins Leben gerufen. Eine Verhöhnung jeglicher antifaschistischer Gesinnung. Die ersten Angebote der Stiftung (u.a. 2 Milliarden DM) wurden zu Recht von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen als Witz bezeichnet.

Eine weitere perfide Methode der Stiftungsinitiative war eine Differenzierung der Zwangsarbeiterinnen in verschiedene Kategorien (Kategorie A = Zwangsarbeiter, die in KZ’s inhaftiert waren; Kategorie B= Zwangsarbeiter, die nicht in KZ’s inhaftiert waren.), um die gemeinsame Organisierung von ZwangsarbeiterInnen zu behindern und die Gruppen zu spalten. Die ehemaligen polnischen Landarbeiterinnen wurden nicht berücksichtigt. Besonders der Regierungsbeauftragte für die Entschädigungsproblematik Lambsdorff agierte menschenverachtend und nannte die Beschäftigung polnischer Landarbeiterinnen eine „natürliche historische Erscheinung“.

Im Dezember 2000 erhöhte die deutsche Industrie und Regierung ihr Angebot unter dem Druck der Öffentlichkeit auf 10 Milliarden DM. 5 Milliarden bringt die Bundesregierung auf, 5 Milliarden die deutschen Unternehmen. Die deutsche Industrie kann ihren Beitrag von der Steuer absetzen und zahlt de facto nur 2,5 Milliarden DM.

Gleichzeitig sollen Personen, die bei der Stiftung Leistungen beziehen wollen, ein „Schlußattest“ unterzeichnen, damit würden sie den Verzicht auf alle Forderungen gegen alle deutsche Unternehmen besiegeln. Für die ehemaligen polnischen LandarbeiterInnen ist keine direkte Entschädigung vorgesehen, nur die Partnerstiftungen in den jeweiligen Ländern können entscheiden, ob sie die LandarbeiterInnen entschädigen wollen, jedoch darf der Betrag für ZwangsarbeiterInnen der Kategorie A nicht verringert werden. Damit stehen die LandarbeiterInnen in Konkurrenz mit den ZwangsarbeiterInnen der Kategorie B, um die restliche Summe. Eine widerliche Situation, die Gibowski, Gentz & Co. zu verantworten haben!

In einem Gutachten weist der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski eindeutig nach, dass mindestens 180 Milliarden DM als Rückzahlung vorenthaltener Löhne von der deutschen Industrie geleistet werden müßten. Dies umfaßt nicht eine Entschädigung für die gesundheitlichen Folgen, der menschenverachtenden Ausbeutung der Zwangsarbeiterinnen durch die NS-Industrie und den NS-Staat.

Die Zahlungsverweigerungspolitik der Stiftungsinitiative gegenüber den Zwangsarbeiterinnen

Mit taktischen Winkelzügen versuchte und versucht die „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“, vertreten durch ihre von uns ins Visier genommenen Exponenten, die Auszahlung von Geldern an die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen zu behindern oder zu verhindern.

Die Botschaft heißt: Die Ausbeutung von ZwangsarbeiterInnen lohnt sich. Die Stiftungsinitiative beharrt weiterhin darauf, dass deutsche Unternehmen wegen der Beschäftigung von ZwangsarbeiterInnen von Klagen verschont bleiben und ihnen keine juristischen und geschäftlichen Hindernisse in den Weg gelegt werden.

So mußte die New Yorker Richterin Kram nach ihrer Abweisung der Sammelklagen bei gleichzeitiger Forderung, dass die Stiftung Entschädigungsansprüche von NS-Opfern für verlorenes Vermögen bei österreichischen Banken zu übernehmen habe, sich von dem Sprecher der deutschen Wirtschaft, Wolfgang Gibowski, anhören lassen: „Eine schnelle Auszahlung erreichen wir nur, wenn wir hart bleiben.“ Dies sei eine „inakzeptable Bedingung“. Die Stiftungsinitiative sei verpflichtet erst dann ihren Anteil zu zahlen, wenn alle Klagen zurückgewiesen seien.

Erst auf Druck der Öffentlichkeit und der Feststellung der „ausreichenden Rechtssicherheit für die Wirtschaft“ durch den Bundestag, können die Auszahlungen beginnen.

Aber Gibowski & Co. lassen nicht locker, es solle die volle Summe nicht gleich bereitgestellt werden, zunächst würden erst 3 Milliarden gezahlt werden, der Rest folge. Der widerliche Gibowski erklärt sinngemäß, dass von einer Fälligkeit der Zahlungen in der Sekunde in der Abschlußerklärung zu den Entschädigungsverhandlungen keine Rede war.

Wolfgang Gibowski hat die Feststellung der Rechtssicherheit solange hinausgezögert, um mit den anfallenden Zinsen bestehende finanzielle Lücken zu schließen. Es werden nur die schriftlich zugesagtem 100 Millionen DM Zinsen ausgezahlt. Wieder ist Wolfgang Gibowski zur Stelle: „Wir betrachten es als Entgegenkommen, dass wir die 100 Millionen schon vor der Einzahlungen erwirtschaftet haben und überweisen werden. Wir müßten dies nicht tun. Die Zinsen gehören nicht den Opfern, sondern denjenigen, die das Kapital eingezahlt haben“.

