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23. September 2002 | Militante Antiimperialistische Gruppe –
Aktionszelle Pierre Overney

Interim Nummer 558, 10. Oktober 2002, Seite 6 bis 9

Anschlagserkärung

Im August 2002 lieferten französische Behörden das vermeintliche Mitglied der Roten Brigaden/Kämpfende Kommunistische Partei (BR/PCC), Paolo Persichetti, nach Italien aus. Dort wurde er 1991 in Abwesenheit zu einer Gefängnisstrafe von 22 Jahren verurteilt.

Diese Auslieferung ist als Startsignal der konservativen französischen Regierung zu werten, „ihrem Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus“ zu leisten und der Bitte der italienischen Justiz nachzukommen, weitere vermeintliche AktivistInnen der BR/PCC auszuliefern. Aus Solidarität mit den von Repression Betroffenen und den GenossInnen der BR/PCC, die in einer bewaffneten Aktion den Berater von Arbeitsminister Maroni, Marco Biagi, am 19.03.2002 hinrichteten und somit ihre politische Handlungsfähigkeit sowie die Notwendigkeit eines Befreiungskampfes auf antiimperialistischer und sozialrevolutionärer Basis bewiesen, haben wir am 23. September 2002 den FIAT-Vertragshändler Centro in Berlin in der Nonnendammallee 39/4 in Berlin-Spandau mit einem zeitverzögerten Brandsatz angegriffen.

Mit dieser Aktion sollte ein Unternehmen getroffen werden, das aufgrund seiner besonders repressiven Ausbeutung von ArbeiterInnen im Mittelpunkt des Kampfes der historischen BR stand. Diese militante Aktion steht in der Kontinuität unserer ersten gegen die Renault-Niederlassung in der Roedernallee in Berlin-Reinickendorf vom 10. Januar 2001 im Zusammenhang. mit dem Repressionsschlag des französischen und spanischen Staates gegen GenossInnen der PCE(r)/Grapo (siehe Interim Nr. 518). Wir werden unsere militanten Aktionen als Militante Antiimperialistische Gruppe – Aktionszelle Pierre Overney – im Rahmen des von der militanten gruppe (mg) initiierten Plattformprozesses fortsetzen (siehe Interim Nr. 550).

Der FIAT-Konzern und die proletarischen Kämpfe

Heute steckt der Konzern Fabbrica Italiana Automobili Torino (FIAT) in der schwersten Konjunkturkrise seiner Geschichte. Von dem, nach kapitalistischer Logik, folgenden Stellenabbau wären 30 000 Menschen betroffen, die Mehrheit davon im Großraum Turin. Die gegen die „Sanierungspolitik“ durchgeführten Streiks und Demonstrationen konnten nicht die Kraft und Mobilisierungsstärke der siebziger und achtziger Jahre erreichen.

Nach den Revolten von 1969 und den einsetzenden Produktivitätsverlusten bei Fiat entwickelte die Konzernleitung eine zweigleisige Taktik, um die politisch radikalen Teile der ArbeiterInnen zu isolieren und zu kontrollieren sowie im Gegenzug den passiv und reformistisch eingestellten ArbeiterInnen und großen Teilen der Gewerkschaften eine Dominanz in den Produktionsstätten von Fiat zu verschaffen.

Diese Zweigleisigkeit, der Fiat-Faschismus, setzte sich aus technisch-reproduktiver Restrukturierung und politischer Verfolgung zusammen.

Der „Heiße Herbst“ der Arbeiterbewegung 1969, der sich in Streiks, Sabotagen und Straßenschlachten Ausdruck verschaffte, sorgte auch für eine autonome Organisierung unter den Fiat-ArbeiterInnen. Mit diesen Organisationsstrukturen wurden radikale Taktiken im Kampf gegen Kurzarbeit, Lohnkürzungen, Entlassungen und die Umstrukturierung der Arbeit im Sinne der technokratischen Ausbeutung entwickelt. Bewusst wurden diese Arbeitskämpfe auch in Abgrenzung gegen reformistische Teile der Gewerkschaften geführt und fanden ihren Ausdruck in verschiedenen Widerstandsformen: Die Palette reichte vom Absentismus bis hin zu militanten Sabotageakten gegen technokratische Produktionseinrichtungen und Angriffe gegen faschistische Gewerkschafter und Arbeitsaufseher. Die Konzernbosse versuchten mit direkter Repression und technokratischen Umstrukturierungen diese Widerstands- und Organisationsformen der Fiat-ArbeiterInnen anzugreifen. „Flexibilität des Produktionsprozesses“, Neubestimmung der Einstellungspraxis, Bespitzelung und Denunziation von KaderInnen der autonomen Fabrikzellen durch faschistische GewerkschaftlerInnen waren Teile des Arsenals von repressiven Maßnahmen der Fiat-Konzernbosse. Durch die Einführung von Transfereinrichtungen und Robotern in bestimmten Bereichen der Fließbandproduktion wurde durch die Konzernleitung gezielt in den Arbeitssektoren mit der Entlassung von ArbeiterInnen begonnen, die aufgrund der besonderen Schwere, der Monotonie und Gesundheitsschädlichkeit der Arbeitstätigkeit am aufsässigsten waren und die Organisations- und Widerstandsmodelle innerhalb der Fabrik am konsequentesten versuchten in die Praxis umzusetzen. Durch die gezielte Einschleusung von Mitgliedern der faschistischen Gewerkschaft CISNAL gelang es den Konzernbossen zum Teil, die Organisationsstrukturen der ArbeiterInnen auszuspionieren und führende Kader in andere Bereiche zu versetzen oder teilweise durch das Konstruieren von Vorwürfen gleich zu entlassen.

