Home  ›  Texte  ›  Thematische Beiträge

15. Juni 2003 | militante gruppe (mg)

Interim Nummer 575

Ein Beitrag zum Aufruf „27. Juni 1993 – 10 Jahre nach dem Tod von Wolfgang Grams. Glaubt den Lügen der Mörder nicht! Kein Vergeben – Kein Vergessen! Gemeinsam den Kampf um Befreiung organisieren!

Wir wollen als militante gruppe (mg) auf einen Aufruftext zum 10. Jahrestag der staatlichen Hinrichtung von Wolfgang Grams und der Festnahme von Birgit Hogefeld, der von Libertad! und der Autonomen Antifa (M) verfaßt wurde, mit einem eigenen Beitrag reagieren. Wir unterstützen mit diesem Beitrag die von den aufrufenden Gruppen geforderte „verbindliche Diskussion“ einzugehen und „praktische Aktionsformen“ zu erarbeiten.

Dieser Aufruf ist in einigen relevanten Publikationen der radikalen Linken (vgl. Interim Nr. 569, 3.4.03, Angehörigen Info Nr. 271, 14.4.03, Rote Hilfe Zeitung 2/2003) erschienen, aber bisher ohne schriftliche Erwiderung geblieben. Allerdings haben die InitiatorInnen sowie einige andere Gruppen Anfang/Mitte Juni einen zweiten Aufruf herausgegeben, der grundsätzlich auf dem ersten aufbaut, wobei einige inhaltliche Ergänzungen bzw. Weglassungen vorgenommen wurden (vgl. Angehörigen Info Nr. 273, 10.6.03).

Wir werden uns schwerpunktmäßig auf den ersten Aufruf konzentrieren, da der von uns verfasste Beitrag bereits vor der Kenntnis des zweiten in weiten Teilen diskutiert und formuliert war und Aspekte enthält, die sich nicht unmittelbar und ausschließlich aus dem ersten Aufruf ergeben, sondern Ergebnis unserer Diskussion um diesen waren. Wir werden kenntlich machen, wenn wir uns explizit auf Passagen im zweiten Aufruftext beziehen. Insgesamt sehen wir im zweiten Aufruf in mehreren Punkten mehr politische Übereinstimmung als im ersten.

Diese von Euch ergriffene Initiative betrachten wir als einen weiteren Baustein einer umfassenden Debatte um Fragen des revolutionären Kampfes, auf einer sozialrevolutionären und antiimperialistischen kommunistischen Grundlage in der BRD. Hierin sehen wir auch eine Möglichkeit, daß sich verschiedene (Teil-)Diskussionen um Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen einer militanten und potentiell bewaffneten Politik inhaltlich ergänzen und gegenseitig stärken (vgl. Militanzdebatte unter www.geocities.com/militanzdebatte). Dabei kann aus dieser Initiative ein interessantes (Diskussions-)Projekt erwachsen, wenn sie sich zu einem offenen Forum entwickelt, in das sich Personen und Gruppen einbringen, die unterschiedlich organisiert sind (offen/öffentlich oder klandestin agierende Strukturen).

Wir denken, dass unsere „Diskussionskultur“ auch deswegen viele Defizite aufweist, weil solche Initiativen zu selten (und wenn doch einmal, zu unverbindlich) als kollektive Notwendigkeit der revolutionären Linken angesehen werden. Wir haben beschlossen, uns als ein klandestiner Zusammenhang zukünftig regelmäßiger in solche Diskussionen einzuschalten, um in diesen Austauschprozessen neben den eigenen politischen Anschauungen deutlich zu machen, dass militante und potentiell bewaffnete Strukturen keine von der übrigen Linken bzw. gesamtgesellschaftlichen Konflikten abgekoppelte Sphäre sind.

Der Aufhänger der vorgeschlagenen Initiative von Libertad! und der Autonomen Antifa (M), den 10. Jahrestag der Ermordung von Wolfgang Grams, ist nicht so stark im öffentlichen Bewusstsein verankert wie bspw. die Todesnacht von Stammheim. Dennoch ist der „Komplex Bad Kleinen“ für die (revolutionäre) Linke aus mehreren Gründen bedeutsam: Die staatliche Killfahndung, die 1972 mit der Erschießung von Petra Schelm ihren „neuzeitlichen“ Ausgang nahm, setzte sich unvermindert fort und war, wie sich 1999 bei dem Mord an Horst Ludwig Meyer zeigte, noch nicht an ihr Ende gekommen. Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld, stehen beispielhaft dafür, dass man sich einer Killfahndungs-/Festnahmesituation nicht widerstandslos ergibt, sondern sich dieser bewaffnet zu entziehen versucht. „Bad Kleinen“ fiel in den Zeitraum der begonnenen und von Teilen der revolutionären (Rest-) Linken vehement kritisierten „Deeskalationsphase“ der RAF, die mit den Papieren vom April und August 1992 („Aufbau einer sozialen Gegenmacht von unten“) begründet wurde und den schleichenden Selbstauflösungsprozess markiert, der lediglich durch den überaus erfolgreichen Sprengstoffanschlag auf den damaligen Knastneubau in Weiterstadt zeitweilig unterbrochen schien.

In diesem von uns diskutierten Aufruftext sind verschiedene direkt formulierte bzw. unterschwellig transportierte Aspekte enthalten, die weit über den Anlass der Initiative hinausreichen und zu einer mehrschichtig angelegten Auseinandersetzung zum Thema des gemeinsam organisierten Kampfes um Befreiung einladen. Der Aufruf gliedert sich in fünf Abschnitte, von denen sich drei im engeren Sinne mit Repression und deren Bekämpfung unsererseits befassen („Wolfgang Grams (...) hingerichtet!“,  „Freiheit für die politischen Gefangenen!“, „Weg mit den Paragraphen 129a,b!“). Die beiden anderen Abschnitte drehen sich um die Geschichte des bewaffneten Kampfes und die herrschende sowie „pop-kulturelle“ Auslegung derselben („Gegen das Vergessen!“, „Die bewaffnet Kämpfenden waren keine Popstars!“).

Wir werden aus diesem Aufruf einige der „skizzierten politischen Aufgabenstellungen“ herausfiltern, von denen wir annehmen, dass sie einer inhaltlichen Ausarbeitung und weitgehenden Klärung in unseren Strukturen bedürfen. Dabei werden wir Differenzierungen, die unserer Ansicht nach im zweiten Aufruf vorgenommen wurden, zwischenschalten. Wir wollen unseren Beitrag nicht als Kritikpapier verstanden wissen, das sich an einzelnen Formulierungen des Aufrufes abarbeitet ( nur um eine „Gegenposition“ vorzubringen, sondern als einen weiterführenden Text, der den inhaltlichen Rahmen des Aufrufes überschreitet und dem sich ergänzende Gedankengänge und Handlungsstränge anderer Gruppen oder Personen anschließen können. Wir denken, dass unser Debattenbeitrag genug (provokante) Überlegungen und Ansatzpunkte enthält, die eine zustimmende oder ablehnende Kritik auslösen können. 