Die Kontinuität der Zahlungsverweigerung in der BRD gegenüber ZwangsarbeiterInnen

Ein wesentliches Element in der Entschädigungsdebatte ist die Rechtsprechung der bundesdeutschen Gerichte zur Zwangsarbeit. Das Londoner Schuldenabkommen, das zwischen der BRD und 33 ehemaligen Kriegsgegnern abgeschlossen wurde, verlangte von der BRD die Begleichung der Vor- und Nachkriegsschulden, die Forderungen von Zwangsarbeiterinnen aus diesen Staaten wurden mit dem Hinweis abgelehnt, dies sei nur durch eine endgültige Regelung der Reparationsfrage möglich, bei Abschluss eines Friedenvertrages.

Erst der im Zuge des Anschlusses der DDR 1991 abgeschlossene 2+4 Vertrag hat das Klagehindernis des Londoner Schuldenabkommens aus dem Weg geräumt. Dazu kam eine Veränderung der Rechtsprechung durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13.5.96: Zwangsarbeiterinnen mußten sich nicht mehr über ihr Heimatland an die deutschen Unternehmen wenden, sondern konnten dies nun direkt tun.

Es erfolgten viele Klagen gegen deutsche Wirtschaftsunternehmen über die Arbeitsgerichte. Allerdings wurde bald die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte für die Klagen der Zwangsarbeiterinnen aufgehoben. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) argumentierte, die Zwangsarbeiterinnen seien keine Arbeitnehmer im rechtlichen Sinne, da sie nicht aufgrund freiwillig eingegangener Verpflichtungen gearbeitet hätten!

Die deutsche Industrie wurde so immer wieder von der politischen Justiz vor den Entschädigungsforderungen der Zwangsarbeiterinnen geschützt!

Erst unter dem Druck zunehmender Klagen und der Gefahr das deutsche Unternehmen vor US-Gerichten belangt werden könnte, wurde eine politische Lösung von der neu gewählten Bundesregierung angestrebt. Es sollten von Klagen bedrohte Unternehmen zusammengerufen werden um einen Fond zur Entschädigung von Zwangsarbeiter zu eröffnen. Dies war dann die Geburtsstunde der Stiftungsinitiative.

Die Deutsche Wirtschaft und Regierung wollen sich absichern, um weitere Zahlungen zu verhindern. Es geht den Herrenmenschen Lambsdorff, Gibowski, Gentz nicht um Entschädigung und Rechtssicherheit für ehemalige Zwangsarbeiterinnen, sondern um die Rechtsicherheit der deutschen Wirtschaft. Außerdem will man mit dem Deal das Ansehen der BRD und der deutschen Wirtschaft stärken, indem in Zukunft niemand wegen NS-Verbrechen gegen den Nachfolgestaat klagen darf. Diese Situation ist nicht neu, hier handelt es sich um eine besonders aggressive Variante deutschen Chauvinismus. Das Projekt der Normalisierung Deutschlands, die Relativierung der deutschen Verbrechen, sind ein wesentlicher Aspekt der „Berliner Republik“.

Für die Regierung der „Berliner Republik“ und die deutsche Industrie geht es um eine „endgültige Lösung des Problems“, dem finalen Schlußstrich im juristischen Sinne, der gezogen werden soll unter die Verbrechen, die im Nazismus von Deutschen und deutschen Unternehmen begangen wurden.

Über 50 Jahre wurde den Zwangsarbeiterinnen des nazistischen Regimes jede Entschädigung für vorenthaltene Löhne verweigert. Die dramatischen gesundheitlichen Folgen, die seelische Ausbeutung, die Verschleppung aus ihren Heimatländern und der Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie gegen ihre Heimatländer sind sogar bis heute nicht Bestandteil der „Entschädigungsdebatten“.

14 Millionen Frauen und Männer wurden aus den europäischen Ländern zusammengetrieben und in deutschen Unternehmen unter menschenunwürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwungen. Dort wurden sie mit Essensentzug und anderen perfiden Schikanen gequält. Sie waren behördlichen und polizeilichen Anordnungen unterstellt. ZwangsarbeiterInnen mußten in der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft, in den kommunalen Betrieben der Städte und Gemeinden und in den privaten Haushalten schuften. Viele Zwangsarbeiterinnen starben oder wurden in Konzentrationslager verschleppt.

Die überlebenden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen sind sehr alt und oftmals krank. Ihre Angehörigen werden laut Stiftungsgesetz nichts bekommen, deshalb werden die Auszahlungen verzögert, damit sich das Problem „biologisch“ löst. Die Karte der „biologischen Lösung“ ist Gibowski, Gentz und Lambsdorff aus der Hand zu schlagen. Für uns als militante AktivistInnen steht eine Debatte um den Einsatz von weitergehenden Mitteln an; und zwar eine Debatte in alle erdenklichen Richtungen. Wir müssen die Ebene der reinen Proklamation von „revolutionären Ansprüchen“ verlassen, wenn unsere militante Politik zu einem wirkungsvollen Faktor in der Konfrontation bspw. mit der Stiftungsinitiative werden soll.

Kein Schlußstrich unter Nazi-Verbrechen!

180 Milliarden DM für die ZwangsarbeiterInnen sofort und Bedingungslos! Täter von Gestern und Heute zur Rechenschaft ziehen!

militante gruppe (mg), 14.06.2001