Die Roten Brigaden und der bewaffnete Kampf

Erste Aktionen der Roten Brigaden, die 1972 damit begannen den militanten Widerstand gegen den Fiat-Faschismus durch den Aufbau einer logistischen Infrastruktur vorzubereiten, waren Angriffe mit Brandsätzen gegen Autos von Mitgliedern des Sicherheits- und Überwachungsdienstes von Fiat und Überfälle auf Büros der CISNAL und der UCID, dem rechten Unternehmerflügel der italienischen Christdemokraten. Durch diese ersten Aktionen sollte erreicht werden einen genaueren Einblick in die Struktur dieser Organisationen zu bekommen, Mitgliederdateien zu erbeuten und das Bewusstsein der radikalen ArbeiterInnenschaft zu stärken. Vor dem Hintergrund der verstärkten Repression im Winter 1972/73 gegen Protestformen der Fiat-ArbeiterInnen entführte eine Zelle der Roten Brigaden am 12.02.73 den Provinzsekretär der CISNAL in Turin. Nach einem Verhör, das den Roten Brigaden wertvolle Hinweise lieferte, wurde er an ein Werkstor gebunden und war dem stundenlangem Spott der Turiner Fiat-ArbeiterInnen ausgesetzt.

Einen vorläufigen Höhepunkt bedeutete die, mit Waffengewalt durchgesetzte, Besetzung des Turiner Fiat-Werkes durch ArbeiterInnen und Militante. Diese Aktion wurde als direkter, bewaffneter Kampf für den Kommunismus definiert, als frontaler Zusammenstoß mit dem Staat und dem Fiat-Faschismus und als absolute Notwendigkeit zur Oberwindung des Reformismus.

Die Entscheidung der Roten Brigaden 1970 den bewaffneten Kampf aufzunehmen (lotta armata) entstand aus der Erkenntnis, revolutionäre Veränderungen, die radikale Zerstörung der kapitalistischen Lebens- und Wirtschaftsweise, als objektive Notwendigkeit auszudrücken. Mit Hilfe einer schlagkräftigen Strategie sollte die Antwort auf die Frage geliefert werden, wie die Macht der herrschenden Klasse konkret gebrochen werden könne.

Die Roten Brigaden konzentrierten sich in der ersten Phase auf die Auseinandersetzungen in italienischen Großbetrieben wie FIAT, Pirelli und Sit-Siemens. Sie versuchten, den Kämpfen der radikalen ArbeiterInnenschaft Nachdruck zu verleihen und weiterzuentwickeln. Mit dem Reformismus der Gewerkschaften sollte radikal gebrochen, neue Organisationsformen und schließlich der Beginn des bewaffneten Kampfes sollten propagiert werden.

In der zweiten Phase ihres Kampfes verließen die Roten Brigaden die Ebene des Fabrikkampfes und griffen den Staat direkt an mit dem Ziel, Widersprüche innerhalb der Staatsorgane zu verschärfen und „jede partielle Äußerung des proletarischen Antagonismus in einen Angriff auf das Herz des Staates umzuwandeln“.

Die Brigate Rosse/Partito Comunista Combattente (Rote Brigaden für den Aufbau der Kämpfenden Kommunistischen Partei), die nach Repressionsschlägen aus den Roten Brigaden hervorgegangen war, führte ab 1982 bewaffnete Aktionen auf antiimperialistischer und internationalistischer Basis durch und war Teil des von der RAF forcierten Projektes einer westeuropäischen Guerillafront.

Die militante Debatte konkretisieren und den Aufbau einer militante Plattform vorantreiben

Als eine sich internationalistisch verstehende Gruppe haben wir mit der militanten Aktion gegen den FIAT-Vertragshändler mehrere Aspekte aufgreifen wollen.