1. „Die Frage nach dem Verhältnis zu den politischen Gefangenen muss sich die Linke stellen.“

Trotz unterschiedlicher „konjunktureller Bedingungen“ (Bewegungshochs und -tiefs) war und ist die Bedeutung der politischen Gefangenen in der (revolutionären) Linken überproportional groß. In der Regel finden sich bei entsprechenden Repressionsvorfällen immer kampagnenartig Leute zusammen die die materielle und politische Solidarität zu organisieren versuchen. Das halten W1r unter den aktuellen desolaten Bedingungen für nicht eben selbstverständlich, auch wenn die aufgebrachten Kapazitäten nicht ausreichend sind, um unsere Gefangenen vor dem staatlichen Tribunal und der folgenden (jahrelangen) Einknastung sowie den Auswirkungen der weißen und (möglicherweise wieder verstärkt praktizierten) roten Folter zu bewahren. Vielleicht ergibt sich die Virulenz der Gefangenenfrage für politische AktivistInnen draußen aus der einfachen Tatsache, dass sie politische Gefangene in spe sind. Knast und Gefangenenschaft gehören zwar nicht zwangsläufig, wohl aber potentiell zu einer „revolutionären Biografie“. Wir stimmen Euch allerdings insgesamt zu, wenn Ihr im zweiten Aufruf schreibt, dass „die deutsche Linke offenbar seit langer Zeit nicht mehr die Kraft (hat), durch öffentlichen Druck eine Verbesserung der Situation der politischen Gefangenen durchzusetzen.“

Auch wenn diese mangelnde Durchsetzungskraft, auf deren mögliche Gründe wir gleich zu sprechen kommen werden, zu konstatieren ist, politisierte, mobilisierte und polarisierte die Gefangenenfrage oft in Bezug auf anstehende politische Prozesse oder die Folter einschließenden Haftbedingungen. Gerade (aber nicht nur) für die Militanten draußen waren die Gefangenen drinnen immer ein Bezugspunkt; klandestine Aktionen, die die Gefangenensituation gesellschaftlich thematisieren sollten, Befreiungsaktionen und Entführungen, um Gefangene auszutauschen gehör(t)en zum Repertoire der Aktiven außerhalb der Knastmauern.

Die Gefangenen selbst sorgten mit ihren Widerstandsformen gegen das Knastregime immer wieder dafür, dass die Gefangenenfrage und die Haftbedingungen auf die politische Tagesordnung kamen. Dabei bildeten die 10 kollektiven Hungerstreiks der Gefangenen aus der RAF und des antiimperialistischen Widerstandes die Höhepunkte der Mobilisierung innerhalb und außerhalb der Gefängnistore. In den 70er Jahren wurde die Politik der Hungerstreiks aufgrund der Beteiligung der Angehörigen der Bewegung 2. Juni bzw. vereinzelten sozialen Gefangenen, von denen sich auch bis zum bisher letzten kollektiven Hungerstreik 1989 immer wieder welche beteiligten, breiter getragen. Noch während dieses 10. kollektiven Hungerstreiks 1989 gelang es eine relativ breite gesellschaftliche Diskussion um die Isolationsfolter und die Zusammenlegung der Gefangenen loszutreten. Nach diesem Hungerstreik sind von politischen Gefangenen nur Einzelinitiativen bekannt (Helmut Pohl, Rainer Dittrich) oder aber z.T. kollektive Hungerstreikaktionen von türkischen oder kurdischen Gefangenen. Wir können ohne Zweifel festhalten, dass in den vergangenen Jahren nicht politische Gefangene den Widerstand gegen das Knastregime getragen haben, sondern Abschiebehäftlinge wie unlängst über Wochen im Abschiebknast Berlin-Grünau. Wir müssen selbstkritisch eingestehen, dass wir diese. Veränderung der Situation seit Mitte der 90er Jahre noch nicht vollständig als Gruppe erfasst haben.

Wir denken, dass die Kette von Niederlagen bezüglich der Gefangenenfrage (abgebrochene Hungerstreiks, Ermordungen im Knast u.a. durch Zwangsernährung, gescheiterte Anschläge wie im Fall der versuchten Sprengung des Grünauer Knastes durch das K.O.M.I.T.E.E.) maßgeblich an der erforderlichen „Durchsetzungskraft“ genagt hat und mitursächlich für ein Abnehmen der kämpferischen Solidarität mit den politischen Gefangenen ist. Die wenigen erfolgreich verlaufenen Aktionen wie die Befreiung von Gefangenen aus dem Knast Berlin-Moabit durch die Bewegung 2. Juni von 1975 werden durch die „Negativ-Serie“ der Jahrzehnte danach überlagert.

Es fehlt bisher eine Reflexion und Analyse der Ausgangsbedingungen, Verläufe und Ergebnisse von Gefangenenkämpfen sowie der Solidarität draußen der vergangenen Jahrzehnte. Um unser „Verhältnis zu den politischen Gefangenen“ (neu) zu klären, erscheint uns eine solche Arbeit notwendig, um nicht bei zukünftigen Knastkämpfen diese „Negativ-Serie“ durch fortgesetzte Niederlagen zu bestätigen.

In dem Aufruftext bzw. in den Zeilen von uns operieren wir fast selbstverständlich mit dem Begriff „politische Gefangene“, ohne diesen vermutlich exakt definieren und von anderen Gefangenengruppen abgrenzen zu können. Wir erlauben uns an dieser Stelle eine verwirrende Liste von Bezeichnungen anzuführen, die das „Phänomen Gefangene/r“ begrifflich zu fassen suchen: „politische Gefangene“, „revolutionäre Gefangene“, „linke politische Gefangene“, „politische revolutionäre Gefangene“, „proletarische Gefangene“, „proletarische revolutionäre Gefangene“, „Kriegsgefangene“, „Gefangene aus dem militanten Widerstand“, „Gefangene aus dem antiimperialistischen Widerstand“, „Paragraf 129a-Gefangene“, „soziale und politische Gefangene“, „kurdische politische Gefangene“, „Abschiebehäftlinge“ oder einfach nur „Gefangene“. Alle diese Bezeichnungen haben wir in der Literatur gefunden, nichts ist von unserer Seite hinzugefügt worden.

Wir stehen vor einem definitorischen Wirrwarr, wenn wir uns dem „Phänomen Gefangene/r“ nähern wollen. Der „Markt der Möglichkeiten“ scheint unbegrenzt zu sein; unserer Solidaritätsarbeit mit den Gefangenen ist das nicht unbedingt zuträglich.

Wer/Welche wagt sich vor dem Hintergrund der diversen Bezeichnungen an eine Definition dessen, was wir (unreflektiert) als „politische Gefangene“ bezeichnen? Wir können erst ein „Verhältnis zu den politischen Gefangenen“ entwickeln, wenn wir auch in etwa wissen, was wir damit meinen. Es lassen sich einige der Bezeichnungen herleiten wie der Kampf um den Status als „Kriegsgefangene“, den bspw. die republikanische Bewegung in Irland gegen den britischen Kolonialismus durchgefochten hat. Andere Titulierungen resultieren aus dem Anklageparagrafen (z.B. 129a) oder ethnischen bzw. klassenspezifischen Zuordnungen (z.B. kurdisch bzw. proletarisch). Haben wir den Begriff „politische Gefangene“ in der Regel als Sammelbegriff für alle Formen von Gefangenenschaft benutzt? Offensichtlich nicht, denn oft wird zwischen „politischen“ und „sozialen Gefangenen“. unterschieden. Seit einigen Jahren ist vermehrt eine begriffliche Abgrenzung zu „nationalen politischen Gefangenen“ zu finden, in dem die Präzisierung „linke ...“ vorgesetzt wird. In anarchistischen Kreisen wird die Trennung von „sozialen“ und „politischen Gefangenen“ abgelehnt, da das Knastsystem per se eine politische Disziplinierungsinstitution ist.

Auch wenn wir in die Historie gehen, können wir keine eindeutige Bezeichnung ausmachen. In den Reihen der Roten Hilfe Deutschlands (RHD) bzw. dem weltweiten Dachverband Internationale Rote Hilfe (IRR) sind sowohl Bezeichnungen bekannt, die die proletarische Klassenzugehörigkeit dokumentieren sollen als auch die Titel „politische Gefangene“ oder „revolutionäre Gefangene“ bzw. deren begriffliche Kombination „politische-revolutionäre Gefangene“ zu finden. Der Blick ins Ausland gibt auch nicht mehr Aufschluss hinsichtlich einer Definitionshilfe. Im spanischsprachigen Raum ist übersetzt die Bezeichnung „politische Gefangene“ üblich, während in der Türkei und Kurdistan in der Regel von „revolutionären Gefangenen“ gesprochen wird.

Uns fällt es schwer, zu einer politisch zufrieden stellenden Definition zu kommen, die allen an dieser Stelle problematisierten Aspekten Rechnung trägt. Wir halten nichts davon, von einem „Gewohnheitsrecht“ Gebrauch zu machen und einfach bei dem eingeübten Begriff „politische Gefangene“ stehen zu bleiben. Am ehesten beinhaltet die Bezeichnung „revolutionäre Gefangene“ den politischen Zweck des eigenen politischen Agierens, d.h. an einem Umwälzungsprozess der herrschenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse aktiv teilzuhaben. Allerdings ist uns bewusst, dass hier im Detail ebenso viele definitorische Mängel lauern: vom begrifflichen Ursprung der „Revolution“, über die Funktionalisierbarkeit durch Nazis („national-revolutionär“) bis zu dem Punkt, dass man sich mit dieser Bezeichnung zu bestimmten inkriminierten Mitteln und Methoden (evtl. vor einem Urteilsspruch) bekennt, da man als „RevolutionärIn“ für eine strafrechtlich relevante Politik steht.

Die Bezeichnung „Gefangene aus dem militanten Widerstand“ würde unserem Ansatz entsprechen, die Politik militanter Gruppenzusammenhänge als eigenständigen Faktor im Rahmen eines widerstandsebenenübergreifenden Netzwerkes zu etablieren. Hier wie bei jeder anderen Titulierung ist es von taktischer Bedeutung, wann man sich als Gefangene/r zu einer bestimmten Politikform oder Gruppierung bekennt, bzw. wie lange man es bspw. bei der politisch unspezifischen Kategorie „Paragraf 129/a/b-Gefangene/r“ belässt, die zunächst einmal nur den Inhaftierungs-und eventuellen Verurteilungsgrund in Paragrafenform darstellt. Darüber herrscht in unseren Strukturen spätestens nach der faktischen Auflösung des RAF-Gefangenenkollektivs im Herbst 1993 keinerlei Klarheit mehr. In diesem gesamten Zeitraum der Kinkel-/KGT-Initiative, der Spaltung des RAF-Kollektivs und letztlich der Killfahndung von Bad Kleinen versiegte die letzte größere Debatte um die Gefangenenfrage und die (Selbst-)Reduzierung der RAF als „Befreit-die Guerilla-Guerilla“.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wir können mit keiner eindeutigen Definition (außer einigen weiter unten stehenden oberflächlichen Kriterien) aufwarten, auch deshalb nicht, weil es eben in den Strukturen der (revolutionären) Linken in den vergangenen Jahren nicht gelungen ist, sich darüber argumentativ und verbindlich auszutauschen. Wir können lediglich dafür politisch arbeiten, dass sich innerhalb des anvisierten Diskussions- und Kampfprozesses ein Umgang mit dieser Thematik herauskristallisiert. Das Anreißen dieser Aspekte kann nur ein Anfang sein.

Die Aussage „Freiheit für die politischen Gefangenen!“ gehört zum Allgemeingut der linksradikalen Zielvorstellungen und wird von uns vom Prinzip her nicht relativiert. Allerdings ergeben sich aus den eben diskutierten definitorischen Schwierigkeiten einige Punkte, die wir aufwerfen wollen, denn diese Aussage verdeckt, dass die Gefangenen aus unterschiedlichen Organisationen und Bewegungen mit jeweils verschiedenen ideologischen und polit-historischen Hintergründen kommen. Des Weiteren agieren die Gefangenen bzw. -kollektive bei entsprechenden Anlässen (ideologisch begründet) z.T. sehr unterschiedlich (z.B. bei Widerstandsformen innerhalb des Knastes wie Hungerstreiks). Ein weiteres Problem kann sich einstellen wenn die Organisationen draußen einschneidende politisch-ideologische Veränderungen vornehmen, die Rückwirkungen auf die Gefangenen haben.

Setzten wir voraus, dass wir unter der Bezeichnung „politische Gefangene“ Personen verstehen, die vor der Inhaftierung außerhalb der Knastmauern gegen die Grundwidersprüche der herrschenden Gesellschaftsformation (Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus und Imperialismus) mit unterschiedlichen Mitteln und Methoden für eine ausbeutungs- und klassenlose sowie unterdrückungsfreie Welt gekämpft haben. Der anzustrebende gesellschaftliche Zustand wird als Sozialismus (oft im Kontext antikolonialer Befreiungskämpfe üblich) bzw. als Kommunismus oder Anarchismus (in all ihren Facetten) bezeichnet. Darüber hinaus verstehen sich die Inhaftierten als „revolutionäre Subjekte“ und agieren in ihren Kollektiven (falls sie existieren) gegen das alltäglichen Knastregime. Wenn diese Kriterien eine/n „politische/n Gefangene/n“ kennzeichnen, dann ist der Wegfall derselben gleichbedeutend mit dem „Selbst-Entzug“ des Titels „politische/r Gefangene/r“.