Nach den Anschlägen des 11. September 2001 in New York folgen resolute Verschärfungen der Gesetze auch in Europa. Viele europäische Staaten nehmen dies zum Anlaß, unter der Fahne der „Antiterrorbekämpfung“ gegen oppositionelle Gruppen vorzugehen. Verhaftungen, Parteien- und Vereinsverbote werden mit einer Resolutheit durchgeführt, von denen „Law and Order“-Machthaber vor dem 11. September nicht zu träumen wagten. Mit der erneuten repressionstechnischen Verschärfung im Zuge der sog. Sicherheitspakete I und II in der BRD sind gerade MigrantInnen aus arabischen, asiatischen und afrikanischen Staaten als potentielle „Terroristen“ verdächtig. Spanien führt seine Verbotspolitik gegen baskischen Befreiungsorganisationen mit der ganzen repressiven Härte durch. Frankreich hebt sein Auslieferungsverbot auf, wonach wegen angeblicher politisch motivierter Taten niemand ausgeliefert werden dürfe. Nach der Übergabe von Paolo Persichetti hat die italienische Justiz bereits 14 neue Auslieferungsanträge für vermeintliche ehemalige Mitglieder der BR/PCC und anderer militanter Gruppen gestellt.

Letztendlich zeigen die Schüsse in Göteborg und der Mord in Genua, dass sich auch eine revolutionäre Linke mit frontalen Angriffen von staatlicher Seite in einer Heftigkeit konfrontiert sieht, wie lange nicht mehr. Neben diesen frontalen Angriffen gegen den „ungeliebten Feind von links“ sehen sich breite Teile der Gesellschaften sozialtechnokratischer Angriffe ausgesetzt, wie auch die BR/PCC in ihrer Anschlagserklärung zu Marco Biagi, deutlich machte. Auch in der Debatte militanter Zusammenhänge über das Medium Interim wurde dieser Aspekt praktisch und theoretisch von der militanten gruppe (mg) verdeutlicht.

Mit Interesse verfolgen auch wir als internationalistisch agierende Gruppe diese Diskussion. Wir begrüßen, dass es seit langem wieder gelingt, eine solche Diskussion über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, und dass konträre Positionen nicht zu einer Lähmung der Auseinandersetzung führen. Grundsätzlich sind auch wir der Meinung, dass es möglich sein kann, militanten Gruppen und Aktionen einen eigenständigen Organisatorischen Rahmen zu geben und inhaltlich-ideologische Positionen zu diskutieren, weiterzuentwickeln und zu einer praktischen Koordination zu kommen. Aufgrund dessen werden wir ab heute unser militantes Engagement im Rahmen der vorgeschlagenen militanten Plattform fortsetzen und hoffentlich mit weiteren klandestinen Gruppen erweitern! Die fünf von den GenossInnen der mg formulierten Prämissen sehen wir als eine gelungene Grundlage an, auf der ein „komplexer revolutionärer Aufbauprozeß“ systematisch begonnen werden kann.

Unabdingbar bleibt für uns als radikale Linke, sich mit Prozessen und Organisationsformen linker Bewegungen in anderen Ländern zu beschäftigen und eine, bei vielen Kritiken, solidarische Haltung einzunehmen. Diesen konsequenten internationalistischen und antiimperialistischen Standpunkt wollen wir in die Konkretisierung des Plattformprozesses einbringen.

Uns stört oftmals, nicht nur in einigen Beiträgen zur militanten Debatte, eine unreflektierte, zum Teil arrogante Argumentation, welche nicht selten gerade auf dem Feld des Internationalismus und Antiimperialismus auf einem „gesunden Halbwissen“ basiert. Vorschnell wird gegenüber Befreiungsbewegungen und revolutionären Organisationen aus den drei Kontinenten mit flachen Nationalismus- und ML-Dogmatismus-Vorwürfen gearbeitet, ohne sich tatsächlich mit den komplizierten Enstehungs- und Entwicklungsgeschichten von Befreiungsprozessen anderswo auseinandergesetzt zu haben.

Hier gilt es, sich mit der konkreten politischen und ökonomischen Situation in den jeweiligen Ländern zu beschäftigen, die einer agierenden Linken oftmals keine Alternativen zu dieser oder jener Organisationsform lassen, bzw. sich als erprobte Kampfmethoden erwiesen haben. Ein übereiltes Ablehnen von „Parteistrukturen“ blockiert ein Nachvollziehen-Können von Widerstandsformen und -ebenen in anderen Ländern und Regionen der Welt.