Wir wollen unsere These weiter zuspitzen: Ihr nennt in Eurem Aufruf eine ganze Reihe von politischen Gefangenen, von den einsitzenden GenossInnen der ehemaligen RAF über kurdische Linke bis zu den Magdeburgern. Diese von Euch aufgezählten Gefangenen werden alle unterschiedslos unter die Parole „Freiheit für die politischen Gefangenen!“ summiert. Wenn wir die oben formulierten Kriterien als „Maßstab“ nehmen, werden wir einige Fragezeichen setzen müssen. Wenn unter dem undefinierten Sammelbegriff „kurdische Linke“ in erster Linie (bzw. auch AnhängerInnen) des Imrali-Kurses Öcalans zusammengefasst sein sollten, dann – wir drücken es sehr vorsichtig aus – überdehnen wir den Kriterienrahmen für politische Gefangene doch sehr. Wir wollen uns gar nicht bei inhaftierten PKK-/KADEK-Anhängern der Linie Öcalans aufhalten. Ähnliche Fragezeichen, kommen auf, wenn wir die Prozesserklärungen von Birgit Hogefeld studieren. Sie erklärt dort explizit, dass sie mit dem „Projekt RAF“ nichts mehr zu tun hat und fordert im selben Atemzug dessen Selbstauflösung.

Wir sehen uns innerhalb der Gefangenenfrage von Beginn an damit konfrontiert, dass ein nicht geringer Prozentsatz von Gefangenen (ohne das hier genau beziffern zu können) vor Prozeßbeginn, während des Prozesses, während der Haftzeit oder nach der Entlassung den revolutionären Kampf auf unterschiedliche Art und Weise denunziert (von der persönlichen Distanzierung bis zur offenen Kollaboration). Worin liegen die Ursachen? Es ist sicherlich ein Bündel von Ursachen zu untersuchen. Fehlende ideologische  Standfestigkeit, gruppeninterne Dynamiken, eine falsche Rekrutierungspraxis veränderte sozio-ökonomische Bedingungen und Zeitgeistströmungen mögen alle ihren Anteil an den Distanzierungen gegenüber dem revolutionären Kampf haben.

Wir sehen uns außerstande mehr als diese Denkanstöße zu geben. Dennoch glauben wir wenn wir versuchen, Gründe für die konstatierte mangelnde „Durchsetzungskraft“ in der Gefangenenfrage auszumachen, dass wir nicht an diesen Problempunkten achselzuckend vorbeigehen können. Gerade in bewegungsarmen Zeiten wiegen Kapitulationen hinter den Knastmauern doppelt so schwer als in Phasen des allgemeinen politischen Aufschwungs. D.h., dass potentiellen Gefangenen heutzutage ein sehr hohes Maß an Verantwortung zu kommt, da eine politische, ideologische und moralische Aufgabe im Knast ungleich demobilisierender wirken muss als in Zeiten, wo dieses aufgrund des „Geschichtsoptimismus“ und der weltweit auf dem Vormarsch befindlichen Befreiungskämpfe leichter zu kompensieren war.

Um unser „Verhältnis zu den politischen Gefangenen“ zu bestimmen, gehört auch das Eingeständnis, dass wir der Formel „Freiheit für die politischen Gefangenen!“ neben den eben problematisierten Aspekten aus ganz objektiven nicht gerecht werden können. Es ist aufgrund unserer begrenzten Kapazitäten nicht möglich, unsere Solidarität sozusagen gleichmäßig zu verteilen. Es ist grundsätzlich so gewesen, dass eine Konzentrierung der aktiven Gefangenensolidarisierung nach bestimmten Kriterien (Prozeßbeginn, Hungerstreik, ideologische Nähe etc.) erfolgte.

Vor diesem Hintergrund plädieren wir ausdrücklich für eine Kampagnenfokussierung auf die drei Magdeburger Genossen, denen vorgeworfen wird, Angehörige des „kommandos „freilassung aller politischen gefangenen“„ zu sein. Die Aktualität und Brisanz (Anklageschrift und baldiger Prozess, fortgesetzte z.T. bundesweite Razzien) dieses „Falles“ sowie der Kriminalisierungsversuch gegenüber Strukturen, die sich vermeintlich an der Militanzdebatte beteiligen, legt eine Kräftekonzentration unserer Ansicht nach nahe. Vielleicht gelingt es uns, diesen aktuellen massiv vorgetragenen BAW-/BKA-Angriff so öffentlich zu thematisieren und politisch zu attackieren, dass er nicht reibungslos über die Bühne gehen kann und wir gestärkt aus dieser Konfrontation mit dem Apparat hervorgehen.

Dabei würden wir der Position, die im Aufruftext vertreten wird, wonach „offensive Schritte der Linken“ ohne die Diskussion nach dem Verhältnis der Linken zu den politischen Gefangenen „nicht zu verantworten (sind)“, entgegentreten. Das ist eine recht mechanische Herangehensweise an Fragen der Mobilisierung und politischen Intervention. Die Situation von politischen Gefangenen wurde in der Linken und in einem späteren Stadium gesamtgesellschaftlich immer dann virulent, wenn Aktionen draußen und der Gefangenenwiderstand drinnen in einer Wechselwirkung zueinander standen und sich gegenseitig stärkten. Es lässt sich keine klinische Abfolge von einer vorangestellten Klärung des Verhältnisses zu politischen Gefangenen und anschließenden „offensiven Schritten“ in Form von militanten. oder bewaffneten Aktionen als Plan aufstellen. Hinsichtlich. der „Magdeburger“ hätten wir eine sehr gute, Möglichkeit der Verknüpfung der Gefangenenfrage und der inkriminierten Militanzdebatte, die eine perspektivische Diskussion um klandestine Organisierungsprojekte vorsieht und bereits jetzt praktisch vorantreibt.

Wichtig ist dabei auch, dass wir uns in der Thematisierung der Gefangenenfrage (hier speziell bezüglich der Magdeburger) nicht auf die Ebene des formal-juristischen und im Endeffekt entpolitisierten Schlagabtausches zwischen vermeintlichen Militanten und den VertreterInnen des „liberalen Rechtsstaates“ einlassen. Generell betrachten wir Gefangene und ihre Organisationen draußen als politische AkteurInnen, die eine Konzeption einer revolutionären Umgestaltung der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse als Ziel haben. Die Gefangenenfrage kann nicht vom Klassen und Befreiungskampf abgekoppelt werden, sie ist davon unmittelbarer Teil. In diesem Zusammenhang sind wir wie Ihr der Auffassung, dass, „wenn es die Absicht des Staates ist, politische Ansätze wegzusperren, dann ist es die Aufgabe der Linken, die Auseinandersetzung gerade um diese Politik zu suchen“ (Zitat aus dem zweiten Aufruftext).

Nach diesen vielen problematischen Aspekten wollen wir auf einen vorteilhaften Umstand zu sprechen kommen. Trotz der aufgeführten miserablen Ausgangsbedingungen für eine erfolgsversprechende Solidaritätspolitik mit den Gefangenen verfügen die aktuell (militant) Aktiven (theoretisch) über ein ungleich großes Wissen über Repression, Gefangenschaft, Knastkampf, das keine Generation vor ihnen haben konnte. Dieser reichhaltige Erfahrungsschatz sollte eingehend analysiert werden, damit wir den langen „Negativ-Trend“ in der Gefangenenfrage umkehren können und zu Schlussfolgerungen gelangen, die uns optimal auf eine potentielle Gefangenensituaton vorbereiten lassen. Auch hier wollen wir zwei Einschränkungen nachschieben; zum einen bleibt „Knast“ immer bis zu dem Zeitpunkt ein Abstraktum bis hinter einem/einer der Riegel ins Schloss fällt und zum anderen müssen die Knasterfahrungen und Gefangenenkämpfe im Bewusstsein wach gehalten werden. Wir müssen ständig mit diesen angehäuften Erfahrungswerten weiterarbeiten, damit das Wissen darum nicht versickert.

2. „Die Forderung nach Abschaffung dieser Paragrafen (gemeint sind die Paragrafen 129a/b, Anm. mg), soll die Möglichkeit von Verfolgung von politischer Gesinnung außerhalb bürgerlicher Rechtsgrundsätze, die sich der Staat geschaffen hat und immer weiter ausbaut, zum Thema machen.“

Sich mit „bürgerlichen Rechtsgrundsätzen“ zu beschäftigen bzw. die Genese der Klassenjustiz zu ergründen, um das generelle staatliche Verfolgungs- und Zerschlagungsinteresse gegenüber der (revolutionären) Linken zu benennen, ist sicherlich eine Voraussetzung für das eigene politische Handeln. Allerdings sollte man nicht, wie es die von uns zitierte Aufrufpassage nahe legt, bei einem „Anklagen“ von vermeintlichen „Regelverstößen“ der bürgerlichen Justiz stehen bleiben. Wir halten den möglicherweise in der öffentlichen Meinung zu erzielenden propagandistischen Effekt, wenn wir von unserer Seite aus „Gesetzesübertretungen“ des Staates skandalisieren, für politisch äußerst fragwürdig.

Wir wollen zur Begründung unserer Aussage zunächst eine chronologisch unvollständige Aufzählung der bisherigen Repressionsgeschichte des NS-Nachfolgestaates BRD vortragen: allgemeine KommunistInnenverfolgung seit Beginn des „Kalten Krieges“ (FDJ-/VVN-Verbot 1952, KPD-Verbot 1956 und anschließende Illegalisierung), Wiederbewaffnung/Bundeswehrgründung 1956 als Ausdruck der Re-Militarisierung/-Nazifizierung von Staat und Gesellschaft; und Frontstaatbildung gegenüber dem RGW, Aufbau der geheimdienstlichen und bundespolizeilichen Institutionen (Organisation Gehlen/BND, VS, BKA, MAD, „stay behind“/Gladio-Struktur), Notstandsgesetzgebung 1968, seit 1972 Killfahndung (von Petra Schelm bis Horst Ludwig Meyer), „Radikalen-Erlass“ 1972, Einführung der Paragrafen 129/a 1976, institutionalisierter Heterosexismus (Paragraf 179) und aufkommender linker Widerstand in den 70ern (z.B. Homosexuelle Aktion Westberlin, Kontaktsperre-Gesetz 1977, Abschaffung des Asylrechts 1993 und folgende ausländerrechtliche Repressalien wie die Einführung des beschleunigten Asylverfahrensgesetz, seit den 90er Jahren (Teil-)Übertragung polizeilicher Aufgaben an private „Sicherheitsdienstleister“, kleiner und großer Lauschangriff 1994/1998, DNA-Analyse/„Genetischer Fingerabdruck“ 1997, „Sicherheitspakete I und II“ (Verschärfung des Vereinsgesetz, Paragraf 129b, biometrische Datenerfassung), „Neue Verteidigungspolitische Richtlinien“ (räumliche Entgrenzung der „Verteidigung“ der BRD, Einsatz im Inneren).

Warum eine Aufzählung von uns allen mehr oder weniger bekannten Marksteinen der Repressionsgeschichte der BRD? Sie zeigt zum einen, dass es seit der Gründung der BRD einen kontinuierlichen Ausbau des Repressionsapparates mit deutlichen Tendenzen seiner Verselbständigung gibt („Auf legalem Weg in einen Polizeistaat“, – Roggan) und zum anderen dokumentiert sich hierin die Systemimmanenz der Klassenjustiz.

Die bürgerliche Klassengesellschaft hat sich seit ihrer Existenz als ein sehr elastischer Organismus (gerade in Hinsicht auf Repression) gezeigt, in dem eine große Bandbreite von Repressionsinstrumentarien existiert, die je nach sozio-ökonomischer Situation enger oder weiter gefasst wird. Dementsprechend weit können staatliche „Eingriffsrechte“ gesetzlich legalisiert und gesellschaftlich legitimiert sein. Falls doch ein formales  Verlassen der Normen des „liberalen Rechtsstaates“ festzustellen sein sollte, werden diese weiter ausgehebelt und lageentsprechend angepasst. Unter Umständen wird ein öffentlichkeitsberuhigender Personalaustausch vorgenommen. Das kann wie im Fall „Bad Kleinen“ die für den justiziellen und innenpolitischen Apparat verschmerzbaren Bauernopfer v. Stahl und Seiters bedeuten.

Die „bürgerlichen Rechtsgrundsätze“ variieren u.a. deshalb, da seit der Ablösung der feudalistischen Ordnung durch die kapitalistische Warengesellschaft ein staatsphilosophischer und rechtspolitischer Disput zwischen „liberalen“ und „reaktionären“  Lehrmeinungen besteht. Dieser sich auf der Basis der Klassengesellschaft abspielende Meinungsstreit der „Gelehrten“, der mit den historischen Figuren John Locke („Wo immer die Gewalt die zur Regierung des Volkes ... in irgendwelche Hände gelegt ist für andere Zwecke angewandt (...) wird, (...) entartet sie sofort zu Tyrannei (...) und man darf Widerstand leisten“) und Thomas Hobbes („Errichtung einer (...) allgemeinen Gewalt (...) bedeutet, dass jedermann (...) den eigenen Willen und das eigene Urteil unterwirft. Niemand hat die Freiheit, dem staatlichen Schwert Widerstand zu leisten“) in Verbindung gebracht werden kann, findet seine häufiger aktualisierte Fassung. Liberalen Aufbruchphasen („Mehr Demokratie wagen“ nach 1968 primär als Kanalisierungsprojekt des z.T. fundamentaloppositionellen Protestes angelegt) folgen restaurative Schübe („Terrorhysterie“ nach 1977). Aber egal, ob eine eher „liberale“ oder „reaktionäre“ Administration am Werk ist, es wurde in den Jahrzehnten der BRD-Existenz in dem Bereich der Justiz unaufhörlich repressionstechnisch auf- und ausgebaut. Dass dabei z.B. von einer Verlängerung der „Kronzeugenregelung“ momentan Abstand genommen wird ist kein „Gegen-Beweis“, sondern Ausdruck der erwähnten „Elastizität“ des Apparats, der sich aber jederzeit die Instrumente legal, d.h. auf gesetzlicher Grundlage beschafft, die er meint für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Verwertungssystems zu benötigen.