Die BR/PCC haben in ihrer Erklärung zu der Aktion gegen Biagi deutlich gemacht, dass sie als KommunistInnen auf sozialrevolutionärer und antiimperialistischer Grundlage agieren. Mit Biagi ist einer der Hauptakteure getroffen worden, die für den sozialtechnokratischen Angriff auf arbeitsrechtliche Mindeststandards und eine Neustrukturierung des reaktionären Bündnisses zwischen Regierung, Unternehmerverband und konförderaler Gewerkschaft verantwortlich sind. Als Mitglied der UNO organisierte Biagi Arbeitsmarktreformen in osteuropäischen Ländern (Bosnien), die erst kurz vorher, zum Teil mit militärischer Gewalt, in die imperialistische Kette eingegliedert wurden. Als Mitglied der Berlusconi-Regierung gehörte er zu jenen denen es gelang, kapitalistische und politische Interessen zu vereinen und somit der Führungspersönlichkeit Berlusconi die Unterstützung der Wirtschaft zu sichern.

Wie der Organisationsname es schon prägnant ausdrückt, entwickeln die BR/PCC ein Widerstandsmodell, das, den Aufbau einer kämpfenden kommunistischen Partei zum Ziel hat. Dazu schreiben sie in ihrer Erklärung zu Biagi: „Das politische Programm der Destabilisierung – Zerstörung des Staates und des Angriffs auf den Imperialismus, um ihn zu schwächen und die Partei und die Front zu schaffen – wird auf der politischen Linie realisiert, mit der sich die Guerilla mit den internen und internationalen politischen Phasen und Situationen in Beziehung setzt, und seine Entwicklung wird durch die Bedingungen der Phasen im Verhältnis Revolution/Konterrevolution und Imperialismus/Antiimperialismus bedingt.“

Dabei, so die BR/PCC, entwickelt sich eine revolutionäre Parteistruktur aus den Kämpfen/Klassenauseinandersetzungen selbst und kann nicht auf der Grundlage eines herbeigeführten Gründungsaktes realisiert werden. Auf dem Weg dorthin schlagen die BR/PCC ein zweigleisiges Widerstandsmodell vor, das die „Revolution im eigenen Land“ und die Schaffung einer Kämpfenden Antiimperialistischen Front zum Ziel hat: „Für die Roten Brigaden setzt sich die Entwicklung des revolutionären Prozesses in der „Revolution im eigenen Land“ fort, weil das die hauptsächliche politische Dimension des Klassenkampfes bleibt, wobei es aber von Anfang an notwendig ist, das Ziel der Schwächung des Imperialismus auf der programmatischen Linie des Angriffs auf den Imperialismus und seine zentralen Politiken zu verfolgen. Es handelt sich um eine programmatische Linie, auf deren Basis eine Politik der Bündnisse mit revolutionären Kräften aus der Region Europa – Mittelmeer – Arabischer Raum, die aus politisch-ökonomischer Sicht komplementär ist, zur Schaffung einer Kämpfenden Antiimperialistischen Front verfolgt werden kann, die ein gemeinsames Programm für den Angriff auf die zentralen politischen Projekte des Imperialismus entwickelt.“ (aus der BR/PCC-Erklärung zu Biagi)

Aus der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes für den Kommunismus sollen politische und militärische Bedingungen geschaffen werden, um den Imperialismus von seiten revolutionärer Kräfte, die auch unterschiedliche revolutionäre Ziele und Konzeptionen verfolgen können, angreifen zu können.

Mit der Erklärung zum Anschlag gegen Marco Biagi haben die BR/PCC einen umfangreichen Text geliefert, den wir als ein Grundlagenpapier für den Plattformprozeß sehen. Für uns als internationalistische radikale Linke bedeutet dies, sich ausführlich mit den, von den BR/PCC entwickelten, Widerstandskonzepten in Bezug auf den Aufbau einer sozialrevolutionären und antiimperialistischen Front und der Schaffung einer Kämpfenden! Kommunistischen Partei auseinanderzusetzen. Auch in Zeiten einer schwachen, kaum interventionsfähigen Linken ist es von Nöten, sich mit, wenn auch zur Zeit gerade in Bezug auf die BRD visionären, Widerstands- und Organisationskonzepten zu befassen und ein kritisch-solidarisches Verhältnis zu entwickeln. Der bewaffnete Kampf und der militante Widerstand in der BRD sind fester Bestandteil der linken Geschichte und haben an Aktualität nichts verloren.

Freiheit für Paolo Persichetti und alle politischen Gefangenen weltweit! Eine militante Plattform aufbauen!

Den sozialrevolutionären und antiimperialistischen Widerstand organisieren!

Für den Kommunismus!

Militante Antiimperialistische Gruppe – Aktionszelle Pierre Overney, 23.09.2002