Wir halten es für eine politisch hilflose Geste auf vermeintliche „Verstößen gegen einzelne „bürgerliche Rechtsgrundsätze“ aufmerksam machen zu wollen, ohne den systemimmanenten Charakter der Klassenjustiz aufzuzeigen bzw. diesen zu vernachlässigen. Diese „Verstöße“ oder „Tabubrüche“ haben die Funktion, noch nicht legalisierte und legitimierte Repressionspraxen die gesetzliche Weihe zu geben. Ihr führt im zweiten Aufruf hierfür das sehr prägnante Beispiel „der Diskussion um die „angedrohte Folter der Frankfurter Polizei“ an, die vor einigen Monaten durch alle Gazetten ging.

Aufgrund des bisher Gesagten und hoffentlich Begründeten ist uns der politische Sinn und die Realisierungschance einer isolierten und punktuellen „Forderung nach Abschaffung der Paragrafen 129/a/b“ unklar. Mit dieser Forderung wird ein Einzelaspekt aus dem Gesamtzusammenhang Klassenjustiz (willkürlich) herausgegriffen und nicht begreifbar gemacht, dass diese Paragrafen ihrer (herrschende) Logik, sprich Funktionsbestimmung haben. Mehr noch: wenn wir diese Gesellschaftsformation, in der wir, politisch agieren als antagonistisch qualifizieren, dann ist sie es notwendigerweise und vor allem auf dem Gebiet der Justiz. Diese Paragrafen sind kein Juristischer Ausrutscher“, sondern integraler Bestandteil dieser von uns bekämpften staatlichen Ordnung. Wir bleiben aber an dieser Metapher „juristischer Ausrutscher“ kleben wenn wir mit der unreflektierten Aufrechterhaltung dieser Forderung eine Opfermentalität kultivieren und uns hilfesuchend an eine kaum lokalisierbare links-liberale, Zivilgesellschaftlichkeit wenden. Kampagnen im Zusammenhang mit den „Anti-Terror-Paragrafen“, die stets als Teil einer staatspolitischen Gesinnungsjustiz gebrandmarkt wurden, richteten sich in den letzten Jahrzehnten in der Regel immer auch an linksliberale BündnispartnerInnen. Diese Hinwendung zur Zivilgesellschaft und ihren (letzten) VertreterInnen scheint im Aufruf zumindest im Subtext auf. Damit verklären wir diese Zivilgesel1schaftlerInnen als das eigentlich „reine und aufrichtige Gewissen des liberalen Rechtsstaates“. Mit diesem werden allumfassende Menschenrechte. halluziniert, an denen die Angehörigen der revolutionären Linken partizipieren müssten. Auf der Basis einer kapitalistischen Gesellschaftsformation bleiben “Menschenrechte“ jede Sekunde systemimmanent auf der Strecke.

Linksliberale Kräfte waren auch historisch, seitdem KommunistInnen Politik machen, nie ein Katalysator für, eine Emanzipation, die den Namen verdient. Ganz im Gegenteil, sie haben ihre Rolle viel mehr im Kanalisieren und Entpolitisieren~(siehe zuletzt die Debatte um Grottians 1. Mai Initiative in Berlin) von gesellschaftlichen Konflikten gesehen und nicht darin, sie inhaltlich, praktisch und organisatorisch zu revolutionieren. wir kennen natürlich die Motivation, die hinter der „Forderung nach Abschaffung der Paragrafen 129/a/b steckt. Für uns war es eine gängige Formel, über die Thematisierung eines Repressionsinstruments den Blick sukzessive auf den Gesamtrahmen zu lenken und darüber einen Mobilisierungspunkt zu setzen. Die linksliberalen Kräfte sollten als propagandistische MultiplikatorInnen fungieren. Nicht wenige mein(t)en sogar, wir könnten sie für unsere weitergehenden Interessen instrumentalisieren. Doch wir ignorieren dabei, dass sie in letzter Instanz ApologetInnen der herrschenden Ordnung und deren gesellschaftskritische Fassade sind. Ihre „Kritik“ an den gesellschaftlichen Zuständen bildet die staatlich tolerierte Grenze, alles darüber hinaus wird mit strafrechtlichen Sanktionen belegt. Ihre weichgespülte „Opposition“ dient dem“ Staat dazu, seinen vermeintlichen „Liberalitätsgrad“ gegenüber abweichenden politischen Meinungen zu dokumentieren.

Wir haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine sehr moralisch aufgeladene „Politik“ betrieben, wenn wir unser Wirken auf ein „Unrecht“ fokussierten und uns einen empörenden Aufschrei der Zivilgesellschaft erhofften, der aber regelmäßig ausblieb. Dieser Aufschrei musste allein deshalb ausbleiben, weil die ZivilgesellschafterInnen zahlen-und einflußmäßig völlig irrelevant sind und keine herausragenden (intellektuellen) Köpfe wie in den 70er Jahren bspw. mit Heinrich Böll haben. Außerdem fehlt eine weitere tragende Säule aus den 70er/80er Jahren: die sozialistischen und kommunistischen ProfessorInnen und RechtsanwältInnen wie Herbert Marcuse, Jean Paul Sartre oder Heinrich Hannover, Klaus Crossaint …

Inwieweit wir in unseren Strukturen über den Hebel speziell des Paragrafen 129a einen Mobilisierungs- und Politisierungsprozess einleiten können sehen wir nur als potentiell realistisch an, wenn dies wie in Eurem zweiten Aufruf in einem übergeordneten Kampf „stop state-terrorism“ eingebettet ist. D.h. auch, sich von einer Bündnisanbiederei gen (fiktivem)Linksliberalismus und Zivilgesellschaft zu verabschieden. Wir sollten unseren politisch-ideologischen Horizont (wieder) dahingehend erweitern, dass wir in Fragen des Kampfes gegen die Klassenjustiz einen Begriff davon haben, was als eine antagonistische und revolutionäre Position definiert werden kann und welche Position eine Preisgabe von Grundsätzen zugunsten von trügerischen Augenblicks- und Teilerfolgen bedeutet.

Einige haben, wie Ihr im zweiten Aufruf ebenso sinngemäß erwähnt, eine Menge an Illusionen nach dem Regierungsantritt von Rot/Grün 1998 in der Erwartung produziert, dass eine rechtspolitische Liberalisierung Einzug halten würde. Es trat bekanntlich das glatte Gegenteil ein. Es ist der blanke Unsinn, wenn offen oder latent eine Abschaffungsforderung hinsichtlich der Paragrafen 129/a/b oder anderer Aspekte des Justizwesens (wie im Kontext der sog. Kinkel-/KGT-Initiative 1992) appellativ an den Staat bzw. seine (Parlaments-)RepräsentantInnen formuliert wird. Wieso sollten sie die staatlichen Institutionen durch die Abschaffung essentieller Gesetzesbestimmungen in ihrer Existenzbedingung selbst untergraben und uns, der radikalen Linken, damit mehr Artikulations- und Gestaltungsraum eröffnen? Wir gehen noch einen Schritt weiter: Wir können es den AkteurInnen aus dem Staatsapparat nicht vorwerfen, dass sie ihre historisch erkämpfte bürgerliche Klassengesellschaft samt ihres Gewaltmonopols vor ihren „TotengräberInnen“ schützt. Das ist doch nur allzu rational. Ebenso rational ist unser antagonistischer Widerspruch zu diesen kapitalistischen, patriarchalen, rassistischen und imperialistischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen bzw. unser Kampf für den Kommunismus begründet. Die altneue, aber deshalb nicht falsche Schlussfolgerung kann nur lauten, dass eine substanzielle gesellschaftliche Umwälzung nicht unterhalb der sozialen Revolution zu haben sein wird. Um es auf eine etwas plakative klassenpolitische Position herunterzubrechen: es handelt sich in dieser Konfrontation um „ein Kampf Klasse gegen Klasse, ein“ Kampf, der, auf seinen höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet (Marx, K: Das Elend der Philosophie).

Hiermit wollen wir auch ausdrücken, dass Repression viele soziale und politische Seiten und Motivationen kennt, dass sie nicht das zweifelhafte „Exklusivrecht“ der (revolutionären) Linken ist, sondern tief ins Gesellschaftliche greift wie die aktuellen Angriffe auf alle ehemals erkämpften sozialen Standards zeigen. Wir wollen mit dieser Position ein Verständnis befördern, wonach der revolutionäre Kampf gegen die Klassenjustiz nur als ein umfassender Klassenkampf von unten verstanden werden kann. Wir sehen uns derzeit einem immer noch im Gange befindlichen Paradigmenwechsel ausgesetzt, der mit der dialektischen Aufhebung des „fordistischen Sicherheitsstaates“ (Disziplinargesellschaft mit sozialstaatlichen Abfederungen, korporativistischer Einbindung der Gewerkschaften, Stilllegung des Klassenkonfliktes plus perfektioniertem Überwachungsinstrumentarium, „Modell Deutschland) zur post-fordistischen Kontrollgesellschaft beschreibbar ist, in der forcierte soziale Angriffe eskalieren und eine permanente und offene Aktivierung des Gewaltmonopols des Staates zur Geltung kommt, statt in erster Linie auf „Vermittlung“ zu setzen. Zudem ergibt sich aus dem entfesselten Ausbau der Sicherheitsmaschine nach innen (z.B. „Sicherheitspakete I und II“) und dem neuen aggressiven Militärprogramm nach außen (z.B. „Neue Verteidigungspolitische Richtlinien ) ein Synergie-Effekt der staatlichen Repressionspolitik, die offenkundig zur Intensivierung der Tätigkeit der Sozialtechnokratie und präventiven Konterrevolution im Innern und einer Ausweitung der imperialistischen Kriegführung nach außen und Bekämpfung der weltweiten Klassen- und Befreiungskämpfe, führt.

3.) Die Produkte der Pop-Kultur „sind teilweise Versuche sich mit einem Teil linker Geschichte auseinanderzusetzen und sich unabhängig von der herrschenden Geschichtsschreibung ein eigenes Bild zu machen“

Auffallend ist in Eurem zweiten Aufruf, dass der Abschnitt zur pop-kulturellen Verarbeitung der Geschichte des bewaffneten Kampfes in der BRD weggelassen wurde. Wir halten diesen Abschnitt im ersten Aufruftext für bedeutungsvoll, da wir uns seit dem formalen Ende des bewaffneten Kampfes nach der Selbstauflösung der RAF 1998 einer Vielzahl pop-kultureller Machwerke im Print-, Film-, Musik- und Theater-Bereich ausgesetzt sehen.

Eine Definition von „Pop-Kultur“ ist äußerst schwierig, ihr ist neben dem eindeutig kommerziell ausgerichteten Flügel, der bspw. in den Filmdarbietungen „Die Stille nach dem Schuss“, „Black Box BRD“ oder jüngst „Baader“ zum Tragen kommt, ein subkulturell-linksradikal orientierter Flügel (von den Goldenen Zitronen über das Independent-Rock-Projekt The Akteurs „Baader Meinhof“ bis zu Rage against the Maschine) gegenüber zu stellen. Wir lesen Euren Abschnitt so, dass Ihr offensichtlich den erstgenannten Flügel der Pop-Kultur meint, da Ihr die Defizite, die mit einer derartigen Betrachtungsweise der Geschichte des bewaffneten Kampfes unweigerlich einhergehen, benennt (persönliche Faszination von den einzelnen Akteuren und ihrer Konsequenz, Individualisierung der Geschichte, Reduzierung der Entscheidung für den bewaffneten Kampf und die Illegalität auf die einzelnen Personen, Ausblendung des Diskurses in der Linken und der politischen Hintergründe). Wir stimmen Euch in der Benennung der Grenzen einer pop-kulturellen Auseinandersetzung mit der Geschichte des revolutionären Kampfes im vollen Umfang zu. Aufgrund dessen können wir allerdings nicht Eure optimistische Haltung teilen, wonach „sich unabhängig von der herrschenden Geschichtsschreibung ein eigenes Bild“ gemacht wird. Sind diese von Euch und uns gleichermaßen ausgemachten Defizite der Pop-Kultur nicht immer, auch Elemente der herrschenden Geschichtsschreibung gewesen? Ging es im Rahmen der staatlichen Desinformation nicht auch um das Wegdrücken der politisch-historischen Hintergründe der Aufnahme und des Fortbestandes des bewaffneten Kampfes, wurde nicht inständig die Kollektivität im politischen. Handeln der bewaffnet Kämpfenden verleugnet, wurde denn nicht jede Gelegenheit, genutzt, der Guerilla und dem Widerstand jeden politischen Charakter abzusprechen, und, existierte nicht auch im Apparat eine gewisse Faszination ob der technischen Präzision mancher Anschläge, die mit, einer hohen persönlichen Risikobereitschaft verbunden waren? Wir sehen diese Form „der pop-kulturellen Auseinandersetzung“ als die zweite Seite der Medaille an, den bewaffneten Kampf nachträglich in einer künstlerisch inszenatorischen Machart, zu entpolitisieren und zu“ demontieren. Der Staatsapparat, als die erste Seite der Medaille, setzte auf die brutale Eskalation des Kampfes –, er bediente sich (neben der Repression) aber derselben Elemente der Diskreditierung der Revolte wie die heutige Popkultur. Diese pop-kulturelle Abwicklung ist mehr Teil der herrschenden Geschichtsauslegung als das daraus ein „unabhängiger“ oder gar perspektivischer Diskurs über den bewaffneten Kampf resultieren würde. Solch ein Diskurs dürfte auch nicht die Ambition der Pop-Kultur sein, denn es handelt sich bei dieser pop-kulturellen Inszenierungen um eine künstlerische Überzeichnung einer zu Ende gegangenen oppositionellen Epoche, ihr geht es um keine reflektierte Analyse der historischen und aktuellen Voraussetzungen einer u.a. bewaffnet agierenden Fundamentalopposition. Hier wird ein (vergangenes“) gesellschaftliches Phänomens Namens bewaffneter Kampf momenthaft in Szene gesetzt (der „bewaffnete Kampf“ als eine temporäre spektakuläre“ Aufführung in der Fast-Food-Kulturmaschine). Es reicht nicht aus, dass eine (popkulturelle) Auseinandersetzung mit linker Geschichte“ erfolgt, um dem (neben den Defiziten) etwas Positives abringen zu wollen. Entscheidend bleiben die offen wahrnehmbaren bzw. unterschwellig festzustellenden Motive, Intentionen und Ergebnisse dieser (pop-kulturellen) Auseinandersetzungsform. Wenn wir dabei zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Pop-Kultur keinen Beitrag für eine (Neu-Definition und Re-Konstruktion des revolutionären Kampfes liefert, sondern nur eine süßlich verpackte Spielart der Abwicklung ist, dann müssen wir sie ablehnen.

Zu fragen ist, warum pop-kulturelle Werke vor allem nach dem vorläufigen Ende des bewaffneten Kampfes in der BRD eine Konjunktur erfahren. Diese pop-kulturelle Auseinandersetzungsform mit ihren inszenatorischen Ausdrucksmitteln ist ein kulturhistorisches Zeichen, dass ein bestimmtes gesellschaftliches Phänomen (bewaffneter Kampf) und ein bestimmter Zeitabschnitt (Revolte, Aufbruchsituation) an einen (vorläufigen) Endpunkt, angelangt sind. Zu Zeiten der Existenz und der Hochphasen der Guerilla und des Widerstandes gab es eine dokumentarische und aktualistische Berichterstattung, die zwar grundsätzlich einen hetzenden Charakter hatte, aber an der Thematisierung des bewaffneten Kampfes nicht vorbei kam. Die Pop-Kultur ist dabei das letzte Stadium der Historisierung des bewaffneten Kampfes, es handelt sich um eine in bequemen Kinosesseln zu konsumierende Nachschau, in der Anekdötchen und- mitunter Zoten über die Metropolenguerilla erzählt und gerissen werden. Diese Verballhornung und Simplifizierung des zurückliegenden bewaffneten Kampfes soll seine gewollten Auswirkungen für die militanten und potentiell bewaffneten Kräfte von heute und morgen erzeugen: ihnen soll der revolutionäre Aufbruch als eine Marotte der Geschichte vorgehalten und die Absurdität des eigenen politischen Agierens vor die Augen geführt werden. Eine vorwärtsgerichtete revolutionäre Geschichtsschreibung werden wir hier vergeblich suchen. Hierfür müssen wir selbst sorgen.

Wir befinden uns in einem großen Dilemma, wir haben keinerlei Übung hinsichtlich einer reflektierenden, analytischen, kollektiven und aktivierenden Geschichtsbetrachtung revolutionärer Politik. Solch eine politisch ernst gemeinte Geschichtsschreibung unterscheidet sich vollständig von einer restaurativen Glorifizierung. Uns geht es um einen kritisch-fundierten Rückblick und eine seriöse Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes fundamentaloppositioneller Kräfte in der BRD. Für uns ist es elementar, nicht bei einer Auswertung des Vergangenen und Aktuellen zu verharren, sondern einen ambitionierten Ausblick zu wagen. Daraus resultierte u.a. der Vorschlag des Aufbaus einer militanten Plattform. Des Weiteren sind wir mit der Ausgangssituation konfrontiert, dass wir nach dem Ende des bewaffneten Kampfes mindestens einen kompletten Generationswechsel hinter uns haben und die heutige, junge aktive Generation erstens nur die Ausläufer der Metropolenguerilla sinnlich“ erfahren hat (wenn überhaupt!) und zweitens den bewaffneten Kampf nur als verwurstetes Produkt der Pop-Kultur kennt. Daneben existieren verschiedene Post-Guerilla-Werke meistens in Form von Autobiografien oder Interviewbänden Ex-Gefangener. Diese sind von sehr unterschiedlicher Qualität (den indiskutablen Dreck von Boock lassen wir beiseite) und reichen von einer Sex & Crime-Story wie bei Till Meyer bis hin, zu dem aufschlussreichen Gesprächsband mit Irmgard Möller. Diese individuellen und biografisierten Aufarbeitungen ersetzen allerdings keine kollektive Herangehens- und Betrachtungsweise. Diese erscheint uns kaum praktikabel und realistisch, zu weit gingen die Wege der früheren AkteurInnen auseinander als es heute zu einer gemeinsam getragenen Geschichtsbetrachtung der zurückliegenden revolutionären Kämpfe kommen könnte.

In unserem Plattform-Papier (vgl. Interim Nr. 550, 14.5.02) haben wir verschiedene Vorschläge unterbreitet, wie wir u.a. etappenweise zu einer aktivierenden revolutionären Geschichtsbetrachtung und einer gleichzeitigen perspektivischen Debatte um Voraussetzungen und Bedingungen des revolutionären Kampfes finden können. Das Projekt des Aufbaus einer militanten Plattform soll mehrstufig zu einem verbindlichen und interventionsfähigen Aktions- und Diskussionsrahmen entwickelt werden. Die in diesem Papier und Euren Aufruftexten aufgeworfenen Frage- und Aufgabenstellungen sind wesentlich in unseren Strukturen zu debattieren, um zu einer kollektiven Lagebeschreibung und Zielbestimmung unserer Politik zu kommen.

Das Credo, das Ihr mit dem Aufgreifen des 10. Jahrestages der Ermordung von Wolfgang Grams ausgebt, können wir nur umstandslos unterstützen: „Geschichte wird gemacht, nehmen wir unsere in die eigenen Hände!“

Die Freiheit für Marco, Daniel und Carsten erkämpfen!

Den sozialrevolutionären und antiimperialistischen Widerstand organisieren!

Für eine militante Plattform – Für einen revolutionären Aufbauprozess – Für den Kommunismus!

militante gruppe (mg), 15.06.200